BAYERN
Nach der Niederlage ordnen CSU und Stoiber die Reihen neu. Schwere Stammeskämpfe um die Nachfolge von Ministerpräsident Beckstein
Fehlt nur noch, dass Bayerns Flüsse bergauf fließen und die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben werden: Die bisher von der CSU regierte weiß-blaue Welt steht seit der Landtagswahl am 28. September Kopf. Nach ihrem demütigenden Rekord-Absturz um 17 Punkte auf nunmehr 43,4 Prozent der Stimmen und damit dem Verlust der Mehrheit hat die bisherige Erfolgspartei ihren Nimbus der Unbesiegbarkeit verloren und muss bis auf weiteres mit einem Koalitionspartner regieren-voraussichtlich mit der FDP.
Die Situation ist so dramatisch und konfus, dass die Partei ausgerechnet jenen Mann als rettenden Engel ausersehen hat, den sie noch vor einem Jahr an ihrer Spitze zugunsten von Erwin Huber verhindern wollte: Horst Seehofer. Als künftiger CSU-Chef soll er gleichzeitig Ministerpräsident werden und mit dieser Machtfülle als neuer Supermann die Partei bei Europa- und Bundestagswahl 2009 wieder über die 50-Prozent-Marke hieven. "Die Bayern lieben die Anarchie - und einen starken Anarchen", heißt ein geflügeltes Wort im Freistaat.
Horst Seehofer, ein Liebling der Basis, als "soziales Gewissen" der Partei bezeichnet, kann als charismatische Erscheinung Bierzelte füllen und Emotionen auslösen. In der Mediengesellschaft kommt der telegene Politiker gut an. Andererseits gilt der niederlagenerprobte Stehaufmann und gewiefte Taktierer auch als unkalkulierbarer Einzelgänger, der problemlos Standpunkte wechselt und kaum teamfähig ist. Nach seiner Nominierung (bei der 16 Stimmen fehlten) gelobte er einen Neuanfang. Basta-Politik, Befehle und Gehorsam werde es mit ihm nicht geben, versicherte er.
Mit der Ein-Mann-Sturmspitze setzt die CSU alles auf eine Karte: Entweder Seehofer wächst aus seiner Unberechenbarkeit heraus, kann die zerstrittenen Reihen ordnen und die enttäuschten Ex-Wähler zurückgewinnen. Dann wäre die Welt der CSU wieder in Ordnung. Oder das Experiment geht daneben, und die vielleicht letzte Chance wäre vertan. Dann hätte die CSU mit der Karte Seehofer das Parteischiff eigenhändig in die Bedeutungslosigkeit versenkt.
Dabei ist der Stellenwert des Oberbayern beim Wähler allenfalls suboptimal. Nur 28 Prozent hatten ihn nach der Wahlschlappe, kurz vor der Rücktrittserklärung von Ministerpräsidenten Günther Beckstein, für den besseren Kandidaten gehalten, 48 Prozent zogen dagegen den Franken Beckstein vor. Dieser wollte zunächst weiterregieren. Auch der bisherige Parteichef Erwin Huber hatte nicht freiwillig auf sein Amt verzichtet.
Bei der Ursachenforschung für das Wahldesaster wurden die Anhänger der geschlagenen Führungsriege auch in der vorausgegangenen Ära von Edmund Stoiber nach 2003 fündig. Erinnert wurde an die zum Teil mit der Brechstange durchgesetzten Reformen und Hopplahopp-Entscheidungen. Dazu kam die von vielen als Schmach für Bayern empfundene Berlin-Flucht Stoibers. Öfter war von einer damaligen CSU-Politik über die Köpfe der Menschen hinweg, von Selbstherrlichkeit und sogar menschenverachtender Arroganz die Rede.
Beckstein selbst meinte bei der Fehlersuche, er hätte die "massiven politischen Korrekturen, die ich gegenüber meinem Vorgänger gemacht habe, deutlicher kennzeichnen müssen". Auch Huber räumte ein, dass man die Belastungen der seinerzeitigen Reformpolitik "zu wenig verständlich" habe machen können und Übertreibungen nicht rechtzeitig geändert habe. Eine offizielle Analyse sparte sich die CSU jedoch.
Stoiber hatte vorsichtshalber wissen lassen, dass es "nicht weiterführt, jetzt Schuldzuweisungen vorzunehmen". Zweifellos haben auch seine Nachfolger Minuspunkte gesammelt. In einem wenig überzeugenden Wahlkampf rackerten sie sich zwar nach Kräften ab, doch blieben sie häufig glanzlos und überzeugende Antworten auf Zukunftsfragen schuldig. Dazu kamen Stolpersteine wie die lange nicht eingeräumten Milliarden-Verluste der BayernLB oder das strengste Rauchverbot Deutschlands, für das freilich speziell der bisherige (und wiedergewählte) Fraktionschef Georg Schmid verantwortlich gemacht wird.
