20. jahrhundert
Es gibt Bilder, die gehören zu unserem kulturellen Gedächtnis. Ein monumentaler Atlas analysiert sie nun akribisch - Jahr für Jahr
Sagenhaft, wie sie da über dem U-Bahn-Schacht steht, so unendlich blond: Ihr weißes in tausend Falten gelegtes Kleid bauscht sich, es flattert und wirbelt um ihre Alabasterbeine. Hätte Aby Warburg 1955 noch gelebt, als Billy Wilders "Das verflixte 7. Jahr" in die Kinos kam, er hätte Marilyn Monroe in den Reigen seiner Mänaden aufgenommen. Sie wäre Teil seines collagenhaften Bilderatlas geworden, in einer Reihe mit den anderen Repräsentantinnen jener dionysisch-dynamischen Figur. Direkt neben Abbildern von Judith, Venus, Salome, einer Golfspielerin.
Der Hamburger Kunstwissenschaftler Aby Warburg benannte damals seinen "Bilderatlas" nach "Mnemosyne", der antiken Göttin der Erinnerung, Mutter der neun Musen. Visuelle Artefakte repräsentierten für Warburg so etwas wie das soziale, kulturelle Gedächtnis, sie speichern Vergangenes wie das menschliche Gedächtnis Erinnerungen. Die wehenden Faltenwürfe der Mänaden, das "bewegte Beiwerk", waren ihm Ausdruck der so genannten Pathosformel: Überbleibsel aus der Vergangenheit, geronnener "Denkraum". Erst in der Rückschau, fand er, also mit Distanz, lässt sich verstehen - daher auch die assoziativen Bildcollagen, die mühelos eine Brücke von der Antike in die Goldenen Zwanziger schlugen: Das vergleichende Sehen diente ihm als einzig sinnstiftender Akt. "Bewusstes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt", so Warburgs berühmter Einleitungssatz, ist der "Grundakt menschlicher Zivilisation".
Gerhard Pauls Projekt steht in dieser Tradition, nicht nur wegen der Bezeichnung. Sein "Bildatlas" ist nichts weniger als "der Versuch, den Bilderkanon des kulturellen Gedächtnisses genauer zu bestimmen und zugleich die Geschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts aus der Perspektive zentraler Bildmedien, visueller Produktionen und Praxen zu rekonstruieren". Eine "Zeitreise" sei es und eine "Momentaufnahme", eine Sammlung von "Medienikonen", "Schlagbildern", "Schlüsselbildern", "Bildclustern" und "virtuellen Bilderwelten". Fürwahr ein monumentales Unterfangen.
Man kann fast sagen: Auf eine so umfassende Arbeit hat man gewartet. Das vergangene Jahrhundert war schließlich ohne Zweifel das des Bildes. Und wie stark unsere Zeit vom Visuellen geprägt ist, hat sich in den vergangenen zehn Jahren nicht zuletzt in den Wissenschaften manifestiert. Der explizit transdisziplinär ausgerichtete "iconic turn" hat eine "Bildwissenschaft" hervorgebracht, die sich mit Vehemenz der zentralen Bedeutung visueller Inhalte widmet.
Jetzt ist also Band Eins erschienen, großformatig, bildgewaltig, seitenstark. Er deckt die Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute ab - die andere Hälfte des Jahrhunderts ist für Frühjahr 2009 angekündigt. Schon jetzt lässt sich sagen: Paul hat ganze Arbeit geleistet. Eine visuelle Ikone pro Jahr hat er aufgefahren, samt erhellender, großartiger Aufsätze, die es in sich haben. Es ist wirklich alles da, bei jedem weiteren Kapitel denkt man: Ja, absolut. Dieses Foto, dieses Image, dieses Bild ist ohne Zweifel Teil unseres kulturellen Gedächtnisses geworden, teils auf nationalem, teils auf internationalem Level. "Erinnert wird, was als auffällig wahrgenommen wurde, was einen tiefen Eindruck gemacht hat, was als bedeutsam erfahren wurde", wie Aleida Assmann, die "Grande Dame der historischen Anthropologie" (taz) es einmal formulierte. Sie haben sich unserem Gedächtnis eingeschrieben: Die Mondlandung. Lara Croft. Die RAF-Fahndungsplakate. Barschel in der Badewanne. Madonnas Metamorphosen. Mädchen bei Napalm-Angriff im Vietnam-Krieg. Die Benetton-Werbung von Oliviero Toscani. Fallende Menschen am 11. September. Flugzeuge in Hochhäusern. Johannes Paul II. Tsunami. Die nackte Rückenansicht der Kommune 1. Die Doppelhelix von Watson und Crick. Kohl-Karikaturen. Private DDR-Akte. Bravo-Starschnitte. Benno Ohnesorg auf dem Boden vor der Deutschen Oper. Umgestürzte Stalin-Statuen. Alles.
Das Layout des Werks, das muss man explizit hervorheben, ist kristallklar und damit außergewöhnlich stark. Eine Doppelseite mit einem kurzen Textanreißer und vor allem einem seitenfüllenden Bild bildet stets den Auftakt zu den einzelnen Essays. Die ausgewählten Fotos gehören zum Aussagekräftigsten, was der globale Bilderspeicher aufzubieten hat. Selbst Altbekanntes, zu Ikonen Geronnenes erscheint da und dort in ganz neuem Licht. Auch wegen der Kontextualisierung: Schließlich hat der Herausgeber besonderen Wert darauf gelegt, Cover-Versionen, Anspielungen auf berühmte Bilder neben den Originalen zu zeigen.
