Südafrika
John Carlin über Nelson Mandela - und Rugby
Am 24. Juni 1995 schlagen im Endspiel um die Rugby-Weltmeisterschaft die "Springboks", die Nationalmannschaft Südafrikas, die hoch favorisierte Mannschaft aus Neuseeland. 60.000 überwiegend weiße Zuschauer erleben im Ellis Park Stadion von Johannesburg eine eher zähe Partie. An das Ereignis würden sich heute wohl nur noch eingefleischten Rugby-Fans erinnern, hätte das Spiel nicht eine herausragende politische Bedeutung für das neue Südafrika und seinen erst ein gutes Jahr amtierenden Präsidenten Nelson Mandela gehabt. "Die Rugby-Weltmeisterschaft bot ihm die Gelegenheit, endlich auch die Herzen der Weißen zu gewinnen", behauptet Buchautor John Carlin. Der britische Journalist leitete von 1989 bis 1995 das Südafrika-Büro der liberalen Londoner Tageszeitung "Independent". "Zum ersten Mal waren die beiden Parallelwelten der Apartheid verschmolzen", kommentiert Carlin.
Das klingt gut, fast nach einem politischen Wunder. Plausibler wird die These, wenn man sich die herausragende Rolle von Rugby in der jahrhundertelang gespaltenen südafrikanischen Gesellschaft vor Augen führt: Rugby spielten ausschließlich die Weißen, vor allem die Buren. Das raue körperbetonte Spiel wirkte, so Carlin, geradezu wie eine "Droge der Apartheid". In der Nationalmannschaft "Springboks", benannt nach dem Wappentier der Weißen, spielten bis auf einen einzigen so genannten "Farbigen" ausschließlich weißhäutige, zentnerschwere Hünen. Viele Schwarze feixten, wenn das Aushängeschild des südafrikanischen Sports eine Niederlage einsteckte.
Das alles ändert sich schlagartig 1995. Präsident Mandela setzt sein ganzes Gewicht darein, die schwarze Mehrheit für den Lieblingssport der Buren zu gewinnen. Sport sei "mächtiger als Regierungen, wenn es darum geht, Rassenbarrieren niederzureißen." Dabei hat Mandela erhebliche Widerstände in seiner eigenen Partei, dem Afrikanischen Nationalkongress (ANC), zu überwinden. Geschickt sucht er den Kontakt zu den Spielern, wickelt sie mit seinen Charmeoffensiven regelrecht um den Finger. Zum Finale gegen Neuseeland erscheint der Präsident überraschend im grünen Trikot der "Springboks" im Stadion. Nach dem Sieg bedankt er sich bei Mannschaftskapitän François Pinaar. Doch der entgegnet ihm: "Nein, Herr Präsident, Ihnen sei Dank für das, was Sie für unser Land getan haben." Die Spieler singen ihre alte burische Hymne "De Stem" und die neue Nationalhymne "Nkosi Sikelele". Das Stadion, das ganze Land jubelt.
Die Geschichte von Mandelas Auftritt im Stadion wäre rasch erzählt und böte kaum ausreichend Stoff für ein 300 Seiten starkes Buch. John Carlin aber ist kein Sportreporter, sondern politischer Journalist und macht den Hintergrund der seltsamen Verwandlung des ANC-Chefs in einen "Springbok"-Fan deutlich. Mandela nämlich ist unter Druck. Nach seiner Entlassung aus der Haft 1990 und während der ersten Jahre seiner Präsidentschaft ist Südafrika ein Pulverfass. Ein Teil der Weißen findet sich mit dem Verlust seiner Privilegien nicht ab. 1993 ermordet ein Weißer den ANC-Kader Chris Hani, stürmen rechtsradikale Aktivisten den Verhandlungsort von ANC und Minderheitsregierung. Dass zu Mandelas erstem Kabinett auch konservative Weiße wie der ehemalige Präsident de Klerk gehören, versöhnt die burischen Extremisten nicht. Und Mangosuthu Buthelezi, einflussreicher Führer des Zulu-Volkes, terrorisiert mit Überfällen in den Townships ANC-Mitglieder. Mandelas Antwort auf die auseinander strebenden Kräfte in der Gesellschaft lautet "nation building". Schwarze, Weiße, Farbige - alle sind Südafrikaner und die "Springboks" ihre Mannschaft.
Carlins Buch ist keine Biografie. Mandela-Hagiografien gibt es zuhauf. Carlin sucht das Allgemeingültige im Beispielhaften, in der guten Story, und sei dies die eines Rugby-Spiels. Als erklärter Mandela-Fan rutscht er manchmal ins Pathos ab, bisweilen führt sein Schielen auf Pointen zu komischen Sätzen wie "Aus Mandela dem Mann wurde Mandela der Politiker". Aber Carlin hat eine Leidenschaft für Lebensgeschichten, auch die von weißen Rugbyspielern, Offizieren und Krawallbrüdern, und daraus macht er eine sehr lesbare, sorgfältig recherchierte und zeitweise spannende Geschichte aus Südafrikas aufregender jüngster Vergangenheit.
Der Sieg des Nelson Mandela. Wie aus Feinden Freunde wurden.
Herder Verlag, Freiburg 2008;
320 S., 19,95 ¤