Politische KULTUR
Eine Studie über die desolaten DDR-Kenntnisse deutscher Schüler - in Ost und West
Willy Brandt war ein berühmter DDR-Politiker, die Berliner Mauer wurde von den Alliierten errichtet, die Stasi war ein Geheimdienst wie in jedem anderen Land - dies glauben heute zwischen 20 und 30 Prozent von mehr als 5.000 befragten Schülern aus Berlin, Brandenburg, Bayern und Nordrhein-Westfalen. Eine Probe aufs Exempel machten Fernsehleute des RBB, die Schüler interviewten, ob die DDR ihrer Meinung nach demokratisch gewesen sei. Mehrere wussten es nicht. Zwei Mädchen antworteten nach einigem Überlegen: "Hieß DDR nicht Deutsche Demokratische Republik? - Ja klar, die war demokratisch!"
Es ist der außerordentliche Verdienst des Politikwissenschaftlers, Soziologen und Leiters des Forschungsverbundes SED-Staat, Klaus Schroeder, dass er die gravierenden Bildungsdefizite unter Jugendlichen über die jüngste deutsche Geschichte ins öffentliche Bewusstsein gerückt hat. Durch ihn und Monika Deutz-Schroeder jetzt auch in Buchform gefasst, ist ein 760-seitiges Handbuch entstanden, das mit seinen grafisch übersichtlich dokumentierten Ergebnissen eine im wahrsten Sinne des Wortes gewichtige Analyse zum mentalen Stand unserer politischen Kultur darstellt.
Wer sich darüber hinaus in diese Arbeit hineinliest, wird zu allen per Fragebogen abgefragten Wissensbereichen auf knapp 100 Seiten faktenreiche, kompetente Kurzdarstellungen finden. Sie reichen vom Alltag in der DDR bis zum Umgang mit Ausländern, von ärztlicher Versorgung bis zum politischen System, von Hintergründen der Arbeitsplatzsicherheit bis zur Umwelt- und Wohnsituation. Sie bieten ein bislang einmaliges Kompendium über die Lebensverhältnisse in der DDR. Allein schon dieser Abschnitt ist empfehlenswert - auch für die schulische Arbeit.
Gravierende Bildungslücken über den verschwundenen Staat attestieren sich nach Schroeders Studie 89,4 Prozent der Schüler in NRW, 83,5 Prozent in Berlin und 82,1 Prozent in Brandenburg. Nur in Bayern meinen 26,9 Prozent der Schüler, gut über die DDR informiert zu sein. Soziale Gerechtigkeit sieht die Hälfte aller Befragten in der untergegangenen DDR größer oder ebenso groß wie in der Bundesrepublik, wobei Jugendliche im Osten den SED-Staat deutlich positiver bewerten (Brandenburg 68,2 Prozent, Bayern 33,4 Prozent). Ähnlich klare Unterschiede zeitigt die Frage, ob die DDR eine Diktatur gewesen sei. Während in Bayern 71,7 und in NRW 66,2 Prozent dieser Überzeugung sind, sprechen 54,1 Prozent in Berlin und 48,6 in Brandenburg für ein stark deformiertes Geschichtsbild.
In der Summe der Antworten zeigt die Feldstudie bislang einmalig deutlich: heute Schüler zu sein bedeutet, wenig über die DDR und Diktatur zu wissen. Und jene, die am wenigsten wissen, neigen am stärksten zu Verklärung. Das DDR-Bild bei den befragten Schülern aus Berlin und Brandenburg entspricht auffällig dem dort verbreitet gepflegten Bild der Normalität in einer "Konsensdiktatur". Tatsächlich sehen inzwischen 60 Prozent aller Ostdeutschen an der DDR mehr gute als schlechte Seiten. Im gesellschaftlichen Gedächtnis ist kaum noch präsent, dass 1990 drei Viertel der DDR-Bürger die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im Sozialismus unerträglich fanden und für die Zukunft ablehnten. Zukunftsverunsicherung und verklärende Erinnerungen in ostdeutschen Familien tragen heue wesentlich zu einem geschönten Vergangenheitsbild bei. Dort, wo Schulen versagen, spielen diese Erinnerungen und das Milieu bei der Prägung des Geschichtsbildes Jugendlicher eine entscheidendere Rolle als bisher angenommen. Auch das ist ein Fazit der Studie.
Bei ihren Erhebungen vor Ort hörten Schroeder und seine Mitarbeiter wiederholt, Eltern wünschten nicht, dass die DDR in der Schule "schlecht geredet" wird und ihre Kinder so in einen Konflikt geraten. Sie würden ihnen weiterhin ihr positives DDR-Bild vermitteln. Erfreulicherweise zeigt die Studie aber auch, dass fast 60 Prozent der befragten Schüler gern mehr über die DDR erfahren möchten.
Während Ministerpräsident Wolfgang Böhmer in Sachsen-Anhalt angesichts der alarmierenden Daten einen wirksamen Bildungsplan für 2009/2010 zur Chefsache erklärt hat, vermitteln die Bildungsministerien in Berlin und Brandenburg derzeit den Eindruck, als gebe es wenig Bereitschaft, sich mit den Wissensdefiziten ihrer Schüler auseinander zu setzen und daraus Konsequenzen für ihren Bildungsauftrag zu ziehen. Selbst die den Ministerien unterstellten Landeszentralen für politische Bildung haben den Ankauf dieser kritischen Studie in einer überaus preiswerten Paperback-Ausgabe abgelehnt.
Schroeders Analyse spricht eine deutliche Warnung aus: Eine uninformierte Jugend wird nicht nur gleichgültiger gegenüber Demokratie, Freiheit und bürgerlichen Grundwerten, eine solche Generation wird auch anfälliger gegenüber linken wie rechten Verheißungen. Die Kultusministerien und Institutionen für politische Bildung in allen Bundesländern sind durch diese Schülerstudie direkt angesprochen und aufgefordert, zu handeln.
Soziales Paradies oder Stasi-Staat?
Verlag Ernst Vögel, Stamsried 2008; 760 S., 46 ¤