90. Geburtstag
Eine aufschlussreiche Zeitreise durch die Geschichte der Republik Österreich
Die Euro 2008 hatte noch nicht begonnen, da konnte man im Gastgeberland bereits auf allen Straßen hören: "Vorbeisein ist alles!" Mochten andere um den Meistertitel im Fußball kämpfen, Österreich beschränkte sich wieder mal auf seine Rekordlerrolle im Niedergang. Dabei passte das Motto nicht nur auf die Elf um Trainer Josef Hi-ckersberger. Seit dem Ende der Habsburger scheint eine Verfallsstimmung über der Alpenrepublik zu liegen. Kaiser Franz Josef hatte für dieses Dekadenzgefühl die Richtung vorgegeben. Im Jahr 1914, als es galt, das Kaisertum gegen Separatisten auf dem Balkan zu verteidigen, gab der Kaiser ein gefährliches Kommando aus. Von nun an, so der 84-jährige Thronregent, ginge es darum "anständig zugrunde zu gehen".
Die Republik Österreich, jener Restbestand, der von der Donaumonarchie nach Ende des Weltenbrandes noch übriggeblieben war, folgte der kaiserlichen Marschroute selbst da noch, als in Schönbrunn längst die Lichter ausgegangen waren. Auch heute präsentiert sich das Alpenländle gern als vormoderner Mix aus Morbidität und Müßiggang. Dickköpfig, wie einst der Freiheitskämpfer Andreas Hofer, stemmt man sich gegen alles, was nach zuviel Veränderung riecht. War der Erbfeind "Altösterreichs" einst der Modernisierer Napoleon, so ist es nun der EU-Erneuerer José Manuel Barroso. Erst heuer, als in Wien die Große Koalition unter hysterischem Theaterdonner auseinanderbrach, da verlief die Bruchlinie exakt entlang der europäischen Frage. Denn egal ob die rechten Freiheitlichen oder die scheinbar allmächtige "Kronen-Zeitung": Im Ernstfall, da scheint in Österreich ein großer Chor in eine historische Melodei einzustimmen. Kurt Schuschnigg, letzter Kanzler des Ständestaates, hatte sie einst vorgesummt: "Bis in den Tod Rotweißrot."
Es scheint ein historischer Druck zu sein, der auf der Republik mit dem Doppeladler lastet. Zuweilen gibt er dem Land ein gezuckertes Antlitz aus Unschuld und Gemütlichkeit, zuweilen presst er diesen Liebreiz zu einer chauvinistischen Fratze zusammen. Verstehen kann man das zuweilen auch in Österreich selber nicht. Die beiden Wiener Historiker Hannes Leidinger und Verena Moritz haben daher in ihrem Buch "Die Republik Österreich 1918/2008" eine aufschlussreiche Zeitreise unternommen. 90 Jahre nach Ausrufung der Ersten Republik und 70 Jahre nach dem schaurig umjubelten Empfang Hitlers auf dem Heldenplatz haben die beiden Autoren wichtige historische Eckdaten nach ihrer Bedeutung für das nationale Selbstverständnis abgeklopft.
Das wesentliche Ergebnis ihrer essayistischen Tiefenbohrung: "Der österreichische Patriotismus kommt ohne Verfassung aus." Machte in der benachbarten Bundesrepublik seit dem Historikerstreit das Wort vom "Verfassungspatriotismus" die Runde, so herrsche in Österreich in dieser Frage nur "nationale Wurschtigkeit". Weder das Ende des Zweiten Weltkriegs noch der Staatsvertrag von 1955 hätten nach Meinung der beiden Autoren in der Alpenrepublik zu einer Diskussion über die Fundamente des Systems geführt. Im Gegenteil: Bis heute ruhe die Zweite Republik in weiten Teilen auf jenem Bundes-Verfassungsgesetz, das 1920 von der Nationalversammlung beschlossen worden sei. Selbst zahlreiche Beschränkungen aus der Zeit des Austrofaschismus fänden hierin noch einen Wiederhall.
Die Gegenwart wird aus der in Österreich angeblich stets besseren Vergangenheit gestaltet. So kommt es nicht von ungefähr, dass Geschichts- und Erinnerungspolitik ein hitzig umstrittenes Terrain sind. Dabei geht es nach Leidinger und Moritz nicht nur um die Bewertung jenes Märztages 1938, an dem Adolf Hitler "den Eintritt seiner Heimat in das Deutsche Reich" vermeldete, sondern genauso um die dem "Anschluss" vorgelagerte Zeit des Austrofaschismus.
An der Bewertung der diktatorisch geführten Regierung von Dollfuß und Schuschnigg scheiden sich bis heute Geister und Parteien. Während viele Bürgerliche im "halb braun gebrannten" Ständestaat noch immer den letzten Garanten der österreichischen Souveränität erblicken, ist er besonders für Sozialdemokraten nur bitterer Vorgeschmack auf das Kommende gewesen. Leidinger und Moritz gehen in der Bewertung des österreichischen Faschismus sogar noch einen entscheidenden Schritt weiter. Die Tatsache, dass unter Dollfuß "Nazis" wie "Sozis" gemeinsam in den Gefängnissen des Ständestaates eingesperrt gewesen seien, hätte bei Letzteren nach 1945 dazu geführt, dass sie ihre Führungskader mit ehemaligen Nationalsozialisten aufgefüllt hätten. "Die ,Linke' drohte am rechten Auge blind zu werden."
Es sind dies typisch österreichische Begebenheiten, wie sie jenseits der Alpen oft schwer nachzuvollziehen sind. Wer diesen brillant geschriebenen Abriss durch Österreichs jüngste Geschichte liest, der versteht die kleinen Unterschiede zwischen Deutschland und seinem südlichen Nachbarn etwas besser. War die hiesige Sozialdemokratie etwa nach 1945 stets Garant für einen endgültigen Bruch mit der Hitlerei, so wirken in Wien andere Kräfte nach. Kräfte, die 2008 sogar das Unmögliche noch möglich machen können: Eine Koalition aus SPÖ und FPÖ. Noch ist dies in Wien nur politischer Schmäh - ein hypothetischer Vorstoß, in der neuesten Art zugrunde zu gehen. Vorbeisein ist eben immer noch alles in der Alpenrepublik. Einer Republik, die trotz aller eingespielter Hysterie anhaltend agil daherkommt.
Die Republik Österreich 1918/2008.
Deuticke, Wien 2008; 256 S., 19,90 ¤