Weltkriege
Enzo Traverso über den Ungeist einer Epoche
Der Historiker Eric J. Hobsbawm nannte die gewalttätig-krisenhafte Zeit von 1914 bis 1945 in Europa einen "internationalen ideologischen Bürgerkrieg", einen tödlichen Kampf, in dem die "entscheidenden Grenzen (...) zwischen zwei ideologischen Familien" verliefen: "Auf der einen Seite die Nachkommen der Aufklärung des 18. Jahr-hunderts und der großen Revolutionen, wozu natürlich auch die Russische Revolution gehörte; auf der anderen Seite alle ihre Gegner" inklusive der Faschisten. Tatsächlich hatte Goebbels, nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 getönt: "Damit wird das Jahr 1789 aus der Geschichte gestrichen."
Der Politikwissenschaftler Enzo Traverso zeigt in seinem Buch, dass neben der von Hobsbawm genannten Konfliktlinie auch nationalistische Frontstellungen, soziale Klassengegensätze, ethnische Feindschaf-ten, Rassismus und Antisemitismus jenes ideologisch aufgeladene, gewaltträchtige Gemenge von Konflikten hervorbrachte, für das er im Anschluss an Ernst Nolte und andere die Bezeichnung "europäischer Bürgerkrieg" gebraucht. Denn diese grausamen, regellosen kriegerischen Konflikte umfassten Soldaten, Freischärler und Zivilbevölkerung gleichermaßen und ähnelten damit dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), der von Traverso als Präzedenzfall des europäischen Bürgerkriegs des 20. Jahrhunderts angesehen wird.
Mit dem Ersten Weltkrieg kommt eine neue, schreckliche Dimension hinzu, der technische Massenvernichtungskrieg mit Millionen Toten und zigtausend verstümmelten Krüppeln. Ein solcher Krieg hatte nichts mehr mit den vorangegangenen Auseinandersetzungen und ihren vergleichsweise "zivilisierten" Regularien der Kriegsführung zu tun. Die Erfahrung dieses totalen Kriegs schürte die Angst, den Hass und die Rachsucht der europäischen Völker.
Der Staatsrechtler Carl Schmitt unterschied in seiner Schrift "Corollarium 2" zwischen "Turnier-, Kabinetts- und Duellkriegen" einerseits, bei denen der Begriff "Feind" im Sinne "des zu Hassenden" eigentlich keine Rolle spielt, und dem "totalen" Krieg andererseits, bei dem es um ein Vernichten und Verdammen des "Feindes" geht, mit dem kein Frieden und keine Versöhnung gewollt wird; er bleibt Feind, auch wenn die Kampfhandlungen aufgehört haben, schreibt Schmitt 1938 und stellt für seine Zeit fest: "Feind ist heute im Verhältnis zu Krieg der primäre Begriff."
Auch Enzo Traverso hebt in seinem Buch den erklärungsmächtigen Denkansatz Carl Schmitts für ein richtiges Verständnis der in Hass und Gewalt verstrickten Zeit von 1914 bis 1945 hervor. Er referiert Schmitts Abhandlung "Ex Captivitate Salus" (1949), wo die Grausamkeit und Unversöhnlichkeit des Bürgerkriegs thematisiert wird. Demnach kennt die revolutionäre Justiz nur ein Gesetz: das absolute Ins-Unrecht-Setzen und Vernichten des Gegners - wofür die diversen Revolutionen, Konterrevolutionen und "Säuberungen" genügend Beispiele liefern.
Traverso schreibt, dass er bei Carl Schmitt "den Entwurf einer Anatomie des Bürgerkriegs als grausamer Konflikt" findet, "in dem keine Regeln mehr gelten. Es ist dies eine ziemlich genaue Beschreibung der Auseinandersetzungen, die Europa zwischen 1914 und 1945 zerrissen", betont er und weist wenig später auch auf Leo Trotzkis Schrift "Geschichte der Russischen Revolution" (1931/1933) hin. Der entwickelte dort eine ähnliche Theorie des Bürgerkriegs wie Carl Schmitt, freilich im Rahmen einer marxistischen Begrifflichkeit.
Enzo Traverso ist mit seinem Buch etwas ganz Außerordentliches, ja Großes gelungen. Er hat den Geist oder besser den Ungeist der Epoche zwischen 1914 und 1945 in exemplarischer Weise erfasst. Es wird deutlich, dass die mannigfachen politisch-ideologischen Kräfte der Feindschaft und des Hasses Europa als Zivilisations- und Kulturgemeinschaft beinahe zerstört hätten. Ein ganz wichtiger Beitrag für unser europäisches Bewusstsein.
Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914 - 1945.
Siedler Verlag, München 2008; 400 S., 24,95 ¤