Gastland
Die Türkei präsentiert sich unter dem Motto "faszinierend farbig" auf der Frankfurter Buchmesse. Doch in der Türkei müssen Literaten bis heute mit einer nationalistischen Eintönigkeit kämpfen - und mit der Justiz
Ein Gerichtsgebäude am Goldenen Horn in der türkischen Metropole Istanbul wurde im September 2006 zum Schauplatz eines Verfahrens, bei dem es um einen Roman ging - und das in seiner Absurdität auch selbst der Fantasie eines Schriftstellers hätte entspringen können. Angeklagt war die Autorin Elif Safak, gemeint waren ihre Romanfiguren. Heute gehört Safak zu den neuen Stars der türkischen Literaturszene. Zusammen mit mehreren hundert anderen Schriftstellern, Übersetzern, Verlegern, Kritikern und Journalisten wird sie in dieser Woche ihr Land auf der Frankfurter Buchmesse repräsentieren, wo die Türkei in diesem Jahr Gastland ist.
"Türkei - Faszinierend farbig", lautet das Motto, unter dem sich die Türkei präsentieren will. "Wir wollen die Türkei in all ihrem kulturellen Reichtum, in all ihren Farben zeigen", sagt Kulturminister Ertugrul Günay. Doch in der Türkei selbst erwecken Gerichtsprozesse und staatsanwaltschaftliche Ermittlungen immer noch den Eindruck, dass der nationalistisch geprägten Justiz weniger an Farbenpracht als an patriotischer Eintönigkeit gelegen ist.
Elif Safak kann ein Lied davon singen. In ihrem Buch "Der Bastard von Istanbul" schreibt eine fiktive E-Mail-Korrespondentin in einem Internet-Chat mit der armenischen Romanheldin: "Worüber willst Du mit normalen Türken reden? Sieh mal, selbst die gebildeten unter ihnen sind entweder nationalistisch oder unwissend. (...) Glaubst Du, sie werden sagen: ‚Ach ja, tut uns leid, dass wir euch massakriert und deportiert haben und dann seelenruhig alles geleugnet haben.' Warum willst du dir das antun?"
Eine Beleidigung des Türkentums sei das, befand die Staatsanwaltschaft und forderte dreieinhalb Jahre Gefängnis für die Schriftstellerin, nach dem berüchtigten Artikel 301 des Strafgesetzbuchs. Schon ein paar Monate zuvor hatten nationalistische Ankläger mithilfe dieses Artikels den späteren Nobelpreisträger Orhan Pamuk vor Gericht gestellt, in seinem Fall wegen einer Interview-Äußerung zu den Massakern an den Armeniern.
Elif Safak wurde aber zur ersten Schriftstellerin der Türkei, die nicht wegen eigener Stellungnahmen, sondern wegen Äußerungen ihrer Romanfiguren vor Gericht gestellt wurde. Äußerungen wie diese Worte ihres fiktiven Bloggers Baron Baghdassarian: "Den Türken sagen wir: Seht, wir trauern, wir trauern schon fast ein Jahrhundert lang, weil wir unsere Angehörigen verloren haben, weil wir aus unserer Heimat vertrieben und aus unserem Land verbannt wurden. Wir wurden behandelt wie Tiere und abgeschlachtet wie Schafe. Sogar ein anständiger Tod wurde uns verwehrt. Selbst der Schmerz, der unseren Großeltern zugefügt wurde, ist nicht so quälend wie die systematische Leugnung, die dem gefolgt ist."
Dass eine Autorin - die zur Zeit des Prozesses auch noch hochschwanger war - ins Gefängnis soll, weil eine erfundene Person in einem ihrer Bücher etwas Unbotmäßiges sagt, das ging selbst den türkischen Richtern zu weit. Safak wurde gleich in der ersten Verhandlung freigesprochen. Doch dass es in einem EU-Bewerberland überhaupt zu einem solchen Prozess kommen konnte, wurde von vielen Intellektuellen als Zeichen für den nationalistischen Geist in der türkischen Justiz gewertet. Selbst Übersetzer mussten sich schon vor Gericht verantworten, weil sie angeblich staatsfeindliche Bücher ins Türkische übertragen hatten.
