Deutschland
Im letzten Band seiner fünfteiligen Gesellschaftsgeschichte preist der Historiker Hans-Ulrich Wehler die Bundesrepublik als Erfolgsmodell. Die DDR lässt er hingegen zur Fußnote der Weltgeschichte verkommen
Fast 5.000 Seiten ist sie jetzt stark: die fünfbändige "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" des Bielefelder Emeritus Hans-Ulrich Wehler. Ein Mammutwerk der bundesdeutschen Geschichtsschreibung und Gelehrsamkeit. Doch der nun vorliegende letzte Band über die Höhen der bundesrepublikanischen und die Tiefen der DDR-Geschichte fällt mit gut 500 Seiten vergleichsweise schmal und schal aus. Was einerseits daran liegen mag, dass der mittlerweile 77-jährige Historiker sein Opus Magnum nicht unvollendet sehen wollte. Andererseits es gewiss auch zum geschichtspolitisch richtigen Zeitpunkt auf dem Markt erscheinen sollte. Schließlich jährt sich im nächsten Jahr zum 60. Mal die Gründung der Bundesrepublik und zum 20. Mal der Mauerfall. Und da möchte man doch ganz gerne wissen, wie die deutsche Gesellschaft sich seit 1949 entwickelt hat.
Auf diese Frage meint der Doyen der Historischen Sozialwissenschaft die passenden Antworten parat zu haben. Dass Geschichtswissenschaftler sich mit ihren Studien nur ungern bis in die allerjüngste Vergangenheit vorwagen, weil die historischen Spuren noch zu "frisch" sind, ficht Wehler dabei nicht an, sondern fordert ihn zu einem dezidierten Urteil geradezu heraus. Schließlich weiß er sich auch noch nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit mit dem scheinbar zeitlosen Strukturierungs- und Interpretationsschema des Soziologen Max Weber (1864-1920) auf der fachwissenschaftlich richtigen Seite. Wie in den vier vorangegangenen Bänden vermisst er auch die Vergangenheit der beiden deutschen Staaten an den "vier Achsen der Wirtschaft, der sozialen Ungleichheit, der politischen Herrschaft und der Kultur", um die "Strukturbedingungen" und den Modernisierungsstand der beiden diametral entgegengesetzten Gesellschafts- und Machtsysteme sichtbar zu machen. Damit bleibt er zwar seinem theorie- und zahlengesättigten Konzept treu und kann auf diesen Ebenen auch überzeugend Kontinuitäten und Diskontinuitäten nachweisen. Doch bildet dieses vor allem auf Institutionen, Strukturen und Statistiken fixierte Raster die gesellschaftliche Realität in Ost und West auch wirklich ab?
Für Wehler ist das keine Frage. Denn für ihn sind die empirischen Erkenntnisse der Wirtschafts- und Sozialgeschichte derart grundlegend und unumstößlich, dass alle neueren Ansätze dagegen verblassen oder im besten Falle als Hilfswissenschaften durchgehen. Vom faktenfreien Lebensstilmodell eines Ulrich Beck hält er deshalb ebenso wenig wie von der begrifflich amorphen "Neuen Kulturgeschichte". Ganz zu schweigen von älteren, stärker politik- und personenzentrierten "Meisterzählungen" wie sie der vor wenigen Jahren verstorbene Thomas Nipperdey mit seiner "Deutschen Geschichte" vorgelegt hat. Wer nach der jahrelangen Kritik an seinem Konzept von ihm also eine lebens- oder ereignisorientierte Darstellung erwartet hat, wird vermutlich ebenso enttäuscht sein wie derjenige, der sich einen ausgewogenen Blick auf die beiden deutschen "Neustaaten" erhofft hat.
