Deutsche Einheit
Ehrhart Neubert präsentiert die erste Gesamtdarstellung
Der Theologe Ehrhart Neubert, bekannt vor allem als Autor einer maßgeblichen Publikation über die DDR-Opposition, legt mit der "Geschichte der Jahre 1989/ 90", laut Verlag, die "erste große Gesamtdarstellung der deutschen Revolution" vor. In der Tat nutzt Neubert den Vorteil, um mit seinem Buch als Erster eine gesamtdeutsche Version der Ereignisse von 1989/90 anzubieten. Der Titel "Unsere Revolution" ist Programm.
Die große Stärke dieses 450 Seiten umfassenden Textes liegt in der sehr klaren und sehr lesbaren Zusammenschau jener Ereignisse und Entscheidungen, die selbst die interessiertesten Beteiligten und Beobachter jener Jahre nur ausschnittweise wahrnehmen konnten. Nach fast 20 Jahren ist Abstand möglich, die verschiedensten Analysen sind erstellt und lassen sich zu einem Gesamtbild fügen. Und über weite Strecken liest es sich ausnehmend spannend, wie Neubert Akteure und Aktionen, Geschehnisse und Hintergründe beschreibt.
Sehr überzeugend ist beispielsweise die Rolle jenes 9. Oktober 1989 in Leipzig dargestellt. Nachdem alles auf eine Eskalation von Gewalt hinauszulaufen schien, brachte eine nie dagewesene Menge von 70.000 Demonstranten alle geplanten staatlichen Gegenmaßnahmen ins Wanken - die Protestbewegung konnte friedlich bleiben. Präzise und mit Gespür für Symbolik skizziert Ehrhart Neubert, wie Wahrheit und Kritik endlich "zur Sprache kommen". Überhaupt macht das Miteinander-Sprechen als Erkenntnisform für ihn den "Geist der Revolution" aus.
Sehr anschaulich wirken viele Parolen und Losungen jener Tage, die Neubert notiert, so auch jenes vielzitierte "Wir sind das Volk!" und seine Entstehung. Als Antwort auf beleidigende Beschimpfungen in den SED-Presseorganen hatten Leipziger Demonstranten gerufen : "Wir sind keine Rowdies. Wir sind das Volk!"
Von Tag zu Tag steigerte sich die Dynamik der Entwicklung, fast rauschhaft ging die "sprechende Gesellschaft in die Offensive". Da Neubert viele kurze Gedichte und Erinnerungstexte einfließen lässt, macht er jene Stimmung nacherlebbar. Schade nur, dass viele Namen unbekannterer Verfasser in den Anhang verbannt sind.
Genau recherchiert und plastisch in ihrer Abfolge beschrieben sind ebenfalls die Ereignisse, die am 9. November zur Maueröffnung führten. Günter Schabowski, auf einer Pressekonferenz nach dem Inkrafttreten der neuen Reiseregelungen gefragt, antwortete, dass die Ausreise sofort, unverzüglich und über alle Grenzübergangsstellen erfolgen könne. Neubert kommentiert: "Diese sprachliche Ungenauigkeit ließ ungewollt und unvorhergesehen die Auffanglinie des Regimes zerreißen." Der Autor lässt aber nicht unerwähnt, dass nicht die "Unfähigkeit des Politbüro-Mitglieds zu klarer Kommunikation" allein die bekannten Folgen zeitigte. Die ARD half mit, indem sie um 23 Uhr in den Tagesthemen "entgegen der tatsächlichen Situation" meldete, die Tore der Mauer stünden weit offen. Eine halbe Stunde später wurde der Berliner Grenzübergang Bornholmer Straße tatsächlich geöffnet.
Das Novum dieses Buches - abgesehen vom Begriff der deutschen Revolution - lautet in verknappter Form: Es waren eigentlich zwei Revolutionen, die ineinanderflossen. Die erste begann im Oktober 1989 - Neubert versagt sich bewusst den Begriff "Oktoberrevolution", den er noch 1999 verwendet hatte -, und die zweite ist die "Januarrevolution", die in Ost wie West auf die schnelle Einheit Deutschlands zielte und in den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990.
