AFGHANISTAN
Sie riskieren ihr Leben in einem gefährlichen Einsatz. Nicht alle können verstehen, warum sie das tun
Er hätte es einfacher haben können, in seinem letzten Jahr als Soldat, in seinem letzten Jahr vor der Pensionierung, Kompaniefeldwebel Manfred D. Er hätte sich noch ein Jahr um den Papierkram kümmern, seine Kompanie organisieren und sich die restliche Zeit den Problemen der ihm unterstellten Soldaten annehmen können. Zuhören, Befehle geben, auch viele Ratschläge. "Mutter der Kompanie" wird er auch genannt. Manfred D. (seinen vollen Namen darf er aus Sicherheitsgründen nicht nennen) ist Oberstabsfeldwebel. Höher geht es nicht für einen Unteroffizier im Feldwebelrang.
Doch er befahl sich selbst noch einmal zurück auf die Schulbank, um ein hartes Vorbereitungsprogramm zu absolvieren. Ende November fliegt D. nach Afghanistan. Mindestens vier Monate wird der 52-Jährige dort bleiben, in Mazar-i-Sharif, dem größten Bundeswehrlager am Hindukusch.
Zwei Auslandseinsätze hat D. bereits hinter sich. Er war 1997 in Sarajevo, später noch einmal auf dem Balkan. "Aber die Lage in Afghanistan ist natürlich wesentlich gefährlicher als damals", sagt er. Wenn Manfred D. spricht, klingt das nüchtern, durchdacht, völlig klar. Er sitzt dabei auffallend aufrecht, der Rücken ist immer ganz gerade, fast steif. Sein Gesicht mit dem dunkelblonden Schnauzbart und den wachen Augen hinter der Brille wirkt freundlich, einnehmend. Man kann ihn sich sehr gut vorstellen, als Mutter der Kompanie. Streng, aber immer mit einem offenen Ohr. "Meine Tochter hat mich gefragt: Muss das jetzt noch mal sein Papa, ein Jahr vor der Pensionierung?" Manfred D. hat sich freiwillig zum Auslandseinsatz gemeldet, seine 19-jährige Tochter hat das nicht gleich verstanden, machte sich Sorgen. Er hat es ihr erklärt.
Der Aufgabenbereich eines Soldaten hat sich in den letzten 20 Jahren dramatisch verändert. Für D. ist es zwar mittlerweile selbstverständlich, in einen Auslandseinsatz zu gehen: "Das gehört heute einfach zum Soldatenalltag dazu." Doch vor 34 Jahren, als er in die Bundeswehr eintrat, war ein solches Szenario ganz weit weg. "Wir waren damals überzeugt, nur im Inland eingesetzt zu werden, zur Verteidigung der Grenzen gegen einen möglichen Aggressor. Die Gefahr war damals sehr abstrakt. Ganz im Gegensatz zu heute."
Im Fernsehen wird an diesem 7. Oktober gerade die Bundestagsdebatte zur Verlängerung des Afghanistaneinsatzes um 14 Monate übertragen. Viele Medien berichteten im Vorfeld von Schwierigkeiten, von politischen Fehlern, die in den vergangenen Jahre begangen wurden und auch davon, dass der Einsatz aussichtslos sei. Man käme nicht vorwärts, die Lage verschlechtere sich, die Bevölkerung gerate wieder verstärkt unter den Einfluss der Taliban.
Tatsächlich hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan in den vergangenen zwei Jahren für die Bundeswehr deutlich verschärft. "In einer solchen Situation erwarte ich, dass die Politiker nicht einfach so in fünf Minuten eine Entscheidung fällen", sagt D. "Wenn dort schreckliche Dinge geschehen, dann soll auch an darüber diskutiert werden." Es wird diskutiert im Parlament. Und die dort vorgebrachten Argumente ähneln oft denen, die auch D. äußert, wenn er nach den Gründen für sein Handeln gefragt wird, oder Hauptmann Volker Wolff.
Wolff war schon in Afghanistan im Einsatz. Im Jahr 2006. Noch 2004 erschien dort alles problemlos zu verlaufen, Soldaten konnten sich beinahe frei bewegen, einkaufen, essen gehen. Doch die ersten Raketen, die Ende 2005 bei Bundeswehrstützpunkten einschlugen, haben vieles verändert. Seitdem wurden die Anschläge immer häufiger. Wolff hat vor seiner Abreise mit seiner Frau über den Tod gesprochen, dass es sein kann, dass er nicht mehr zurückkommt, dass er verletzt wird. Er hat ein Testament geschrieben. Wie oft das Lager in Faisabad im Norden Afghanistans, in dem Wolff stationiert war, dann Ziel von Anschlägen war, darf Wolff nicht sagen. Es waren viele.
