RAF-Terrorismus
Stefan Aust präsentiert eine Neuauflage seines Standardwerkes
So viel Aust war nie: Auch wenn der Journalist immer einer der wichtigen Medienmenschen dieses Landes war, gab es kaum eine Zeit, in der Stefan Aust so präsent war wie in den vergangenen zwölf Monaten. Erst gab der "Spiegel", dessen Chefredakteur er seit 1994 war, seine Kündigung bekannt, dann legte Aust eine Neuauflage seines Buchs "Der Baader-Meinhof-Komplex" vor. Ende September lief in den Kinos die Verfilmung eben jenes Buchs an, begleitet von viel Medienrummel und unzähligen Interviews und Talkshows, in denen Aust einmal mehr dazu befragt wurde, wie er die Zeit des RAF-Terrorismus erlebt hat.
Der 62-jährige Hamburger ist zu dem RAF-Experten der Bundesrepublik avanciert, und so verwundert es auch nicht, dass ihm dabei die Bescheidenheit abhanden gekommen ist: Mit "Das Standardwerk" ist sein Buch untertitelt, es enthalte, so der Verlag Hoffmann und Campe stolz, "alle Fakten" und "alle Details". Anders als in der Erstauflage von 1985 enthält der fast 900-seitige Band zudem rund 150 Fotos. Auf ihnen ist die polizeiliche Gegenüberstellung einer protestierenden Ulrike Meinhof ebenso zu sehen wie der Tatort der Schleyer-Entführung und die Leichen von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe im Stammheimer Gefängnis.
Aust hat auch eine Skizze der geheimen Sprechanlage der inhaftierten RAF-Terroristen gefunden. Die allein wäre bereits interessant, aber seine Ergänzungen zu diesem Thema insgesamt sind die wichtigste Neuerung seines Buches. Erst im vergangenen Jahr hatte der "Spiegel" nach Recherchen von Aust über ein bis dahin geheim gehaltenes Dokument des baden-württembergischen Innenministeriums berichtet, das Belege dafür bietet, dass das Landeskriminalamt die Gefangenen öfter belauscht hat als bislang zugegeben.
Für Aust spricht "alle Wahrscheinlichkeit" dafür, dass "auch während der Schleyer- und der ,Landshut'-Entführung die Gespräche der Gefangenen über die Kommunikationsanlage" zwischen ihren Zellen mitgeschnitten wurden - und wenn nicht, müsse man "sich fragen, warum nicht". Denn dann wäre auch die Verabredung der Terroristen zum Selbstmord abgehört und aufgezeichnet worden. Doch was auf den Bändern zu hören ist und was die Beamten taten, als sie es hörten, sind Fragen, auf die Aust weder vom Bundesinnenministerium noch vom Bundesnachrichtendienst, dem Bundeskriminalamt oder dem baden-württembergischen Innenministerium Auskünfte bekommen hat. "Die Antwort war immer die gleiche: Es gebe keine Akten mehr über die Abhörmaßnahmen in Stammheim."
Aust legt jedoch nicht nur Widersprüchlichkeiten und Merkwürdiges bei den staatlichen Stellen offen, sondern korrigiert auch das bisher größte Manko seines Buches: In den beiden vorhergehenden Auflagen distanzierte er sich nie so deutlich von der These, die RAF-Terroristen seien vom Staat ermordet worden. Daran, dass sie im Oktober 1977 gemeinschaftlichen Selbstmord begangen haben, lässt er in der Neuauflage nun keinerlei Zweifel mehr.
Gravierende Pannen bei den staatlichen Stellen werden auch an anderer Stelle belegt: So schreibt Aust, dass sich bei den Ermittlungen zur Schleyer-Entführung bereits am ersten Tag Chaos angebahnt habe. Die Führung der Ermittler und deren Kommunikationswege seien völlig undurchsichtig gewesen: "Die Katastrophe war programmiert." Nicht einmal 48 Stunden nach der Entführung sei man der Wohnung, in der Schleyer gefangen gehalten wurde, ganz nah gewesen, dem Hinweis aber nicht mehr nachgegangen.
Der "Baader-Meinhoof-Komplex" besticht durch die enorme Detailfülle - und krankt daran gleichermaßen. Der Band ist stellenweise überfrachtet mit Informationen, die in ihrer Fülle schwer zu verarbeiten sind. Verzichtbar wird er dadurch allerdings nicht - im Gegenteil. Wie schon 1985 gilt auch heute: Wer wissen will, wer die RAF war, muss Aust lesen.
Der Baader-Meinhof-Komplex.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2008; 896 S., 26 ¤