KLIMAPAKET
Umweltpolitiker wollen es bis Ende des Jahres
beraten. Kritiker warnen vor unausgereiften Entscheidungen
Im Umweltausschuss des Europaparlaments herrschte Hochspannung. Schon zum zweiten Mal nach der Sommerpause wurde dort heftig debattiert. Schon am 9. September hatte sich die Mehrheit des Ausschusses, trotz Widerstandes auch von deutscher Seite, dafür ausgesprochen, die von der EU-Kommission vorgeschlagenen strengeren Abgaswerte für PKW beizubehalten. Am 7. Oktober stimmten dann zwei Drittel der Ausschussmitglieder überraschend für ein Klimaschutzpaket, das dem ursprünglichen ehrgeizigen Entwurf von Umweltkommissar Stavros Dimas sehr nahe kommt.
"So kann man nicht arbeiten", schimpfte der deutsche konservative Abgeordnete Karl-Heinz Florenz nach der Abstimmung. Erst am Morgen habe er die Liste mit 800 Kompromissanträgen erhalten, die seine irische Parteifreundin Avril Doyle in der Nacht mit Vertretern der Grünen, der Liberalen und der Sozialisten ausgehandelt hatte. "Seit acht Uhr sitze ich in der Abgeordnetenbar und versuche zu verstehen, was ich da eigentlich beschließe."
Auch der CDU-Abgeordnete Peter Liese, der eine deutlich grünere Linie vertritt als die meisten deutschen Europaabgeordneten, war mit dem Verfahren unzufrieden. "Wir stimmen hier über Gesetzesvorschläge ab, die auf die Klimapolitik der kommenden Jahrzehnte und auf die Standortbedingungen in Europa einen gewaltigen Einfluss haben. Für den einzelnen Abgeordneten ist es fast nicht mehr möglich, die Tragweite seiner Entscheidungen zu überschauen." Während der Einfluss des Europaparlaments auf den Gesetzgebungsprozess in den letzten Jahren stetig gewachsen sei, habe sich an der Ausstattung der Büros nichts geändert. Noch immer arbeiteten die meisten EU-Parlamentarier als Einzelkämpfer.
Die drei Berichterstatter allerdings, die sich seit Monaten intensiv mit der Materie befasst haben, waren am Ende mit dem Abstimmungsergebnis sehr zufrieden. Avril Doyle betreut den Gesetzentwurf, der den Emissionshandel ab 2013 regelt. Der Ausschuss folgte ihr in der Forderung, die klimaschädlichen Gase in den meisten Industriezweigen bis 2020 im Vergleich zu 2005 um 21 Prozent zu reduzieren und die kostenlosen Verschmutzungsrechte bis dahin schrittweise auslaufen zu lassen.
In den ersten beiden Phasen des Emissionshandelssystems zwischen 2005 und 2012 wurden und werden die Verschmutzungsrechte kostenlos ausgegeben. Dies habe, so Kritiker, den Spareffekt vermindert und teilweise zu hohen Zusatzgewinnen, zum Beispiel in der Strombranche geführt.
Unternehmen, die durch den Kauf von Verschmutzungsrechten ihre Konkurrenzfähigkeit verlieren könnten, sollen auch nach 2012 Gratiszertifikate erhalten, falls sie die nachweislich CO2-sparendste Technologie verwenden, die dann am Markt ist. Bis zum 1. Januar 2010 soll die EU-Kommission eine Liste der Branchen erstellen, die durch das neue Gesetz unter so hohen Konkurrenzdruck geraten könnten, dass sich die Unternehmen zu Betriebsverlagerungen außerhalb der EU entschließen. Diese Liste soll alle vier Jahre überarbeitet werden.
Doch einigen Abgeordneten und den Vertretern der betroffenen Stromerzeuger, Stahl-, Kalk- und Zementherstellern gehen die Ausnahmeregeln nicht weit genug. "Nach dieser Abstimmung können Sie zusammen mit den Finanzinstituten gleich die europäische Großindustrie mit beerdigen", sagte der österreichische Konservative Paul Rübig. Hans Jürgen Kerkhoff, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, beklagt die fehlende Planungssicherheit. "Da der Umweltausschuss auf eine klare Aussage zur Behandlung der energieintensiven Industrien verzichtet hat, fehlt es der Stahlindustrie weiterhin an klaren politischen Rahmenbedingungen für ihre zukünftigen Investitionen." Auch die Berichterstatterin Avril Doyle wurde in der Pressekonferenz gefragt, ob sie es denn angesichts der drohenden Rezession verantworten könne, den Unternehmen weitere Belastungen aufzuerlegen. "Der Klimawandel wartet nicht, bis sich die wirtschaftliche Lage verbessert", antwortete Doyle. "Lesen Sie den Stern-Bericht. Das ist ein Ökonom, der Ihnen vorrechnet, wie groß der wirtschaftliche Schaden durch den Klimawandel sein wird. Im Vergleich dazu sind die Kosten des Emissionshandels gering."
