GESELLSCHAFT
Merle Hilbk geht auf eine deutsch-russische Seelenwanderschaft
Wladimir Kaminer hat ihn bravourös geschafft. Den Spagat zwischen alter und neuer Heimat. Er ist wirklich in Deutschland angekommen, ohne Russland wirklich verlassen zu haben. In seinen Selbsterfahrungs-Bestsellern hat der gebürtige Moskauer nicht nur zu einer ganz eigenen Identität gefunden, sondern vielen Deutschen erstmals die Augen für die "eigensinnige" Welt russischer Emigranten geöffnet. Doch die selbstironisch und phantasievoll gezeichneten Porträts von sich, seinen Landsleuten und der sagenumwobenen russischen Seele haben nur wenig mit jenen Lebenswelten zu tun, die Merle Hilbk auf ihrer siebenmonatigen "Reise durch das russische Deutschland" erkundschaftet und beschrieben hat.
Denn nur die wenigsten der über drei Millionen Russen, die seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland eine neue Heimat gesucht haben, haben sie hier auch wirklich gefunden. Viele von ihnen - ob mit oder ohne deutschen Pass - sind emotional staatenlos geblieben. Allen voran natürlich die Russlanddeutschen, die weder in Kasachstan oder Sibirien noch in Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen wohlgelitten sind. Und die von der Sehnsucht nach Heimat getrieben und vom Verlust der Heimat gebeutelt sind. Diese mentale wie soziale Spannung weiß die sehr einfühlsam operierende Reporterin in sehr offenen Gesprächen einzufangen, aber auch mit ihren eigenen Beobachtungen, Gefühlen und Gedanken dem Nichtrussen nahe zu bringen.
Ihre neuesten Reportage-Essays haben glücklicherweise nicht mehr ganz soviel mit dem sentimentalen Selbsterfahrungstrip zu tun, auf dem sie noch in ihrem Reisebuch "Sibirski Punk" wandelte und im "wilden Herz des Ostens" verzweifelt nach der russischen Seele fahndete. Diesmal konzentriert sie sich mehr oder weniger auf die Lebens- und Seelenlagen der von ihr porträtierten Charaktere. Merle Hilbk registriert dabei sehr genau, dass sich ältere "Aussiedler" mit der antiquierten Pflege deutscher Volkslieder und Sekundärtugenden in landsmannschaftlichen Vereinen fast ebenso stark ausgrenzen wie viele junge Deutschrussen, die in den Hochhausghettos von Berlin-Marzahn oder im Kanadaring von Lahr abhängen, nach eigenen Gesetzen leben und mit den Deutschen schnell in Konflikt geraten, wenn sie ihren Frust immer wieder mit Fäusten und Drogen bekämpfen wollen. Und dann in der JVA Adelsheim (Baden) landen, wo sie sich erneut abschotten und eigene Hierarchien bilden.
Hilbk erzählt aber nicht nur von russischen Emigranten, deren Familien zerrüttet oder deren Träume von einer Karriere als Wissenschaftler, Ingenieur oder Regisseurin geplatzt sind. Es finden sich auch viele Beispiele für eine erfolgreiche Integration, zumindest für eine erfolgversprechende Annäherung zwischen Deutschen und Russen. Vorausgesetzt die Russen bringen wie im noblen Baden-Baden genügend Geld mit, leisten Außergewöhnliches wie die russischen Breakdance-Boys oder Nachwuchskicker aus Buchen im Odenwald oder schlagen mit ihren Russendiskos zeitgeistkompatible Klänge an.
Ansonsten hat sich auch in den Großstädten Berlin und Hamburg eine russlanddeutsche Diaspora gebildet, die ihre eigenen Poetry Slams feiert, in Bardenclubs ihren gefühlvollsten Liedermacher kürt oder ihren Trockenfisch und Kwas in einsprachigen Supermärkten einkauft. Dass wir diese Orte und Events kennen lernen und erfahren, wer und was genau dahintersteckt, verdanken wir der slawophilen Autorin.
Dennoch bleibt das russische Deutschland für Deutsche immer noch ein äußerst "komplexer Kosmos". Hilbks Erkundungsreise gewährt nur einen ersten, wenn auch facettenreichen Einblick. Wer diesen Kosmos hautnah erleben und verstehen will, der sollte statt der Russendisko einmal einen Bardenclub besuchen. Er wird es ebenso wenig bereuen wie die Lektüre dieses Buches.
Die Chaussee der Enthusiasten. Eine Reise durch das russische Deutschland.
Aufbau Verlag, Berlin 2008; 286 S., 17,95 ¤