Volker Wolff ist im Stab tätig, Personaloffizier, keiner von denen, die auf Patrouille außerhalb des Lagers gehen. Der heute 42-Jährige war vier Monate in Faisabad, während dieser Zeit hat er das Lager äußerst selten verlassen.
Der Stützpunkt dort ist 300 auf 300 Meter groß, oft herrschen über 40 Grad. 24 Stunden am Tag ist man im Dienst. "Man wird dort an die Grenzen geführt, auch die körperlichen Grenzen, aufgrund der hohen Arbeitsbelastung", sagt Wolff, "auch wenn man das Lager nicht verlässt."
Die Soldaten melden sich frühmorgens in ihrer Zelle - so werden die Kommandoeinheiten genannt - und arbeiten dort bis 19 Uhr. Oft geht es länger, danach gibt es noch eine Lagebesprechung. "Erst dann hat man etwas Zeit für sich", erzählt Volker Wolff. Das Fitnesszelt hat er oft genutzt, es gibt eine kleine Bücherei, einen DVD-Verleih. "Man kann auch einfach im Container bleiben, Briefe schreiben, sich etwas entspannen", erzählt Wolff. Der Container ist zehn Quadratmeter groß, zwei oder drei Soldaten sind dort zusammengepfercht. Draußen im Lager etwas zu unternehmen, Fußballspielen zum Beispiel, dafür ist es zu heiß. Die Luftfeuchtigkeit ist einfach zu hoch, "das wäre körperlich nicht zu vertreten", erklärt Wolff. "Aber während ich in Faisabad war, fand gerade die Fußballweltmeisterschaft 2006 statt. Glücklicherweise. Das war natürlich eine gute Ablenkung."
Ablenkung, die ist wichtig, wenn man vier Monate in einem Stützpunkt verbringen muss. Einige Soldaten vergleichen den Aufenthalt sogar mit einem geschlossenen Vollzug. Wolff nicht. Er empfand das nicht so extrem. Zwar fühlte er sich auch eingeschlossen, doch für ihn war es nicht der erste Auslandseinsatz. 1999 war er bereits vier Monate in Bosnien-Herzegowina, deshalb war er nicht überrascht von der Enge, der Abgeschlossenheit. Wolff weiß sich zu helfen: Kontakt mit den Kameraden aufnehmen, sich vor Ort ein paar Freunde suchen, die einen an einem schlechten Tag auch mal rausholen aus einem Stimmungstief. Den Kontakt mit der Familie hält er mit Briefen und übers Telefon: Es sind ganz normale Dinge, die plötzlich eine ungeheure Wichtigkeit erhalten in dieser anderen dieser kleinen Welt, die für vier Monate die ganze Welt für einen Soldaten ist. Gut, wenn dann WM ist. Trotzdem: Auch Wolff hat die Tage gezählt, bis zu dem Tag, da es wieder zurück in die Heimat ging.
"Geregelte Abläufe sind sehr wichtig": Auch Wolff spricht ruhig und überlegt. Als er von der Bedeutung festgelegter Abläufe berichtet, lehnt er sich in seinem Stuhl nach vorne und faltet die Hände. Geregelte Abläufe, Strukturen, ein bestimmter Rhythmus, dadurch wird so ein Einsatz für ihn erst erträglich. Für jeden Fall, auch den Ernstfall, gibt es Maßnahmenkataloge, alles läuft automatisiert ab. "Wenn es zum Anschlag kommt, weiß jeder Soldat, was er zu tun hat", versichert Wolff. "Vollzähligkeitsprüfung, Meldung der Arbeitsfähigkeit, Besetzung der Bunker. Das hat man oft geübt."
Doch nicht allen Soldaten gelingt es, mit der Situation so professionell, so abgeklärt umzugehen. Ein Soldat, der unter einem Lagerkoller leidet, ist nicht ungewöhnlich. "Gerade für jüngere Kameraden ist es oft schwieriger", weiß Wolff: "Beziehungen leiden, gehen vielleicht während des Auslandsaufenthalts in die Brüche." Viele wollen auch raus aus dem Lager, wollen Land und Leute kennen lernen - müssen aber einsehen, dass das nicht geht, dass ihre Abenteuerlust das vorrangige Ziel, den Auftrag gefährden würde. Für Wolff ist klar: "Wir sind dort mit einem ganz bestimmten Auftrag und es ist nicht akzeptabel, persönliche Erfahrungen zu ermöglichen, wenn dadurch der Auftrag gefährdet wird."
