türkei
Das Land zwischen Europa und Asien steht einmal mehr an einem Wendepunkt.
In Deutschland leben fast drei Millionen türkischstämmige Bürger. Das könnte zu der Annahme verleiten, dass man sich hierzulande mit der Türkei vertraut fühlt. Schließlich ist das Land regelmäßig in der Presse und es gibt theoretisch genügend Möglichkeiten der Begegnung und Information. Doch dies ist nicht der Fall. Denn wenn es um das Land am Bosporus geht, kreisen die Debatten fast immer um dieselben Themen: EU-Mitgliedschaft, Islam und gescheiterte Integration.
Das oftmals von Misstrauen und Stereotypen belastete Bild hat zwei deutsche Journalisten dazu bewogen, ihre eigene, korrigierende Sicht der Dinge dazulegen. Beide leben seit vielen Jahren mit ihren Familien in der Türkei und berichten von dort aus für deutsche Medien.
Jürgen Gottschlich, ehemaliger Mitbegründer der "taz" und stellvertretender Chefredakteur der "Wochenpost", will mit seinem Buch Türkei, ein Land jenseits der Klischees "deutsche Missverständnisse" abbauen. Diese seien entstanden, weil die hiesigen Medien in erster Linie die rückständigen Seiten der Türkei im Visier hätten, und dadurch die großen Gegensätze, die so charakteristisch für das Schwellenland seien, außer Acht gelassen würden.
Gottschlich hat eine Art Handbuch über die Türkei vorgelegt, das einerseits eine Fülle historischer, soziologischer und politischer Erläuterungen beinhaltet, andererseits aber auch "das Bunte" abdeckt. So finden sich neben Kapiteln über die Grundlagen der türkischen Republik, die Themen "Land und Leute", "Deutsche in der Türkei", "Türkische Freizeitvergnügen oder auch "Arbeit, Gesundheit, Rente". Nicht selten lesen sich Passagen wie aus einem fundierten Reiseführer, wenn es etwa um das Klima, Tipps für den Besuch von Sprachkursen oder den Immobilienerwerb geht. Rund 35 Seiten behandeln allein das Thema "Familie", auf denen viel über die Besonderheiten des Schulsystems und das Leben der Kinder in der Türkei zu erfahren ist. Es sind vor allem diese anschaulichen, von Sympathien getragenen Beschreibungen des täglichen Lebens, die das Potenzial haben, eine "gefühlte Distanz" zusammenschrumpfen zu lassen. Aber auch, weil durch die Lektüre deutlich wird, wo die Gemeinsamkeiten liegen und wo die Gründe für Unterschiede zu suchen sind. Dabei geht der Autor von der These aus, dass gesellschaftliche Werte von den jeweiligen ökonomischen Möglichkeiten der Menschen abhängig sind. Demnach würden, traditionale Verhaltensmuster, wie etwa hierarchische und patriarchale Familien- und Clanstrukturen, überall dann zerfallen, wenn das Individuum über finanzielle Unabhängigkeit verfügt. Damit wendet sich Gottschlich gegen die Auffassung, es sei der Islam, der Modernisierung blockiere.
Der journalistisch-lockere Stil des Autors lässt auch kritische Themen nicht außen vor. Ganz im Gegenteil: In teils gesondert hervorgehobenen Kastentexten wird auf die neuralgischen Punkte Kopftuchstreit, Kurden-Problematik oder die Rolle des Militärs ausführlich eingegangen. Besonders hinzuweisen ist auf das Unterkapitel "Die Deutschen und die Armenische Frage im Osmanischen Reich", in dem Gottschlich die Frage nach der Rolle von deutschen Militärs im Zusammenhang mit dem Genozid an den Armeniern aufwirft. Er macht deutlich, dass dieses Thema ein blinder Fleck in der deutschen Militärgeschichte darstellt. Die die einzige militärhistorische Studie dazu stammt nicht von deutschen Forschern, wie der Autor konstatiert, sondern bezeichnenderweise von einem Schweizer Historiker. Es wäre also an der Zeit, dass die damalige deutsche Haltung hinsichtlich der Verbrechen auch Gegenstand der hiesigen Forschung wird. Die wenigen Ausführungen in dem kurzen Kapitel lassen eine solche Auseinandersetzung jedenfalls als überfällig erscheinen.
