Migranten
Betül Licht erzählt die Geschichte einer Gastarbeiterfamilie in Deutschland
In seiner Heimat am Schwarzen Meer war der Papa von Fatma ein angesehener Mann: Angestellt bei den Elektrizitätswerken, 80 Mitarbeiter unter sich, brachte er den Menschen in den Dörfern Strom. In Hamburg war er einer unter vielen: ein Gastarbeiter aus der Türkei, der sich nach einer gründlichen Leibesvisitation für wenig Geld in einer Fabrik verdingte. "Kein Mensch wusste, was für ein schönes Leben wir gehabt hatten und wie Papa in unserer Heimatstadt geachtet und geehrt wurde. Eines Tages wird diese Zeit zurückkehren", schreibt Fatma. Doch die Zeit kehrt nicht zurück. Der Vater wird in Deutschland alt. Er stirbt. Nur sein Leichnam kehrt ans Schwarze Meer zurück. Aus fünf Jahren waren Jahrzehnte geworden.
In sechs Briefen schildert die Romanfigur Fatma in dem Buch "In meiner Not rief ich die Eule" die Geschichte einer türkischen Gastarbeiter-Familie in Deutschland - und insbesondere ihre eigene. Als ihre Eltern sie zurücklassen, um zunächst allein ihr Glück in der Fremde zu versuchen, ist Fatma ein Kind. Die Großmutter, bei der sie bleibt, schlägt und misshandelt sie. Schon als sie zwei Jahre nach ihren Eltern nach Hamburg kommt, ist Fatma ein gebrochenes kleines Mädchen. Dort angekommen findet sie eine Welt vor, die weder ihr noch ihren Eltern Halt gibt. Die Familie wird als fremd behandelt, fühlt sich fremd, sie ist es auch. Es gibt Streit mit dem Vermieter, mit den Nachbarn, immer häufiger auch untereinander. Nach und nach zerstört das Leben in der Fremde die Grundsubstanz jeden menschlichen Zusammenlebens: Vertrauen. Fatma muss zusehen, wie ihr Vater immer unglücklicher und ihre Mutter immer neurotischer wird. Auch die Misshandlungen ihrer Großmutter setzen sich in der Familie fort: Nun sind es ihre Mutter und ihr Bruder, die sie schlagen. Am Ende wird sogar die Ehe der Eltern - was in der Türkei undenkbar gewesen wäre - zerbrechen.
Gepeinigt von Schuldgefühlen, Selbstzweifeln und der Unmöglichkeit, sich mitzuteilen, sucht Fatma den einzig möglichen Ausweg: den in die deutsche Gesellschaft, in ein neues Zuhause. Es wird ihr nicht leicht gemacht. Wann immer sie verständnisvolle Lehrer findet, oder Freundinnen, bei denen sie Halt suchen könnte, schreckt sie zurück: aus Angst, ihre Familie zu verraten, aus Verantwortungsbewusstsein ihrer Tradition gegenüber. Oder weil ihre Eltern in schrecklicher Sorge, auch noch die Tochter zu verlieren, sie nicht gehen lassen: nicht auf Klassenfahrten und nicht zu Geburtstagen.
Es ist ein dramatisches Bild der Zerrissenheit, das die Autorin Betül Licht sich zu zeichnen entschlossen hat. Entschlossen, weil es nicht ihre Geschichte ist, die sie aufschreibt. Fatmas Briefe sind fiktiv und richten sich an eine anonyme Freundin, die, so kann man wohl vermuten, die Autorin selbst sein könnte: eine Deutschtürkin, der es anders als Fatma ermöglicht wurde, sich in der neuen Heimat eine neue Identität und ein gesundes Selbstbewusstsein aufzubauen. "Ich muss mich sehr früh für das Land, in dem ich lebte, entschieden haben", schreibt die Empfängerin von Fatmas Briefen, "ich tröstete mich mit neuen Freunden, mit der neuen Sprache und der neuen Kultur über den Schmerz hinweg."
Betül Licht kam selbst als Zehnjährige nach Deutschland. Heute berät sie Migranten in einem sozialpsychiatrischen Beratungszentrum in Hamburg. Die Romanfigur Fatma, vermutet man weiter, ist ein Charakter, der ihr dort häufiger begegnet.
Mit dem Vergleich zweier deutsch-türkischer Welten gelingt ihr etwas Wesentliches: Typisches zu zeigen, ohne es für alleingültig zu erklären. Das Buch demonstriert eindrücklich die täglich hunderttausendfach gelebten Konflikte in deutschen Zuwandererfamilien - es zeigt aber auch, dass es anders geht. Ermüdend zu lesen ist es zuweilen dennoch: Mit ihren regelmäßigen Kommentaren zu Fatmas Gedanken und Gefühlen wird der Leser immer wieder an die Hand genommen. Das wäre aber gar nicht nötig.
In meiner Not rief ich die Eule. Eine junge Türkin in Deutschland.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2008; 255 S., 19,95 ¤