Überhaupt: Die Mischung aus stringenter Struktur einerseits und assoziativen Querverweisen andererseits erinnert ein wenig an Warburgs einstiges Ansinnen. Die Bild-Aufsätze - allesamt von Überzeugungstätern, Menschen mit Faible für Visuelles - sind streng chronologisch geordnet, säuberlich eingeteilt in Jahrzehnte. Gleichzeitig hat Paul Referenzen auf andere Essays im Buch oder den noch folgenden ersten Band eingebaut, die ein vergleichendes Sehen ermöglichen: Das DDR-Sandmännchen paart sich so mit Mickey Maus, die Amateur-Aktfotos der Ostdeutschen werden dem "Playboy der DDR" gegenübergestellt, die schwarz-weiße Dokumentation des "millionsten Gastarbeiters" in Deutschland findet ihr Echo in der "Das Boot ist voll"-Ikonografie von 1991.
Es ist dem Macher unübersehbar ein Anliegen, eine Kulturtechnik zu verbreiten, der bislang wenig Beachtung geschenkt wurde: das Betrachten von Bildern, das Aneignen einer visuellen Kompetenz. Selten wurde mit derartiger Wucht Bildanalyse betrieben - von popkulturellen, werberelevanten, massenmedial verbreiteten Bildern, Bildern also im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Die Texte, ganz klar, machen Lust auf mehr.
Um noch einmal auf die weiß-flatternde Marilyn zurückzukommen: Wer stöhnt nicht genervt, der jenes Filmstill sieht, so oft wurde es dupliziert und persifliert. Doch in Kombination mit der nach wie vor brillanten Diven-Analyse der Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen gewinnen die Monroefotos nur an Strahlkraft. Die Diskussion von erfolgreichen Plattencovern wie "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" und anderen Beatles-Alben zeigt den Erfolg und die anhaltende Präsenz der "Fab Four" aus einer sonst selten beleuchteten Perspektive. Oder der Text von Hannes Heer, Leiter der ersten Wehrmachtsausstellung in Hamburg: Er dokumentiert nicht nur die Bedeutung jener für Deutschland signifikanten Fotos - er schildert gleichzeitig die Geschichte sehr spezieller Rezeptionserlebnisse.
Und, ganz nebenbei, dokumentiert diese Bilderbibel auch eine fundamentale Veränderung. Je näher die visuellen Zeugnisse der Gegenwart kommen, desto mehr fällt zweierlei auf: die Reichweite der Bilder und die Technik, die dahintersteckt. Beides bedingt einander, das liegt in der Natur der Sache. Was Gerhard Paul ausgesucht hat, am Schluss, ist in erster Linie Bildmaterial, das weltweit funktioniert und nicht nur innerhalb Deutschlands auf erkennendes Nicken stößt. Jenes Material gehört zum unerschöpflichen Kanon der Medienereignisse, und dass diese unwiderruflich an den technischen Fortschritt gekoppelt sind, ist eine Binsenweisheit: Während die Kunde vom Erdbeben in Lissabon 1755 erst zwei Wochen später London erreichte, war im September 2001 die ganze Welt live dabei, als Terroristen zwei Flugzeuge ins New Yorker World Trade Center steuerten. Und als vier Jahre später Bombenattentate die britische Hauptstadt in Aufruhr versetzten, schickten Überlebende Handyfotos aus den Tunnels der Londoner U-Bahn - binnen Minuten gab es Bilder des Unglücks, übers Internet global verbreitet.
Bilder, die sich derartig universell ins Gedächtnis einschreiben, sind identitätsstiftend und somit auch immer gemeinschaftsstiftend. Das gilt für die "visuelle Gründungskonstruktion" der Bundesrepublik mit der Unterzeichnung des Grundgesetzes 1949. Es gilt genauso für das zusammenschweißende Medienereignis der Fußball-WM 1954 in Bern. Und auch bei längst weltweit Präsentem wie jenen Folterbildern von Abu Ghraib; die Kapuzenfigur ist längst eine Ikone gegen Folter. Gewissermaßen katalysiert sie die Globalisierung, diese Globalisierung des Bilderkanons.
Letztlich, das gehört zur Logik einer solchen Auswahl, wird es "immer auch ein subjektiver, eben ,mein' Bildatlas bleiben", wie Gerhard Paul zu Recht einräumt. Das wird beim später erscheinenden, chronologisch gesehen ersten Band nicht anders sein. Teil jener subjektiven Paul'schen Auswahl sind darin unter anderem das "bilderlose Attentat" 1914 in Sarajevo, Josephine Baker, der Sarotti-Mohr, Riefenstahls Olympia, Picassos "Guernica", der Atompilz, Trümmerfrauen und die Friedenstaube. Klar funktionieren die beiden Bände auch einzeln, das wäre ja noch schöner. Aber schon jetzt steht fest: Man möchte gerne in beiden Wälzern parallel blättern. Und beim Schmökern noch mehr bewegtes Beiwerk finden.
Das Jahrhundert der Bilder. Bildatlas 1949 bis heute.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008; 798 S., 39,90 ¤