Kurden
Oya Baydars bewegender Roman über den innertürkischen Konflikt
Vor Jahrzehnten, als junger Mann voller Überzeugungen, hat Ömer Eren einmal eine Brücke gebaut. Sie führte über den Großen Zab, jenen Fluss, der im Südosten der Türkei entspringt und weiter südlich im Irak das von den Kurden bewohnte Gebiet begrenzt. Viele linke Revolutionäre waren Anfang der 1970er-Jahre wie Ömer aus den türkischen Städten im Westen, aus Istanbul oder Ankara, gekommen, um im Osten mit bloßen Händen diese Brücke zu bauen. Eine Brücke der guten Absicht, ein Symbol der Brüderschaft mit den Kurden, dem unterdrückten Volk entlang des Flusses.
Knapp 40 Jahre später sieht Ömer aus dem Fenster eines Busses auf die Überreste der steinernen Brückenfüße. Der Fluss hat sie weggespült, vielleicht haben sie auch Soldaten oder Rebellen zum Einsturz gebracht, das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ömer blickt mit Bitterkeit auf die Ruinen seiner Utopien. "Alle meine Brücken sind komplett eingestürzt", denkt er, der inzwischen erfolgreiche Schriftsteller, der Jahre später wieder in den Osten reist auf der Suche nach Inspiration. Er hofft, in den kurdischen Dörfern die Worte wieder zu finden, die er plötzlich verloren hat.
"Verlorene Worte" - so lautet auch der Titel des neuen Romans der Schriftstellerin Oya Baydar, der all das thematisiert, was die Türkei nunmehr seit Jahrzehnten bewegt: der Ost-West-Konflikt, die Kluft zwischen der Freizügigkeit der Städte und den uralten Traditionen Anatoliens, die Kämpfe zwischen kurdischen Rebellen und türkischer Armee.
Über all dem liegt bleischwer das schlechte Gewissen der politischen Linken: Sie haben in den 70er- und 80er-Jahren gegen die Unterdrückung der Kurden, gegen den türkischen Staat gekämpft. Sie haben Brücken für den Frieden gebaut und sind dafür wie Ömer in den Knast gewandert oder wurden hingerichtet. Heute haben viele der früheren Idealisten Karriere gemacht, sind berühmte Schriftsteller geworden oder international beachtete Wissenschaftlerinnen wie Ömers Frau Elif. Und sind darüber müde geworden. Die alten Zeiten sind vergangen, die Ideale gescheitert. Während die Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und der kurdischen Rebellenorganisation PKK wieder an Heftigkeit zunehmen, Terror und gewaltsame Proteste das Land überziehen, ertränken die Revolutionäre von einst ihre Schuldgefühle in zuviel Raki.
Vieles in dieser 450 Seiten langen Geschichte ist Teil der eigenen Biografie der 1940 geborenen Baydar. 1971 war sie Mitbegründerin der Türkischen Sozialistischen Arbeiterpartei und wurde von der Universität verwiesen. Sie schrieb politische Artikel für Zeitschriften und Tageszeitungen und musste nach dem Militärputsch 1980 die Türkei verlassen. Erst 1992 kehrte sie nach einer Amnestie für politisch Verfolgte nach Istanbul zurück.
Seit Jahren setzt sich Oya Baydar für die Rechte der Kurden ein, unter anderem als Sprecherin des "Turkey Peace Attempt", einer Nicht-Regierungsorganisation, die sie 2002 gegründet hat. Die Enttäuschung vieler linker Intellektueller ihrer Generation über den ungelösten inner- türkischen Konflikt und ihr eigenes Versagen kennt die 60-Jährige gut. "Wir wollten die Welt verändern, stattdessen veränderten wir uns selbst", sagt sie. "Jetzt sind wir über 60 Jahre alt und furchtbar enttäuscht."
In Baydars Roman gibt es ein Schlüsselerlebnis, das den sprachlos gewordenen Schriftsteller aufrüttelt, ihn mit seinem schlechten Gewissen konfrontiert: Ömer sieht, wie ein Querschläger mitten in Ankara eine junge kurdische Frau schwer verletzt und dabei ihr ungeborenes Baby tötet. Er hilft ihr und ihrem Freund, erfährt, dass beide auf der Flucht sind: Zelal vor einem Ehrenmord, der Deserteur Mahmut vor den Rebellen der PKK. Ömer besorgt ihnen einen sicheren Unterschlupf in seiner Heimat, dem Westen, und macht sich auf in ihre, den Osten. Vielleicht, denkt er plötzlich, ist das die Geschichte, die er schreiben muss - die wahre Geschichte des Ostens, eine menschliche, unverfälschte Geschichte.
In der Schilderung dieser Reise ist Oya Baydar stark. Ihr gelingt es, anhand Ömers Beobachtungen beide Seiten des Konflikts darzustellen, ohne einseitiges Gut oder Böse. Hier die jahrzehntelange Unterdrückung der kurdischen Kultur und Sprache durch die Türken, zerstörte Dörfer, Razzien der Armee. Dort kurdische Söhne, die in die Berge ziehen, um für "die Organisation" zu kämpfen, die Anschläge verüben und andere, weniger Entschlossene dazu zwingen, sich für den Terror und die PKK zu opfern. In diesen Passagen ist "Verlorene Worte" besonders erschütternd.
Leider verliert der Roman durch zwei weitere Handlungsstränge an Substanz und Intensität. Ömers Frau und der gemeinsame Sohn Deniz - auch sie erleben traurige Geschichten, auch in ihnen geht es um Gewalt und die Unfähigkeit zu kommunizieren. Das sind dann doch zu viele Tragödien auf einmal, noch dazu von Baydar mit einigem Pathos erzählt.
Ein gutes Buch ist "Verlorene Worte" dennoch. Brücken bauen in der Türkei, das war nicht nur vor 40 Jahren an den Ufern eines störrischen Flusses ein schwieriges Unterfangen.
Verlorene Worte.
Roman.
claassen Verlag,
Berlin 2008;
456 S., 22,90 ¤