Stasi
Christhard Läpple hebt den Schleier des Vergessens
Wer in diesen Tagen daran geht, das verbrecherische System der Staatssicherheit der DDR aus der Perspektive der Täter zu erzählen, muss schon Mut haben. Oder aber, wie Christhard Läpple, sehr viel Ahnung vom Thema. Denn nur so entgeht auch der kritischste Autor den Entschuldungsstrategien der Systemschergen von einst, die sich in diesen Tagen wieder offensiv ihrer Biografie als "Kundschafter des Friedens" erinnern.
Schon der Titel des Bandes, den der ausgewiesene Kenner der Aktenschränke in den Kellern der Stasi-Unterlagenbehörde jetzt vorlegt, ist bemerkenswert: "Verrat verjährt nicht", heißt es da apodiktisch - und so spielt der Autor mit dem doppelten Bedeutungshorizont des Wortes "Verrat". Denn für einen MfS-Obristen, einen die eigene Familie ausspionierenden IM, für einen Freund, der die Flucht seines Freundes verriet, für die Agentin, die sogar ihr kleines Kind zurückließ, um in der Bundesrepublik zu spionieren - für alle diese Treuesten im sozialistischen System wäre "Verrat" doch wohl eher gewesen, den Verrat an Freunden, Eheleuten, Kindern oder Bekannten nicht zu begehen. Dass es eine moralische Grundkategorie gibt, die durch kein subjektivistisches System der Welt umgedeutet werden kann, ist die Grundlage dieses Buches.
Läpple präsentiert das Extrakt einer jahrelangen Recherche für das ZDF. Am Ende sind sechs von eintausend recherchierten Biografien zu lesen. Da trifft man auf den Weimarer Kulturfunktionär, der perfekt die Wünsche westlicher Medien zu bedienen weiß, den Stasi-Mann, der sich als Bote zwischen den Systemen auch heute noch verdammt groß vorkommt, die junge Agentin, die in das Innenleben der Bonner Republik eindringen soll, versagt und hat am Ende ihr altes Leben, einschließlich ihrer Familie, verloren. Irritierend ist nur, dass nicht nur Opfer- sondern auch Täternamen konsequent anonymisiert werden. Dies ist umso erstaunlicher, als dass die Klarnamen mancher Täter längst öffentlich bekannt und leicht zu recherchieren sind. Und dass alle sechs Biografien aus der DDR stammen, jedoch keiner der tausenden Westdeutschen, die der DDR aus freien Stücken dienten, nachgezeichnet wird, verwundert nicht weniger.
Gleichwohl: Der Autor lässt das System Staatssicherheit und die Motive der Handelnden tatsächlich greifbar werden. Seine Sprache ist zurückhaltend, zuweilen bis zur Schmerzgrenze, etwa wenn er angesichts der Prügel- und Verhaftungsorgie der Staatsorgane 1989 in Dresden über die "überforderten" Volkspolizisten notiert: "In Aufruhrbekämpfung ungeübt, nehmen sie wahllos Menschen fest, darunter auch Unbeteiligte."
Aber der gedämpfte Ton lässt Raum für eigenes Erzählen der Täter. Läpple konfrontiert sie mit ihren eigenen Spitzelberichten. Die gut verschüttete Vergangenheit bricht wieder auf und das folgende Sich-Erinnern-Müssen begleitet er spannend und präzise.
Läpple geht den Reden vom "gelebten Leben" nicht auf den Leim, er begnügt sich nicht mit den Schnurren um Geheimverhandlungen zwischen angeblichen MfS-Reformern und Gorbatschow-Treuen, er hebt vorsichtig, aber konsequent all die Schleier, die den Blick auf ein verbrecherisches Regime verhängen sollen. Der Leser erfährt erschütternde Details aus der Anwerbung und der Schulung jener Menschen, die die Treue zur Partei über alles stellten. Er erfährt viel über soziale und biografische Hintergründe, auch über Erpressung, Selbstüberschätzung. Und Läpple bleibt nicht in der Perspektive der Täter stehen, ihre Opfer kommen immer wieder zu Wort.
Schon aufgrund des speziellen Auftrags Läpples ist es einleuchtend, dass er detailliert über Operationen gegen westliche Journalisten in Ost-Berlin zu berichten weiß. Die Dimension der Bearbeitung dieses "feindlichen Senders" wird schon angesichts der fast 700 Ermittlungsverfahren deutlich, die die DDR gegen ihre Bürger wegen Kontaktaufnahme einleitete. Der Überblick über die psychologische Kriegsführung der DDR, die "mit den Mechanismen der westlichen Mediengesellschaft kalkulierte", gibt den Blick frei auf den operativen Überbau der einzelnen Biografien. Es war eine Struktur des Verrats - vor allem dann, wenn es darum ging, das Leben von Menschen zu "zersetzen".
Verrat verjährt nicht. Lebensgeschichten aus einem einst geteilten Land.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2008; 345 S., 19,90 ¤