Integration
Paul Scheffers Blick auf die Niederlande
Am 6. Mai 2002 fielen fünf Schüsse. Auf einem Parkplatz in Hilversum zielte ein fanatischer Tierschützer auf den Politiker Pim Fortuyn. Der schillernde Rechtspopulist war sofort tot. Seitdem im Jahr 1584 Wilhelm von Oranien ermordet worden war, war in den Niederlanden kein Politiker mehr Opfer eines derartigen Attentats geworden. Mit diesem Frühlingstag wurde alles anders. Das Land, das zuvor als eine harmoniebedürftige Kuscheldemokratie erschien, zeigte sich tief erschüttert. Fünf Schüsse in Kopf, Nacken und Rücken - und plötzlich schien ausgehebelt zu sein, was eben noch von jedem Bürger akzeptiert worden war: "Gedogen". Es war etwas typisch Niederländisches: Der holländische Weg, auf dem jeder nach seiner eigenen Fasson glücklich werden konnte. "Gedogen" - das bezeichnete ein Toleranzmodell, mit dem notfalls Fünfe grade gelassen wurden.
Plötzlich aber diskutierte man über die Grenzen der eigenen Freizügigkeit. Als zwei Jahre später schließlich der Filmemacher Theo van Gogh von einem Islamisten auf offener Straße erstochen wurde, war es mit der traditionellen Toleranz endgültig vorbei. Die Morde leiteten einen schmerzlichen Erkenntnisprozess ein. Die Freiheit in einer offenen und multiethnischen Gesellschaft brauchte neue und verbindliche Grenzen.
Einer, der bereits früh darauf hingewiesen hatte, dass etwas faul war in der Konsensnation, war der Journalist und Soziologe Paul Scheffer. Im Jahr 2000 publizierte er im "NRC Handelsblad" einen Essay mit dem Titel "Das multikulturelle Drama". Der Text sorgte für Aufsehen. Erstmals machte ein prominenter Publizist auf den Zusammenhang zwischen vorgeblicher Toleranz und der Entstehung von Parallelgesellschaften aufmerksam. Unkontrollierte Zuwanderung und fehlende Integrationsbemühungen, so Scheffer, gefährden den sozialen Zusammenhang. Besonders die missglückte Integration von Muslimen stelle die europäischen Gesellschaften auf eine harte Probe: "Das multikulturelle Drama, das sich abspielt, ist die größte Bedrohung für den gesellschaftlichen Frieden."
Acht Jahre liegt das nun zurück. Und für viele wirkt Scheffers Warnung noch immer wie eine düstere Prophezeiung. Andere haben den 54-jährigen Amsterdamer Publizisten für seinen Aufsatz gescholten. Islam- und fremdenfeindlich habe sich der Soziologe in seinem Text gezeigt. Doch der ließ sich von solchen Vorwürfen nicht beirren. Unermüdlich forschte er weiter nach den Kriterien von gelungener und missglückter Integration. Nun hat er seine Ergebnisse in einem umfangreichen Buch veröffentlicht. Unter dem Titel "Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt" lotet er hier nicht nur die bisherigen Fehler der multikulturellen Gesellschaft aus.
"Wir müssen werden wollen, was wir behaupten zu sein", lautet die wesentliche Forderung dieses über 500 Seiten starken Buches. Es genüge nicht, Freiheit und Gleichheit zu propagieren, wenn Millionen Zuwanderer weiterhin im kulturellen Abseits stünden. So spricht niemand, der zur Xenophobie neigt; so spricht jemand, der weiß, dass Zuwanderung politisch gestaltet werden muss.
Mit einem umfangreichen Blick auf die Geschichte der Migration macht Scheffer deutlich: Probleme hat es zu allen Zeiten gegeben - nicht nur in Europa, sondern ebenso in den einwanderungserprobten USA. Jedes Land habe eine spezifische Vorgeschichte. Während den Niederländern das Prinzip "Gedogen" zum Verhängnis geworden sei, sei es in Frankreich der Gedanke an zuviel "Egalité" gewesen. Ein solches Gleichheitsideal habe über Jahrzehnte lediglich die Ungleichheit in den diversen Subkulturen befördert.
Doch egal, in welches Land man auch schaut: Immer sind es die urbanen Räume, die von der Migration am nachhaltigsten verändert worden sind. Städte sind für Paul Scheffer daher ein Labor für Einwanderung und Veränderung. Ihr Wachstum habe den öffentlichen und privaten Raum entzerrt und so ethnische Gruppen zunehmend in bestimmte Stadtteile abgedrängt. Zurecht weißt Scheffer in diesem Zusammenhang darauf hin, dass diese räumliche Abspaltung bis heute eines der größten Probleme für eine gelingende Integration darstellt.
Segregation ist aber nicht nur ein städtebauliches Problem. Segregation zeigt sich auf nahezu allen Gebieten: der Schule, dem Arbeitsmarkt, dem bürgerlichen Selbstbewusstsein. Dahinter verbirgt sich für Scheffer ein grundlegendes Defizit: Den modernen und multiethnischen Gesellschaften fehle es an einem "Wir-Gefühl". Während muslimische Einwanderer allzu gerne in Opferrollen verharrten, böten die Aufnahmegesellschaften selten neue Identitäten an. Scheffers Lösungsansatz: "Anstatt fortwährend von einer Mehrheit und Minderheiten zu sprechen, könnte geteilte Bürgerschaft ein Ideal sein, an dem sich jeder messen kann."
Verbinden statt trennen. Paul Scheffers Appell weißt in die richtige Richtung. Ein wenig scheint auch er jedoch geleitet vom Harmoniebedürfnis. Die harten Probleme nämlich spart dieses zuweilen holprig und subjektiv verfasste Buch aus: Wer integrieren will, der darf sozial nicht spalten. Unzählige Migrationsforscher haben in den vergangenen Jahren darauf verwiesen, dass sich hinter vielen ethnischen Problemen letztlich ungelöste ökonomische Fragen verbergen. Wer die wachsende Ungleichheit zwischen Einheimischen und Zugewanderten jedoch im toten Winkel seiner Untersuchung belässt, der forscht am Kern des gesamten Problems vorbei.
Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt.
Carl Hanser Verlag, München 2008; 536 S., 24,90 ¤