Güner Yasemin Balci
Die Journalistin erzählt in »Arabboy« die Geschichte von Rashid A. und seiner von Gewalt bestimmten Jugend. Ihr Roman verarbeitet auch eigene Erfahrungen
Rashid A., Sohn einer libanesisch-palästinensischen Familie, lässt keine Gewalttat aus: Er schlägt zu, wo er kann; wann immer es geht, lässt er sich dabei mit dem Handy filmen. Er ist ein "Mega-Checker" unter seinesgleichen. Nahezu minütlich wird der Leser Zeuge krimineller Delikte: von Diebstahl, Raub, Körperverletzung, Hehlerei, Drogenhandel, Vergewaltigung. Sieht so allen Ernstes die Realität aus?
Natürlich habe ich meine Beobachtungen aus vielen Jahren verdichtet. Aber wenn Sie fragen, ob es nicht möglich gewesen wäre, ein paar "lichtere Gestalten" in die Geschichte einzufügen, Menschen, die das Gegenteil von Rashid und seinen Kumpels sind: Nein. Aus dem einfachen Grund, weil es solche Leute im Leben dieser Jungs nicht gibt.
Wie würden Sie das, was das Leben dieser Jungindlichen stattdessen ausmacht, in Kürze beschreiben?
Rashids Leben ist vor allem von Gewalt geprägt - schon als Kind wird er mit einem Stromkabel ausgepeitscht. Außer Gewalt erlebt er in seiner Familie viel Frustration und eine ständige depressive Grundstimmung. Lustige Momente sind selten; und was er und seine Freunde witzig finden, können andere Menschen überhaupt nicht nachvollziehen. Sie sind gescheiterte Existenzen...
...jung gescheitert...
Ja. Im Prinzip merken Kinder wie Rashid schon in der Grundschule, dass es zwei Welten gibt: eine, in der Kinder von ihren Eltern betreut und versorgt werden, und ihre, in der sich niemand kümmert und die keine sozialen Aufsteiger kennt. Häufig resignieren diese Kinder schon mit zehn Jahren. Sie sehen, dass sie in der falschen Welt leben und bemühen sich gar nicht erst, die andere zu erreichen. Und sie suchen sich eine Clique, die ihr Schicksal teilt...
In der es dann nur um eins geht: um Macht?
Für die Jugendlichen geht es vor allem ums Überleben, in der Familie wie auf der Straße. Zuhause ist das Überleben nicht so schwierig - dort hat jeder seinen Rang sicher. Auf der Straße aber muss ständig gekämpft werden; jeder muss dort dauernd seine Position sichern und möglichst verbessern. Es sind auch keine Freundschaften, die diese Jugendlichen verbindet, sondern das ständige Gerangel um Rang und Einfluss. Wer Schwäche zeigt ist raus.
Seinen Rang sichert man mit permanenten Gewaltexzessen?
Ich weiß, dass sich das für Leser extrem anhört - es ist ja auch extrem. Aber für die Jugendlichen, von denen das Buch handelt, ist das Alltag. Natürlich wird nicht jedem jeden Tag die Nase gebrochen - aber jeder rechnet jeden Tag damit, eine reingehauen zu bekommen oder selbst jemandem eine reinhauen zu müssen. Das ist ganz gewöhnlich. Der Stärkere gibt den Ton an. Sobald seine Stärke bezweifelt wird - was ständig vorkommt, kommt es zum Rivalitätskonflikt.
Was drückt sich in diesem ständigen Kampf aus? Die arabische Herkunft ja wohl kaum.
Überhaupt nicht, nein. Es ist ein Milieu, das sich da Bahn bricht, das, was man Unterschicht nennt. Die gab es schon immer, aber heute und in Gegenden wie im Rollberg-Kiez in Berlin ist die Qualität noch mal eine andere. Und tatsächlich hat man es im Rollbergviertel mit seinen mehreren tausend arabischen Familien mit einer unterprivilegierten und doch ethnischen Gruppe zu tun. Die meisten, die dort leben, sind Flüchtlinge, die sich seit Jahrzehnten ohne Perspektive von Duldung zu Duldung hangeln. Sie hatten noch nie das Gefühl dazuzugehören - und irgendwann wollen sie es auch gar nicht mehr. Man darf nicht vergessen: Auch diese Menschen haben einen Stolz. Der wird oft mit Füßen getreten. Ihre Kinder kämpfen zudem mit enorm schlechten Bildungs- und Berufschancen. Für eine Generation mit so schlechten Aussichten ist das schnelle Geld natürlich verlockend.
Welchen Einfluss haben die Eltern auf ihre Kinder? Man stellt sich vor, dass in islamischen Familien mit starker Hand regiert wird und Exzesse verhindert werden können.
In den Heimatländern ist das auch so. Aber in Berlin ist der Grad der Entwurzelung so groß, dass diese Struktur nicht hält. Die meisten Familien versuchen schlicht, sich irgendwie durchs Leben zu kämpfen. Solange bis es irgendwann vorbei ist. Dann lassen sie sich mit dem Sarg in die Heimat schicken. Nur die wenigsten sind hier angekommen.
Welche Rolle spielt denn der Islam?
Eine große. Wer sich entwurzelt fühlt, zieht sich schnell auf Tradition und Religion zurück. Viele Familien werden erst in Deutschland praktizierende Muslime - zu Hause haben sie nie einen Grund gehabt, den Koran zu Rate zu ziehen. Auch unter den Jugendlichen hört man die Floskel "Ich bin Moslem" ständig.
Und wie sieht das aus? Rumhuren, saufen, Drogen nehmen...
