Biografie
Klaus Kreiser beschreibt das Leben und Wirken Kemal Atatürks in all seinen Facetten
Als Oberlehrer der Nation stellte sich Atatürk in der Provinz persönlich an die Tafel, um seinen Mitbürgern das lateinische Alphabet und das Lesen beizubringen. Wie einst Peter der Große den Bojaren die Bärte persönlich abgeschnitten hatte, so verbot Mustafa Kemal den Frauen den Tschador und den Männern die traditionelle osmanische Kopfbedeckung.
Kemal, der seit 1934 Atatürk ("Vater der Türken") genannt wird und seine Heimat kompromisslos europäisierte, gilt als der Urheber der türkischen Moderne. Die Verdienste des ersten Präsidenten der Republik Türkei, prägen Land und Leute bis heute. Ohne ihn und seine Reformen in der 1920er- und 1930er-Jahren stünde die Türkei heute sicherlich nicht vor den Türen der Europäischen Union und die türkischen Frauen hätten möglicherweise immer noch nicht das Wahlrecht.
Der in Saloniki, also im europäischen Teil des Osmanischen Reiches, geborene Mustafa durchlief eine Offizierskarriere. Über seine französischen Sprachkenntnisse erschlossen sich ihm die europäische Philosophie und Gesellschaftsgeschichte. Der bildungshungrige Offizier stieg rasch auf und machte sich einen Namen durch seinen Einsatz in der berühmten Schlacht um Galli-poli im Januar 1915. Nachdem das Osmanische Reich den Ersten Weltkrieg verloren hatte, stemmte sich Kemal Pascha gegen den weiteren Zerfall des Landes und "rettete" "Rest-Anatolien" für die Türkei. Das Nachsehen hatten Griechen und Armenier.
Wenige Jahre später löste Kemal Pascha das Osmanische Reich auf und gründete 1923 die Republik Türkei. Mit der Abschaffung des Kalifats begann sein Europäisierungskurs: die Umgestaltung der Nation auf der Grundlage des europäischen Wertekanons. Das zurückgebliebene Land mit über 80 Prozent An- alphabeten sollte um jeden Preis modernisiert werden. Deshalb öffnete Kemal die Türkei den Wissenschaften, der europäischen Kultur und importierte das Schweizer Rechtssystem.
Gleichzeitig begann er einen erbarmungslosen Kampf gegen die Herrschaft der Mullahs: Anstelle der Amtssprache, dem Osmanly, ein mit arabischen Buchstaben geschriebenes Osmanisch, führte er das lateinische Alphabet ein. Der Koran erschien fortan auf Türkisch und der Laizismus wurde durchgesetzt. Daneben stellte Kemal die Frauen den Männern gesetzlich gleich. Sie bekamen das Wahlrecht, so dass in der 1930er-Jahren weibliche Abgeordnete im türkischen Parlament saßen. Schließlich förderte er die neue Geschichtsschreibung, die noch heute zu den Fundamenten des türkischen Nationalismus gehört: Danach sind die Türken das älteste Volk der Welt, von Anbeginn der Zeiten in Anatolien ansässig und gründeten die erste Zivilisation überhaupt.
Zum 70. Todestag von Mustafa Kemal, er starb am 10. November 1938 in Istanbul, legt Klaus Kreiser jetzt die erste umfassende deutsche Atatürk-Biografie vor. Der Experte für das Osmanische Reich - von 1976 bis 1980 war er wissenschaftlicher Referent des Deutschen Archäologischen Instituts in Istanbul und bis zu seiner Emeritierung Professor für türkische Sprache, Geschichte und Kultur an der Universität Bamberg - leistete Außerordentliches, um dem türkischen Reformer gerecht zu werden.
Kreiser versteht es, den Leser in die Epoche Atatürks mitzunehmen. Er erfährt viel von dem damaligen kulturellen und politischen Umfeld, von den Diskussionen, die Mustafa Kemal führte, von seinem Leben und Wirken in all seinen Facetten. Dabei helfen ihm die Tagebuchaufzeichnungen und die Erinnerungen von Zeitzeugen, die der Autor akribisch auswertet. Aufgrund dieser umfangreichen Literatur- und Quellenstudien gelingt es ihm, Atatürk, sein persönliches Umfeld und seine Reformen lebendig werden zu lassen.
Es handelte sich unbestritten um eine herausragende Biografie des türkischen Reformers - wenn sie nicht so langweilig geschrieben wäre. Es ist beispielsweise nicht nachvollziehbar, warum die Hochzeit und die Geschichte Latifas, Atatürks Ehefrau, erst am Ende des Buches erzählt wird. Ebenso fehlen Bezüge zur Gegenwart; der aktuelle Machtkampf um Atatürks Erbe in der Türkei spielt bei Kreiser keine Rolle.
Irritierend ist aber vor allem Kreisers Zurückhaltung, wenn es um eine abschließende Bewertung Atatürks geht. Statt dessen fordert er den Leser auf, er möge selbst entscheiden, "welchem Atatürk er zustimmt und welchen er ablehnt". Er setze beim Leser "keine Kenntnisse der türkischen Kultur und Geschichte voraus", um einen "ganz unbefangenen Einblick in die Kontroversen der Atatürk-Forschung" zu ermöglichen. Hat Kreiser keine eigene Meinung zur Person Atatürk? Er ist schließlich der Biograf dieser komplexen und heute in der Türkei nicht unumstrittenen Persönlichkeit. Im Übrigen will der Leser seine Bewertung hören!
Immerhin erwähnt der Historiker die Deportationen und Massaker an den Armeniern. Die Berichte der deutschen Diplomaten über das "armenische Leiden" erwähnt er hingegen kaum. Dabei sind diese Berichte leicht zugänglich in der von Wolfgang Gust veröffentlichten Dokumentation (Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts. Verlag zu Klampen, Springe 2005). Sie belegen das ganze Ausmaß dieser Tragödie.
Atatürk. Eine Biographie.
C. H. Beck Verlag, München 2008; 321 S., 24,90 ¤