Die ehemalige finnische Umweltministerin, die grüne Abgeordnete Satu Hassi, ist für den Bericht zur Lastenteilung verantwortlich. Er regelt, wie die Verschmutzungsrechte für Klimagase aus Verkehr, Landwirtschaft, Dienstleistungen oder Hausbrand, die nicht im Emissionshandelssystem erfasst sind, unter den Mitgliedstaaten verteilt werden. Dieser Bereich produziert 60 Prozent der Klimagase und ist im Grunde wichtiger als das öffentlich viel beachtete Emissionshandelssystem. Die Abgeordneten hatten den Vorschlag der EU-Kommission unterstützt, die Treibhausgase aus diesen Bereichen bis 2020 um zehn Prozent zu verringern. Die Verteilung der Belastung unter den Mitgliedstaaten behielten sie ebenfalls bei. Für 2050 schrieben die Abgeordneten zusätzlich das ehrgeizige Sparziel von 80 Prozent gemessen am Stand von 2005 in den Entwurf. Außerdem sollen Länder, die ihre Ziele nicht einhalten, pro zusätzlicher Tonne CO2 100 Euro Strafe zahlen. Ein Vertragsverletzungsverfahren halten die Abgeordneten für ein zu schwaches und langwieriges Instrument.
Dafür sollen Staaten, die ihr Soll übererfüllen, Verschmutzungsrechte an andere EU-Mitglieder verkaufen können. Die Möglichkeit, sich klimaschonende Projekte, so genannte CDM (Clean Development Mechanism)-Projekte, in Ländern außerhalb der EU anrechnen zu lassen, beschnitt das Parlament. Während die EU-Kommission erlauben will, 60 Prozent der Reduktionen durch ausländische Projekte abzugelten, will der Umweltausschuss das nur für ein Fünftel der Einsparungen gestatten. Sämtliche Erlöse aus Zertifikatversteigerungen und Strafen sollen in Klimaschutzprojekte fließen. Der CDU-Abgeordnete Peter Liese teilt Hassis Begeisterung über das Ergebnis nicht. Als "unambitioniert und zahnlos" bezeichnete er die geplante Reduktion um nur zehn Prozent bis 2020. Einige Staaten dürften nach den Plänen der Kommission beim CO2 sogar zulegen - Bulgarien um 20 Prozent, Rumänien um 19 Prozent. Dabei hätten gerade osteuropäische Länder bei der Gebäudeisolierung ein enormes Einsparpotenzial. Sechs Mitgliedstaaten dürften 2020 mehr Emissionen produzieren als in der Kyoto-Vereinbarung für die Zeit zwischen 2008 und 2012 ausgehandelt worden war, Spanien sogar 44 Millionen Tonnen mehr. "Satu Hassi hat daran nicht gerührt, weil sie das Gesamtpaket nicht gefährden will. In dieser Frage sind wir Konservativen viel grüner als die Grünen!", behauptet Liese.
Der liberale britische Abgeordnete Chris Davies betreut den Bericht zur CCS-Technologie. Mit diesem "Carbon-Capture-System" oder Sequestrierung genannten Verfahren wird das CO2, das bei der Stromerzeugung entsteht, herausgefiltert und unterirdisch gelagert. Die Technologie steckt aber noch in den Kinderschuhen und braucht öffentliche Anschubfinanzierung. Einige Kritiker aus der Industrie halten sie für zu teuer, Umweltverbände warnen davor, dass Investitionen in CCS als Vorwand herhalten könnten, den Ausbau energiesparender Technologien und erneuerbarer Energien zu vernachlässigen.
Ein Kraftwerk mit automatischer CO2-Abscheidung und -Speicherung kostet nach Schätzungen etwa 70 Prozent mehr als eine herkömmliche Anlage. Das Parlament beschloss, den Erlös aus bis zu 500 Millionen Zertifikaten aus dem Emissionshandel für zwölf CCS-Pilotprojekte zu verwenden. Je nach Marktlage für die Verschmutzungsrechte könnten so bis zu 10 Milliarden Euro bereitgestellt werden.
Nach Berechnungen des Weltklimarates IPCC stehen weltweit Speicherkapazitäten für etwa 2.000 Milliarden Tonnen CO2 in leeren Erdöl- oder Erdgaslagerstätten zur Verfügung. Die umweltschädlichen Effekte des weltweit steigenden Energiebedarfs könnten durch die CCS-Technik neutralisiert werden - allerdings nur für etwa 80 Jahre, dann sind die unterirdischen Speicher voll.
"Wir werden das Kohlezeitalter nicht hinter uns lassen, wenn wir einen Blankoscheck für die CCS-Technologie ausstellen", kritisiert Joris de Blanken von Greenpeace. "Sequestrierung ist ein teures Glücksspiel, das der Kohle eine neue Galgenfrist verschafft, wo wir doch das fossile Zeitalter hinter uns lassen und stattdessen auf erneuerbare Energien und Energiespartechnologie setzen sollten", sagt der Klimaspezialist. Die nordrhein-westfälischen SPD-Abgeordneten Norbert Glante und Bernhard Rapkay halten das angestrebte Ziel für zu ehrgeizig. "Natürlich unterstützen wir CCS und müssen die Technologie vorantreiben. Aber 2015 sind wir einfach noch nicht so weit, dass neue Kraftwerke damit flächendeckend ausgerüstet werden können." Wer eine solche Forderung aufstelle, wolle entweder den Gaspreis weiter in die Höhe treiben oder zur Atomkraft zurückkehren. Das gesamte Klimapaket sei noch "korrekturfähig", meint Rapkay. "Eine Verabschiedung um jeden Preis in nur einer Lesung werden wir daher nicht unterstützen."
Umweltpolitiker und Klimaverbände sind überzeugt, dass das ehrgeizige Paket nur eine Chance hat, wenn es noch in diesem Jahr in Verhandlungen zwischen Rat, Parlament und Kommission geschnürt und dann im Dezember dem Plenum vorgelegt wird. Bei vielen Abgeordneten aber wächst der Unmut darüber, dass sie ein so weitreichendes Gesetzespaket im Hauruck-Verfahren absegnen sollen.