...Moslem-Sein, aber richtig! Fast jeder Jugendliche hat die Idee, eines Tages den Weg zum richtigen Islam zu finden. Wenn Schulabschluss und Beruf nicht in Sicht sind, wird die Pilgerfahrt nach Mekka als Lebensziel bemüht. Das ist eine gefährliche Tendenz. Wenn die deutsche Gesellschaft diesen Jugendlichen keine Chance bietet, dann tut es der politische Islam in irgendeiner Hinterhofmoschee. Seit ein paar Jahren treten immer mehr radikale Jungprediger in den Kiezen auf - mit großem Einfluss und hohem Ansehen.
Eins der erschreckendsten Bilder in Ihrem Buch ist das abwertende Frauenbild, das die Jungen im Kopf haben.
Ja, das hat mich auch am meisten erschüttert - vor allem, als ich zwischen diesen Jungs erwachsen wurde. Letztlich ist es so: Wenn man als Frau in diesem Milieus überleben möchte, ist man permanent auf einer Gratwanderung. Ständig muss man darauf achten, sich richtig zu verhalten, nicht zu freizügig zu sein und sich dennoch nicht einschüchtern zu lassen. Wer Kontakt zu dieser Szene hat, muss sich ständig bewähren. Sonst wird man fertig gemacht.
Hatten Sie Kontakt zu dieser Szene?
Ich habe versucht, ihn zu vermeiden. Das ging aber nicht vollständig, weil ich in dem Viertel gelebt habe. Ich hatte zum Beispiel einen deutschen Freund - und musste ständig auf der Hut sein, damit meine Beziehung nicht an die Öffentlichkeit gerät.
Nun enden ja nicht alle Jugendlichen wie Rashid. Wie kommen die dort raus?
Hilfreich ist es, in einer Familie groß zu werden, die nicht von Gewalt geprägt ist. Dass erst seit neuestem auch türkische und arabische Medien dieses Thema überhaupt ansprechen, ist ein überfälliger Schritt. Ansonsten habe ich den Eindruck: Wer dieser Szene entflieht, hat schon als Kind versucht, sich an Freunde zu halten, die nicht so viel Gewalt erlebt haben, und die Entscheidung getroffen: In diesem Milieu möchte ich nicht alt werden. Ganz wichtig ist auch, Zugang zu Vorbildern zu haben; zu Menschen, die es geschafft haben. Ich stehe bis heute in Kontakt mit Jugendlichen, die sich jahrelang an mir orientiert haben. Sie haben gesehen: Die hat es geschafft. Das will ich auch.
Die Sozialarbeiter, die Sie schildern, taugen kaum als Vorbilder: Statt Grenzen zu setzen, lassen sie sich instrumentalisieren, organisieren Erlebnisreisen, bei denen sie sich vor "ihren" Jugendlichen fürchten und finden sich am Ende an den Stuhl gefesselt wieder. Das kann es doch nicht sein.
Das ist in der Tat ein Riesenproblem. Wenn Einrichtungen denken, sie könnten mit Intensivstraftätern klassische Jugendarbeit machen, geht das gründlich schief. Mit einer warmen Hütte, ein paar Joysticks und einem offenen Ohr kann man diese Jugendlichen nicht retten, im Gegenteil: Man liefert sich ihnen aus. Und man vernachlässigt alle, die sich gegen die Rashids dieser Welt nicht durchsetzen können. Sie sind es, die Räume bräuchten. Bei Intensivtätern gilt für mich klar: Sie brauchen keine Wärmestuben auf dem Weg in den Knast.
Im Gefängnis landen viele dieser Jugendlichen früher oder später. Wie kommen sie da wieder raus? Geläutert und friedfertig?
Einige kommen so raus, wie sie rein gegangen sind, eher noch gewalttätiger. Das sind die Kiezgrößen von morgen, die Schutzgeld- und Drogenmilieus unter ihre Kontrolle bringen und unter sich aufteilen. Das schaffen aber die wenigsten. Viele Jugendliche kommen aber im Gefängnis auch ein bisschen zur Ruhe und führen hinterher, wenn sie erwachsen sind, ein friedlicheres Leben. Viele heiraten mit Mitte 20 und gründen eine Familie. Dann kann man nur hoffen, dass sie an ihre Kinder etwas anderes weitergeben als sie selbst erlebt haben. Sicher bin ich da aber nicht.
Eine gängige Alternative zum Knast lautet: Abschiebung.
Die führt für viele dann allerdings geradewegs in einen Horrortrip. Ich habe noch im Sommer einen abgeschobenen Jungen in der Türkei getroffen. Er ist völlig durchgedreht, hat das ganze Dorf terrorisiert. Jetzt sitzt er in der Nervenklinik. Man muss sich vorstellen: Diese Jugendlichen haben überhaupt keinen Zugang zu der Heimat ihrer Eltern. Sie werden in Länder geschickt, in denen sie nie waren. Genau so gut könnte man sie nach Bangladesch abschieben.
Das heißt, sie haben auch ohne deutschen Pass das Recht, hier zu bleiben und Neukölln zu tyrannisieren?
Wissen Sie was? Wenn jemand fordert, kriminelle Jugendliche abzuschieben, fühle auch ich als Deutsche mit türkischen Eltern mich diskriminiert. Für mich sind diese Jugendlichen so deutsch wie ich. Sie sind hier aufgewachsen und wenn sie schwierig sind, müssen wir uns dem stellen. Die Gesellschaft ist für jeden, der hier lebt, verantwortlich - egal ob er ein sozialer Aufsteiger oder ein Intensivtäter ist. Wir können nicht sagen: Den einen behalten wir - den anderen schieben wir ab.
Frau Balci, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Jeannette Goddar
Arabboy.
Eine Jugend in Deutschland oder das kurze Leben des Rashid A.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2008; 288 S., 14,90 ¤