Ost-Anatolien
Der Brite Christopher de Bellaigue erzählt die Geschichte von Türken, Armeniern, Aleviten und Kurden
Der Brite Christopher de Bellaigue lebt bereits seit 13 Jahren im Orient. Der Cambridge-Absolvent studierte Islamwissenschaften und beherrscht neben Persisch die türkische Sprache fließend. Jahrelang hatte er aus der Türkei berichtet, bevor er nach Teheran umzog. Dort lebt er zurzeit zusammen mit seiner iranischen Frau und den gemeinsamen Kindern.
So eng fühlte sich der Journalist allem Türkischen verbunden, dass er sich selbst als Türken bezeichnete. Um Land und Leute besser kennen zu lernen, entschied er sich, zeitweise in der ost-anatolischen Stadt Varto zu leben. Wie Orhan Pamuks Held in dessen Roman "Schnee" bereiste auch Christopher de Bellaigue die entlegenen Dörfer, wo er mit der türkischen Geschichte konfrontiert wurde. Seine Studienreise unterbrach er nur für weitere Recherchen im Irak, in Deutschland und in Armenien.
De Bellaigue räumt ein, er habe sich früher vom orientalischen Charme Istanbuls blenden lassen. Nachdem er sich intensiv mit der Geschichte und der Politik des Landes auseinandergesetzt hat, distanziert sich der Journalist von seinem selbstgewählten "Türkentum". Denn das, was er in Varto über die türkische Geschichte erfahren hat, rüttelt ihn auf. Seine Erfahrungen und Erlebnisse verarbeitet er in "Rebellenland". Ohne falsche Rücksichtnahme beschreibt der Autor, wie er sich von der offiziellen Geschichtsschreibung der Türkei jahrelang hatte täuschen lassen. Jetzt kommt die Korrektur.
Besonders heikel ist die Erwähnung des Völkermords an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges, ein immer noch wohl gehütetes Tabuthema in der Türkei. "Armenier? Hatten wir nie." Unerschrocken erkundigt sich der Journalist in vormals armenisch besiedelten Ortschaften, ob sich die heute dort lebenden Kurden und Türken noch an die früheren Einwohner erinnern. Ihre Spuren - oftmals bezeugen nur noch die Ruinen der armenischen Kirchen die Existenz ihrer Erbauer - haben die Jahrzehnte überdauert.
Der Autor zeichnet die Politik der jung-türkischen Regierung nach und lässt jene Geschichtsfälscher zu Wort kommen, die behaupten, ein Völkermord an den Armeniern habe nie stattgefunden. Allenfalls hätten "die wilden Kurden" ein paar Tausend Armenier umgebracht. Kritisch hinterfragt er die "Geschichte der Sieger", die von "undankbaren Armeniern" zu berichten weiß, die angeblich glücklich und zufrieden im Osmanischen Reich gelebt hätten, bis sie sich zu "Verrätern" an der türkischen Nation entwickelten. Deshalb habe man sie "umgesiedelt". Den Völkermord an bis zu 1,5 Millionen Armeniern rechtfertigt die offizielle türkische Geschichtsschreibung bis heute mit dieser "Dolchstoß- legende".
Christopher de Bellaigue berichtet, wie die staatliche Propaganda der Bevölkerung seit den 1920er-Jahren ihren nationalistischen Stempel aufdrückte. Die Historiker des Landes folgen bis heute der offiziellen Geschichtsschreibung von Präsident Kemal Atatürk, indem sie die türkische Besiedelung Kleinasiens vordatieren. Dadurch wird der türkischen Nation eine deutlich ältere Geschichte zugesprochen. Auch die Existenz eines kurdischen Volkes wurde jahrzehntelang geleugnet.
Als die Armenier nach dem Ersten Weltkrieg "verschwunden" waren, siedelten sich in Varto Aleviten und Kurden an, die ihrerseits vom türkischen Staat bedrängt und unterdrückt wurden. Ausführlich erklärt der Journalist, wer die Aleviten sind, warum sie keine Kurden sein wollen und warum sich die Kurden, die Zazaisch und Sorani-Kurdisch sprechen, mit den Kurmandschi sprechenden Kurden nicht gut verstehen. Erst die kurdische Linke erreichte in den 1970er-Jahren eine Einigung des Kurdentums. Daneben trug die repressive Politik der türkischen Militärs entscheidend zur Herausbildung des kurdischen Separatismus bei.
Kenntnissreich erläutert de Bellaigue die Entstehung des kurdischen Nationalismus und die Aktivitäten der Apoisten, der von Abdullah Öcalan geführten PKK. Und der Journalist erklärt, warum Öcalan - mit Billigung und unter Aufsicht der türkischen Regierung - aus dem Gefängnis heraus die PKK weiter kontrollieren kann. Um seine Thesen zu belegen, verweist er auf konkrete lokale Entwicklungen und persönliche Schicksale.
In der Tradition der "Oral History" erzählt Christopher de Bellaigue die Geschichte der modernen Türkei. Auch wenn sein Stil oft langatmig erscheint, sein Buch ist eine bis in die Details korrekte Darstellung des türkischen "Ostens". Gleichwohl ist es nicht immer einfach, dem Autor zu folgen, denn er hat eine wahre Flut von Namen und Familiengeschichten zusammengetragen, um die wechselhafte Vergangenheit von Varto zu erzählen. Während er das Schicksal der Menschen nachzeichnet, verliert der Leser mitunter den Überblick und fragt sich: Wer war wer? Andererseits ähnelt dieses journalistische Meisterwerk der Arbeit eines Chronisten, der die Zeitgeschichte akribisch dokumentiert. Insgesamt ist Christopher de Bellaigue ein ehrliches Buch über die Türkei gelungen.
Rebellenland. Eine Reise an die Grenzen der Türkei. C.H. Beck Verlag, München 2008; 330 S., 19,90 ¤