Auf dem Tisch in der Graf-Stauffenberg-Kaserne im württembergischen Sigmaringen, in der Manfred D. und Volker Wolff stationiert sind, steht eine Tasse mit dem Aufdruck "Kosovo Now", der an den Antikriegsfilm "Apokalypse Now" erinnert. Für D. wird es bald heißen "Afghanistan Now". Er wirkt gelassen. Im Bundestag wird immer noch diskutiert. Wie jedes Jahr im Oktober. "Keiner ist naiv, natürlich ist der Weg länger und steiniger, als wir uns das alle erhofft haben", hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) gerade in der Debatte im Fernsehen gesagt.
Draußen, in Sigmaringen, geht ein wunderbarer Tag dem Ende zu. Prächtig: das Schloss unterhalb der Graf-Stauffenberg-Kaserne, in der die 10. Panzerdivision von D. und Wolff stationiert ist. Die Sonne hat noch einmal Kraft. An den Bäumen überreden leuchtendes Rot und Gelb das dunkle Grün zum Aufgeben. Satt Grün sind nur noch die Wiesen. An einem Tag wie diesem wurde wohl der Begriff "Goldener Oktober" geprägt. Volker Wolff hat die Farbe Grün am meisten vermisst in Afghanistan. Nach seiner Frau und den beiden Kindern natürlich. "Einfach über eine grüne Wiese gehen!" - nicht möglich im Wüstenstaat. Darauf kann man sich einstellen. Aber seine Familie zu verlassen für vier Monate, darauf kann man sich nicht gut vorbereiten. D. hat es versucht, sich mental vorbereitet, viel gesprochen mit seiner Familie, seiner Frau, den beiden Kindern.
Er hat viel Praktisches im Vorfeld regeln müssen: Die Steuer oder den TÜV fürs Auto zum Beispiel. Außerdem hat er sich militärisch noch einmal "fit machen lassen". Worst-Case-Szenarien wurden durchgespielt, viel Erste-Hilfe geprobt. Auch an der Waffe hat er noch einmal viel geübt. "Wir Bürotäter schießen ja nicht jeden Tag", lacht er. Er hat viel über Afghanistan lernen müssen: Was man dort darf, was nicht, was man in dieser fremden Kultur unbedingt beachten muss, wo Gefahren lauern, vor allem im Umgang mit Menschen. Er hat das gelernt, obwohl er nicht viele Afghanen treffen wird. Er wird im Stab eingesetzt: Planung und Organisation von Patrouille oder Märschen.
Freut D. sich auf den Einsatz? Nein, das wirklich nicht. Es ist Pflichtbewusstsein, das ihn antreibt. Er will Vorbild sein für seine Soldaten in der Kompanie. "Die hören einem doch eher zu, wenn man dort war." Doch wichtiger ist: D. ist, genauso wie Wolff, überzeugt davon, dass das, was er tut richtig und sinnvoll ist. "Man muss einfach für den Erfolg in längeren Zeiträumen denken", sagt Wolff. "Nur wer dort war, wer gesehen hat, wie die Leute dort leben, kann sich ein Urteil erlauben. Der weiß auch: Das ist ein längerer Prozess, man kann die dort nicht einfach mal schnell in unser Lebensmodell katapultieren." Und bei allen Rückschlägen habe es auch Erfolge gegeben: Frauen hätten jetzt Zugang zu Bildung, die Versorgung mit frischem Wasser sei deutlich verbessert worden, viele Menschen könnten jetzt ärztlich versorgt werden.
Auf einer seiner wenigen Fahrten in das Land, raus aus dem Lager in Faisabad, hat Wolff ein Waisenhaus besucht. Er hat dort Armut und Elend gesehen, mehr Armut und Elend als er sich vorstellen, als es die Bilder im Fernsehen jemals vermitteln konnten. Und er hat dort lachende Kinder gesehen, Kinder, die sich aus ganzem Herzen über die Hilfe, die die deutschen Soldaten brachten, freuten. Für Wolff haben sich damit vier entbehrungsreiche Monate gelohnt. Auch D. will seinen Beitrag leisten. Er hätte es einfacher haben können. Er wollte nicht.