Inzwischen wurde der Paragraph 301 zwar überarbeitet und entschärft - doch der Nationalismus ist damit nicht aus den Köpfen von Richtern, Staatsanwälten und Regierungspolitikern verschwunden. Nach wie vor ist die Türkei ein Land, in dem offene Debatten, der Streit um Ideen, die Darstellung von ethnischen oder kulturellen Unterschieden häufig nicht als Zeichen für den Reichtum des Landes verstanden werden, sondern als Bedrohung für die Einheit der Nation.
Erst vor wenigen Wochen erteilte Justizminister Mehmet Ali Sahin der Justiz die Genehmigung, nach dem reformierten Paragraphen 301 gegen den Autor Temel Demirer vorzugehen. Demirers angebliches Vergehen besteht darin, nach der Ermordung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink im Januar 2007 die Sätze gesprochen zu haben: "Es gibt in unserer Geschichte einen Völkermord. Sein Name ist der Völkermord an den Armeniern."
Staatliche und behördliche Intoleranz bekommen nicht nur Autoren und Verleger zu spüren, die sich mit den türkischen Massakern an den Armeniern im Ersten Weltkrieg auseinandersetzen. Auch die Kurdenfrage gehört nach wie vor zu den Themen, mit denen sich türkische Schriftsteller Probleme einbrocken können. Die Autorin Nadire Mater musste sich über zwei Jahre mit einem Prozess herumschlagen, in dem ihr vorgeworfen wurde, in ihrem Werk "Mehmets Buch" - in dem sie junge Soldaten über ihre Erlebnisse im Kurdenkrieg erzählen ließ - gegen die Armee gehetzt zu haben. Am Ende wurde sie freigesprochen. "Mehmets Buch" wurde inzwischen in mehrere Sprachen, auch ins Deutsche, übersetzt und gehört zu den wenigen ungeschminkten Schilderungen über das Vorgehen der Armee im Kurdengebiet.
Bei der Verfolgung von Meinungsäußerungen, bei denen möglicherweise das Recht auf freie Meinungsäußerung für unlautere Zwecke missbraucht wurde, legt die türkische Justiz auch heute noch merkwürdige Maßstäbe an den Tag. So besinnen sich Richter häufig ausgerechnet dann auf die Meinungsfreiheit, wenn es um nationalistische Scharfmacher geht. Ein Gericht im nordwesttürkischen Bolu sprach jetzt den Kommentator einer Regionalzeitung vom Vorwurf der Hetze frei, obwohl der Journalist in einer Kolumne offen zum Mord an Kurdenpolitikern aufgerufen hatte: Für jeden türkischen Soldaten, der im Kampf gegen die PKK-Kurdenrebellen sein Leben verliere, solle ein Vertreter der Kurdenpartei DTP getötet worden.
Selbst prominente westliche Autoren gerieten in den vergangenen Jahren ins Visier nationalistischer Staatsanwälte in der Türkei. So stand im Jahr 2002 der türkische Verleger des amerikanischen Sprachwissenschaftlers und Intellektuellen Noam Chomsky vor Gericht. Chomsky hatte in einem Buch US-Waffenlieferungen an die türkische Armee kritisiert, weil diese Waffen für "ethnische Säuberungen" gegen die Kurden eingesetzt würden. Der Verleger wurde freigesprochen.
Auch religiöse Themen können für Schriftsteller gefährlich werden. Kurz nachdem der in Paris lebende Autor Nedim Gürsel seinen Roman "Allahs Töchter" veröffentlichte, in dem die Geschichte des Propheten Mohammeds erzählt wird, leitete ein Staatsanwalt in Istanbul in diesem Sommer ein Ermittlungsverfahren wegen "Herabwürdigung religiöser Werte" gegen ihn ein.
Mitunter wird die prozesswütige Justiz sogar von Islamisten unterstützt. Adnan Oktar, ein islamistischer Sektenführer, der gegen die darwinistische Evolutionstheorie zu Felde zieht, ließ mit Hilfe eines Gerichts in Istanbul erst vor wenigen Wochen die Website des US-Forschers Richard Dawkins in der Türkei sperren. Dawkins' Buch "Der Gotteswahn" ist in der Türkei wie auch in anderen Ländern ein Bestseller. Laut Oktar enthielt Dawkins' Website aber beleidigende Aussagen über ihn selbst. Das reichte, um das Gericht davon zu überzeugen, den Zugang zu der Internetseite von türkischen Computern lahmzulegen.