Rainer Hermann zieht mit seinem Buch "Wohin geht die türkische Gesellschaft? Kulturkampf in der Türke" Bilanz aus der Sicht eines langjährigen Korrespondenten. Wie der FAZ-Journalist im Vorwort darlegt, geht es ihm um die Schilderung der starken gesellschaftlichen Veränderungen, die er als Zeitzeuge in 17 Jahren beobachtete. Dieser grundlegende Wandel sei von der Gesellschaft selbst ausgegangen, die ihre Vielfalt entdeckt hätte, und nun den lange allmächtigen Staat zurückdränge.
Das Buch gliedert sich in drei große Themenblöcke von jeweils um die 100 Seiten. Im ersten Teil werden die "Gründungskoordinaten" der türkischen Republik, unter anderem also der Kemalismus, der Laizismus und die Rolle von Militär und Justiz, kritisch beleuchtet. In dem zweiten übergeordneten Kapitel "Die Gegenelite auf dem Weg zur Macht" versucht Herman seine Kernthese zu untermauern. Ihr zufolge sieht sich die kemalistisch geprägte urbane Elite von der neuen aufstrebenden islamischen Mittelschicht herausgefordert. Sie stellt die Mehrheit in der Türkei und ihre Wurzeln liegen in den armen ländlichen Teilen des Landes. Spannend und detailliert beschreibt Hermann, wie sich diese "Gegenelite", repräsentiert durch den heutigen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, ihren Platz in der Gesellschaft erkämpfte und so den Impuls zur demokratischen Erneuerung des Landes gab. Denn im Verlauf dieses Prozesses habe sich die Partei Erdogans, "der wichtigste Flügel des politischen Islam zu einer demokratischen Reformpartei" gewandelt. Der Hemmschuh für die Pluralisierung des Landes sei jedoch die säkulare Staatselite, die ihren Machtverlust nicht hinnehmen möchte und sich mit dem Hinweis, die Türkei sei unter Erdogan im Begriff, ein islamischer Staat zu werden, erbittert zur Wehr setzt.
Schon in der Einleitung bezieht Hermann eindeutig Position, wenn er schreibt: "In der Türkei ist … weder der Säkularismus in Gefahr, noch droht irgendeine Version von Islamismus." Dies will er durch sein Buch belegen. Nach der Lektüre erscheinen seine Einschätzungen der Verhältnisse in weiten Teilen auch plausibel. Denn ohne Frage hat die Türkei in den vergangenen Jahren hinsichtlich Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Pluralismus beachtliche Fortschritte gemacht. Überzeugend ist auch die große Dichte an Fakten und Erläuterungen, mit der der Islamwissenschaftler und Ökonom seine Analyse unterfüttert.
Doch für manche kritische Betrachtung bietet der Autor zu wenig Raum. So sind es vor allem die Frauen in den urbanen Zentren, die vielleicht den Preis für den Aufstieg der AKP zu zahlen haben: Wenn nämlich ihre bisherigen Freiheiten und ihr westlich geprägter Lebensstil durch den konservativen Sittenkodex der Anhänger Erdogans zurückgedrängt würde. Ist nicht die Gefahr groß - wenn überall das Kopftuch erlaubt ist und die Mehrheit der Frauen dieses womöglich trägt - dass der Druck auf jene leicht übermächtig wird, die ihr Haar unbedeckt lassen möchten? Das wäre zumindest die naheliegendste Erklärung für die Unversöhnlichkeit, mit der die Debatte in der Türkei geführt wird.
Im dritten Teil "Hypotheken und Reichtümer" beleuchtet Hermann schließlich die Probleme der Minderheiten, die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sowie die Gewalt in der Gesellschaft. Dabei geht er unter anderem auf den Mord an Hrant Dink, die so genannten "Ehrenmorde" als auch auf das Phänomen des "tiefen Staates" ein. Letzterer wird durch die Existenz paramilitärischer Einheiten geprägt, auf deren Konto eine ganze Reihe politischer Morde gehen.
Beide Türkei-Bücher entstammen aus der Feder intimer Kenner des Landes. Der Text von Rainer Hermann richtet sich vor allem an ein Fachpublikum oder all jene, die die Muße haben, sich intensiver mit der Türkei auseinanderzusetzen. Jürgen Gottschlichs knappere und buntere Publikation deckt dagegen eher die Bedürfnisse eines breiteren Lesepublikums ab und ist auch für Einsteiger geeignet.
Jürgen Gottschlich:
Türkei. Ein Land jenseits der Klischees.
Ch. Links Verlag, Berlin 2008; 216 S., 16,90 ¤
Wohin geht die türkische Gesellschaft? Kulturkampf in der Türkei.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2008; 315 S., 14,90 ¤