Schon als nach Schließung der Wahllokale das Debakel für die CSU deutlich wurde, war klar, dass die Partei nun "Menschenopfer" fordern würde. Einer, der dabei im Hintergrund wie auf offener Bühne bei Krisensitzungen von Partei und Fraktion sowie über sein Handy die Fäden zog, war Stoiber. Er hatte ohne Umschweife selbst angekündigt, dass er sich "als Ehrenspielführer ein Stück weit einbringen" wolle. Seine damit verbundenen Operationen trugen ihm über Nacht den Beinamen "Mephisto von Wolfratshausen" ein. Stoiber räche sich nun diabolisch an den "Putschisten" Huber und Beckstein, die ihn im Januar 2007 in Kreuth gestürzt hätten, hieß es.
Zwei Tage nach ihrer Entzauberung durch den Wähler kündigte Huber als Erster seinen Rücktritt an, zusammen mit seiner Generalsekretärin Christine Haderthauer. Am Tag darauf folgte auch Beckstein unter dem immer größer gewordenen Druck speziell aus Oberbayern. Sein Rückhalt in der Partei sei nicht mehr groß genug, um die künftigen schwierigen Aufgaben erfolgreich bewältigen zu können, erklärte er. Auf der Karte der Landtagskantine wurde passend zur politischen Hinrichtung "Schlachtplatte" (mit Leber-, Blut- und Mettwurst auf Sauerkraut für 3,80 Euro) angeboten. Stoiber meinte nach der entscheidenden Fraktionssitzung auf gut Stoiberisch: "Es sind keine Scherben zerbrochen."
Aus dem Stand heraus musste die CSU doppelte Chaosbewältigung betreiben und Nachfolger aus dem Hut zaubern. Für Huber bot sich verhältnismäßig unkompliziert der bisherige Partei-Vize Horst Seehofer an. Wer aber sollte Beckstein ersetzen? In der Fraktion, die den Kandidaten für das höchste Amt im Freistaat bestimmt, herrschte zunächst Ratlosigkeit. Seehofer wäre jedenfalls in "normalen" Zeiten kaum in Frage gekommen. Doch vor allem Stoibers Oberbayern brachten den Zwei-Meter-Mann aus Ingolstadt erneut in Stellung. Taktisch wohlüberlegt, drängte sich dieser nicht auf, was ihn chancenlos hätte werden lassen. Vielmehr ließ er sich bitten. Erst wenn sich die Fraktion auf keinen anderen Bewerber einigen könne, wolle er auch Ministerpräsident werden, gab er an. Sein bisheriges Argument, dass der Parteivorsitzende in Berlin präsent sein müsse, war zweitrangig geworden.
Neben Seehofer wollten dann auch Innenminister Joachim Herrmann aus Mittelfranken, Wissenschaftsminister Thomas Goppel aus Oberbayern und der bisherige Fraktionschef Georg Schmid aus Schwaben Ministerpräsident werden. Nach schweren internen Stammeskämpfen gab Schmid als erster auf. Goppel und Herrmann machten erst nach wiederholten Krisensitzungen den Weg für Seehofer frei. Auf einem Sonderparteitag am 25. Oktober in München soll ihn die CSU auf den Schild heben, zwei Tage später wählt der Bayerische Landtag den Ministerpräsidenten.
Dabei wird die CSU statt mit bisher 124 Abgeordneten nur noch mit 92 vertreten sein.
Viele unzufriedene frühere CSU-Wähler wechselten zu FDP und Freien Wählern, die damit 8 beziehungsweise 10,2 Prozent der Stimmen bekamen. Die Freien Wähler ziehen erstmals ins Parlament ein, die FDP nach 14 Jahren wieder. Die SPD konnte nicht von der CSU-Schwäche profitieren: Mit einem Minus von einem Punkt landete sie auf einem Rekord-Tief von 18,6 Prozent. Gleichwohl sah Spitzenkandidat Franz Maget ein Hauptziel der SPD, den Verlust der absoluten CSU-Mehrheit, erreicht und versuchte ernsthaft wie erfolglos, eine Vierer-Koalition mit Grünen (9,4 Prozent), Freien Wählern und FDP zu schmieden. Doch bei den Liberalen blitzte er erwartungsgemäß sofort ab, so dass der CSU die Opposition erspart blieb.