Neubert stellt sich die Aufgabe, in seiner Erzählung "politische Handlungen, revolutionäre Institutionen und Ereignisse als Stationen eines offenen Prozesses" zu behandeln. Dies gelingt ihm als Beteiligten, der sich bis zum Januar 1990 in der Partei Demokratischer Aufbruch engagiert hatte, naturgemäß nicht durchgängig. Bei allem erfolgreichen Bemühen um Sachlichkeit, ist natürlich der CDU-Sympathisant zu spüren. Ein kritischer zwar, doch einer, der dem Zehn-Punkte-Plan von Bundeskanzler Helmut Kohl deutlich den Vorrang gibt vor dem zeitgleichen Aufruf "Für unser Land". Dies wird problematisch nur dort, wo einige hunderttausend Unterzeichner des besagten Aufrufs plötzlich unterschieden werden von "der Bevölkerung", die, so Neubert, den Aufruf "ignorierte", nachdem die SED ihn instrumentalisiert hatte.
Vermutlich ist es dem Autor, der seit 1996 der CDU angehört, wichtig gewesen, die Balance von Subjektivität und distanzierterer Draufsicht zu wahren. Vielleicht wären jedoch einige autobiografische Einschübe gar nicht von Schaden gewesen. Hätten sie doch erläutern können, warum der Autor im November 1989 zwar einen Aufruf mitunterzeichnete, in dem die Idee eines demokratischen Sozialismus unterstützt wurde, er aber später offenbar andere Positionen vertrat.
Da Ehrhart Neubert auf derlei persönliche Erläuterungen verzichtet gerät er gelegentlich in die günstige Position eines rechtzeitig Desillusionierten, der dem wirklichen Geist und Verlauf der Revolution näher ist als andere Akteuren jener Jahre. Anders gesagt: Es ist nicht unproblematisch, wenn ein aktiv Beteiligter sich nachträglich in die Perspektive des distanzierten Beobachters hineinversetzt. Eine Vielzahl von Akteuren wird sich in den kommenden zwei Jahren zu Wort melden. Die Pluralität, die erstritten wurde, gilt es nun auch auszuhalten. Neuberts Buch bietet als Überblicksdarstellung in ihrer zwangsläufigen Knappheit auch deshalb Stoff für Debatten, weil sie nur an wenigen Stellen ausführlicher ins Detail gehen kann. Dort, wo sie es tut, wo der Autor die Rolle oder das Verhalten Einzelner bewertet, entsteht gelegentlich Erklärungsbedarf. Zum Beispiel: Eine vermeintlich von Bärbel Bohley und anderen Akteuren des Neuen Forums vertretene Position, zitiert Neubert aus einem Stasi-Bericht. Fand sich tatsächlich kein anderer Beleg für die Behauptung, Bohley habe die führende Rolle der SED Ende Oktober 1989 nicht in Frage stellen wollen? Und ist dies nicht auch eine etwas kleinliche Sicht auf die Rolle dieser mutigen Frau?
An anderer Stelle ist Neubert großzügiger. So beschreibt er den ersten Vorsitzenden des Demokratischen Aufbruchs, Wolfgang Schnur, als wichtigen IM und Einflussagenten der Stasi, gleichzeitig billigt er ihm aber "eigenständige Beiträge im Kampf gegen das SED-Regime" zu. Hier wären genauere Informationen wünschenswert, zumal kürzlich über Schnur bekannt wurde, dass er selbst seit 1987 geheimes SED-Mitglied war. Zugehörig zur SED-Grundorganisation der Stasi in Rostock, bezahlte er bei seinem Führungsoffizier auch gleich den Parteibeitrag. Wie an diesem Fall deutlich wird, ist die Forschung zum Herbst 1989 und seinen Akteuren noch in Bewegung. Ehrhart Neubert hat hierzu eine wichtige und im wahrsten Sinne grundlegende Arbeit vorgelegt, die auch ihren Kritikern Orientierung vermitteln wird.
Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90.
Piper Verlag, München 2008; 520 S., 24,90 ¤