Ehrenmorde
Ayse Önal gelingt ein spannendes Panorama einer zerrissenen Gesellschaft
Mord ist Mord. Am Ende des Buches bleibt diese einfache Erkenntnis in einer Klarheit stehen, obwohl oder gerade weil all die Erzählungen auf den Seiten zuvor Geschichten vom Verschwimmen der Grenzen sind: "Schieß sie unter den Bäumen nieder und dann bring die Leiche weg", befiehlt etwa die Mutter von Remziye ihrem Sohn. Opfer und Täter - die Grenze verläuft nicht entlang der Geschlechtergrenze. Und was ist mit Mehmet Sait, der, bevor er seine Schwester Zehra ermordete, schrie: "Wie konntest du nur dein Heim verlassen? Wie stehen wir jetzt vor aller Augen da! Wenn wir uns zum Gespött machen, wenn mein Nachbar mich nicht mehr um Hilfe bittet, wenn niemand mir seine Tochter zur Frau gibt oder meine heiraten will, was bin ich dann noch wert in dieser Gemeinschaft?" Am Ende sind beide Frauen tot und Opfer ihrer Mörder geworden. Aber die Stärke, sich den gesellschaftlichen Zwängen zu widersetzen, besaßen allein sie, die zu ihrer Liebe stehen oder von ihrem prügelnden Ehemann die Scheidung wollten.
"Es ist das Milieu, das tötet", schreibt Christiane Schlötzer, Türkei-Korrespondentin der "Süddeutschen Zeitung", in ihrem Vorwort. Die Feststellung, dass auch die Mörder Opfer gesellschaftlicher Zwänge geworden sind, dient hier nicht als Entschuldigung, sondern wird der These der Täter, sie seien "Opfer des Schicksals", entgegengesetzt. Und sie macht deutlich, worum es in den Ehrenmordfällen tatsächlich geht und worauf die Autorin Ayse Önal hinweist: "Es ist irreführend, wenn man Ehrenmorde unter die Rubrik ,häusliche Gewalt' einordnet. Hier geht es vielmehr um soziale Gewalt, die der Gesellschaft eigen ist und weit über die Grenzen der Familie hinaus reicht."
Die Journalistin Ayse Önal hat nicht nur, wie es der Titel vermuten lässt, die Geschichten der Mörder dokumentiert. Über die Frage "Warum tötet ihr" gelingt es ihr, das Panorama einer zutiefst zerrissenen Gesellschaft lebendig werden zu lassen. "In Instanbul gibt es keine dicken schwarzen Linien, die die sozialen Klassen voneinander trennen", schreibt Önal. Armut und Reichtum prallen ebenso hart aufeinander wie Moderne und Tradition: "Während einige Mädchen um der Ehre willen sterben müssen, flanieren andere mit ihrem Liebhaber Arm in Arm durch die Straßen."
Gesetze können diese Spannungen nicht auflösen, erst 2006 wurde das Strafrecht für Ehrenmörder verschärft. Gleichzeitig förderte eine Studie im vergangenen Jahr zutage, dass 67 Prozent der Türken jede Sünde auch als Verbrechen betrachten, das gesühnt werden muss. "In einer Gesellschaft, deren Werte sich nicht mit dem Gesetz decken, erzielt eine strenge Gesetzgebung nicht unbedingt den gewünschten Effekt", so Önal. Die Religion wäre dazu aber durchaus in der Lage, doch leider nutzten die religiösen Führer ihren Einfluss nicht entsprechend, beklagt sie. "Keine der Autoritäten widerspricht, wenn Religion als Rechtfertigung für diese Morde in Feld geführt wird."
Über ein Jahr hat Önal in Gefängnissen recherchiert, sich die Vorgeschichte der "Ehrenmorde" aus der Perspektive der Täter erzählen lassen, ist in die Städte gefahren, um sich mit Freunden und Verwandten der toten Frauen zu treffen. Entstanden ist eine spannende Dokumentation des Freiheitskampfes türkischer Mädchen und Frauen. Remziye, der Minuten vor ihrem besiegelten Tod die Flucht gelingt, die nach jahrelangen Versteckspielen mit ihrem (selbst gewählten) Mann und ihrer Tochter nach Österreich ausreist, sagt: "Wir wollen wie ein Mensch behandelt werden, nur deshalb laufen wir weg." Die Ausreise gelingt ihr übrigens mit Hilfe eines Türken, dessen Geliebte ebenfalls von ihrer Familie ermordet wurde, und der sein eigenes Leben nur durch die Flucht nach Österreich retten konnte. Drei Jahre später stirbt die junge Familie unter ungeklärten Umständen bei einem Autounfall. Es ist ein Buch, das sich liest wie ein Krimi, doch leider weiß man, dass nichts erfunden ist.
Droemer Verlag, München 2008; 336 S., 18,95 ¤