Literatur
Essayistisch-politische Texte von David Grossman
Sechs Bände von Scholem Alejchem, damit fing für David Grossman damals alles an, in den frühen 1960er-Jahren, acht Jahre alt war er da. Sogar die Seiten der Alejchem-Bücher, erzählt er, rochen anders als etwa die von Erich Kästner oder Jules Verne. Die Geschichten spielten in einem osteuropäischen Schtetl, der Heimat von Grossmans Vater. Sie führten den Achtjährigen aus seiner israelischen Heimat in den Alltag des Jungen Mottel, in die Stube im fernen Lande "dort", die "nach Sauerteig, Essig, Rauch" roch. Dann, am Gedenktag für die sechs Millionen Holocaustopfer, die Erkenntnis eines nun Neunjährigen: "Das waren meine Leute." Der Initiationsmoment eines Autors.
"Seit mir klar wurde, dass ich Schriftsteller werden würde, wusste ich auch, dass ich über den Holocaust schreiben würde", sagte David Grossman in der Eröffnungsrede des Internationalen Berliner Literaturfestivals 2007. David Grossman, 1954 in Israel geboren, wuchs auf mit einem Blick auf Plattenbauten im Jerusalemer Viertel Bejt-Masmil, einem Stadtteil, wo damals Menschen aus 70 Diasporaländern lebten, junge Israelis neben lebensalten Holocaustüberlebenden. Er hat Philosophie und Theater studiert, viele Kinder- und Jugendbücher geschrieben, aber auch mehrere Romane und Sachbücher veröffentlicht.
In dem neu erschienenen Band "Die Kraft zur Korrektur. Über Politik und Literatur" hat Grossman nun einige Beiträge zusammengestellt. Es sind essayistisch-politische Texte von einem, der ringt, jeden Tag aufs Neue, mit dem Schreiben und dem Land, in dem er lebt - ein "Katastrophengebiet". Es sind Texte von atemberaubender Klarheit. Wer eine authentische Stimme sucht, die von der Zerrissenheit erzählt, Israeli zu sein, der hat sie in David Grossman gefunden. Ähnlich Eindringliches bekommt man selten zu lesen - vielleicht auch, weil es fürs Zuhören geschrieben ist. So sind fünf der sechs Texte Transkripte von Vorträgen.
Seine Liebe zu diesem Land, sagt er, sei "problematisch und kompliziert" und stehe dennoch nicht außer Frage. Grossman hadert mit Israel, diesem einst "zukunftsträchtigen" Land, wie er es ausdrückt. "Seht, was aus dem jungen, mutigen, enthusiastischen Staat geworden ist!", ruft er in seiner Rede anlässlich der Gedenkfeier für den ehemaligen Präsidenten und Friedensnobelpreisträger Jitzhak Rabin im November 2006 aus. "Wie in einem beschleunigten Alterungsprozess ging Israel von der Säuglings-, Kindheits- und Jugendphase über in den permanenten Zustand der Nörgelei, der Schwäche und des Gefühls, etwas verpasst zu haben."
Grossman ist es gewohnt, sich zu exponieren, bei Demonstrationen steht er an vorderster Front, einer, der Frieden mehr herbeisehnt als alles andere. 2006 forderte er Präsident Ehud Olmert zusammen mit Gleichgesinnten öffentlich auf, auf die Palästinenser zuzugehen, den Krieg im Libanon zu beenden. Kurz darauf kam sein Sohn in jenem Krieg um.
Grossman spannt mithilfe seiner Textauswahl eine großartige Argumentation auf, die die Angst vor dem Anderen und die gleichzeitige Notwendigkeit dieser Anderen-Angst Israels aufzeigt. Er stellt diese Zurückhaltung allgemein fest, wirft sie aber auch ganz konkret Ehud Olmert vor, den ganz konkreten Mangel an Bereitschaft, sich der "Komplexität unseres Nächsten" zu stellen. Er solle doch einfach mal mit den Palästinensern reden, nicht nur durchs Fernrohr schauen, sondern die Distanz zum Anderen überwinden.
Der Andere, "the Other", ist ein Topos in der Philosophie, der hilfreich ist, das Sicherheitsbedürfnis der Menschen zu verstehen. Der Andere wird gebraucht, dringend, um der eigenen diffusen Identität Halt zu geben - ist sie für sich nicht stabil genug, hilft die Existenz jenes Anderen, um sich zu definieren. Es ist ein durch und durch verzweifelter Akt. Selten hat man diese Verzweiflung so gut nachvollziehen können wie anhand des von Grossman geschilderten israelischen Dilemmas. Der Frieden würde den Israelis zu einem Heimatgefühl verhelfen, das sie auch nach 56 Jahren nicht gefunden hätten. Doch: "Man kann nicht über ein Haus sprechen, ohne über seine Wände zu reden, die Grenzen", sagt er. "Die Bürger Israels haben kein klares Gefühl für den Begriff ,Grenze'. So zu leben bedeutet, in einem Haus zu leben, dessen Wände sich ununterbrochen bewegen, verrücken und immer wieder eingerannt werden."
Die Abgrenzung gegen das Andere, also die Palästinenser, ist die Konsequenz, verbunden mit einer zementierten Furcht vor dem Fremden im Anderen. Das Politische am Schreiben, findet Grossman, sei, dass es "ein Akt des Protests" gegen jene Angst sei. Denn schließlich bedeute Schreiben auch immer, über den per se Anderen nachzudenken, "den Text der Realität mit den Augen des Feindes zu lesen".
Grossman wäre wohl nicht Grossman, würde er nicht die Finger tiefer in die Wunde bohren. So fragt er: "Wollen und können die Juden endlich in einem Staat mit dauerhaft festgelegten Grenzen, mit einer klaren und eindeutigen nationalen Definition leben", oder brauchen sie etwa dieses Dazwischensein? Und wäre Frieden nicht eine Katastrophe für eine zersplitterte Nation wie Israel, ahnend: "der Krieg mit den Arabern rettet uns vor einem Bürgerkrieg"?
Jenseits der Rhetorik beharrt Grossman auf dem Frieden, fordert Mut bis an die Grenzen des Vorstellbaren. Die meisten Israelis hätten die Notwendigkeit einer Zweistaatenlösung begriffen, die Politik noch nicht. "So wie es einen unvermeidbaren Krieg gibt, gibt es auch einen unvermeidbaren Frieden", schreibt er. "Wir haben keine Wahl mehr." Möge es so sein.
Die Kraft zur Korrektur. Über Politik und Literatur.
Carl Hanser Verlag, München 2008; 160 S., 15,90 ¤