Wenn man die "Erfolgsgeschichte" der Bundesrepublik derart holzschnittartig mit der "Misserfolgsgeschichte" der DDR kontrastiert, bleibt kaum Platz für erhellende Zwischentöne. Schon gar nicht, wenn man den Arbeiter-und-Bauern-Staat lediglich als "Fußnote in der Weltgeschichte" betrachtet und ihm deshalb auch nicht viel mehr Raum gibt und Beachtung schenkt. Mehr Raum hätte der DDR keineswegs ein größeres historisches Gewicht verliehen, aber vielleicht eine differenziertere Sicht auf das sozialistische Staatsmodell ermöglicht. Doch davon will Wehler selten etwas wissen. So nüchtern wie exakt er auch die systemischen, ideologischen und strukturellen Schwächen in Politik und Wirtschaft mit Zahlen und Analysen untermauert, so polemisch prangert er die Fehlentscheidungen und Willkürherrschaft der "Steinzeitmarxisten" und "Satrapen" an. Eine Wortwahl und ein Tonfall, wie er im Kalten Krieg vorherrschte, aber in einem historischen Standardwerk eigentlich nichts verloren hat.
Es steht außer Frage, dass die Parteidiktatur in der DDR ein Unrechtsregime war, das Gleichheit und Wohlstand versprach, aber Ungleichheit und Mangel erzeugte. Aber wie die Gesellschaft östlich der Elbe dieses System konkret wahrnahm, erlebte und sich darin einfügte, kommt bei Wehler genauso selten zur Sprache wie Ereignisse, Entscheidungen und Entwicklungen, die nicht nur eine marxistisch-leninistische, sondern zumindest ansatzweise eine emanzipatorische Handschrift trugen. Obgleich er etwa die Zivilcourage der Opposition in der DDR lobt, stellt er ihr kurz darauf ein machtpolitisches Armutszeugnis aus, das den Stempel "hochideologisierte ahnungslose Naivität" trägt. Wehler macht sich nicht die Mühe, die ostdeutsche Gesellschaft und Mentalität zu verstehen, geschweige denn sie direkt mit der westdeutschen zu vergleichen. Ganz im Gegenteil. Er macht es sich mit seinem Schwarz-Weiß-Schema zu einfach und den wiedervereinigten Deutschen schwer, einander besser zu verstehen.
Wehler sieht als Zeithistoriker seine "Pflicht zur politischen Pädagogik" (Theodor Mommsen) vielmehr darin, das bundesdeutsche Erfolgsmodell mit Webers Kategoriensystem zu analysieren und zu problematisieren. Letztlich preist er es aber doch immer als "Gesellschaftstypus" an, der nachweislich "das Lernpotenzial und die Flexibilität besessen" hat, um "seine Zukunftsfähigkeit zu beweisen". Darum kann er nicht oft genug die Westintegration, das "Wirtschaftswunder" oder das Leistungsprinzip loben und im Kontrast dazu die leistungsmüden 68er, die konservativen Intellektuellen oder das ineffiziente Hochschulsystem verteufeln. Selbstverständlich zieht der scheinbar an Helmut Schmidts sozialliberaler Realpolitik orientierte Historiker daraus seine Schlüsse und mahnt "die im Westen angekommene bundesrepublikanische Gesellschaft" zu kontrolliertem Subventionsabbau und Sozialumbau bei gleichzeitiger Wissenschafts- und Integrationsförderung.
Diese Ratschläge sind im heutigen Polit-Diskurs nicht neu, erhalten aber durch die historische Unterfütterung eine zusätzliche Legitimation. Es ist offenkundig: Wehler lässt es nicht nur stellenweise an politischer und wissenschaftlicher Neutralität fehlen. Er kann und will sich wohl auch nicht von seiner Zeitgenossenschaft und seinen Meinungen distanzieren, was vor allem im Abschnitt zur "neuen Politischen Kultur" in der Bundesrepublik zum Ausdruck kommt. Das ist bedauerlich, weil die ebenso kämpferische wie antagonistische Grundhaltung seine enorme intellektuelle und wissenschaftliche Leistung überschattet, die natürlich auch in diesem Band steckt. Sie tritt vor allem in den Kapiteln zur demografischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung zutage, wo Statistiken und Strukturen eine größere Beweiskraft besitzen als sie es in den Bereichen Politik und Kultur je können werden.
Deutsche Gesell-schaftsgeschichte. Band 5: Bundes-republik und DDR 1949-1990.
Verlag C.H. Beck; München 2008; 529 S., 34,90 ¤