PATIENTENRECHTE
Bald können sich Kranke auch in anderen EU-Ländern behandeln lassen - die Honorare bleiben begrenzt
Eigentlich war Yvonne Watts für die moderne Medizin ein reiner Routinefall: Die Britin litt an schlimmen Schmerzen in der Hüfte und wollte sich von einem Arzt in Frankreich ein neues Gelenk einsetzen lassen. Doch das, was in einem grenzenlosen EU-Binnenmarkt reine Routine hätte sein können, entwickelte sich zu einem der Fälle, wegen derer jetzt EU-Recht neu geschrieben wird: Am 23. April hat das Europäische Parlament eine Richtlinie angenommen, die die Rechte von Patienten bei Behandlungen im Ausland stärkt - und sich dabei auf Schicksale wie das von Yvonne Watts berufen.
Denn die zierliche alte Dame wollte nach ihrer Diagnose im Herbst 2002 möglichst schnell eine neue Hüfte bekommen. Zu Hause in Großbritannen aber hätte sie monatelang auf eine Operation warten müssen. So machte sie einen Arzt in Nordfrankreich ausfindig, der ihr schneller helfen konnte - und beantragte bei der zuständigen Stelle in ihrer britischen Heimat eine Kostenübernahme. Doch diese lehnte ab. Und das, obwohl Patienten laut EU-Vertrag grundsätzlich ein Anrecht darauf haben, sich in anderen Mitgliedstaaten behandeln zu lassen und die Kosten anschließend zu Hause erstattet zu bekommen.
Weil ihre Schmerzen zu groß wurden, ließ Yvonne Watts sich im März 2003 dennoch in Frankreich operieren, streckte die Kosten aus eigener Tasche vor und ging einen Rechtsstreit mit den britischen Gesundheitsstellen ein. Schließlich landete ihr Fall vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dieser urteilte im Mai 2006 zugunsten von Yvonne Watts: Der britische Gesundheitsdienst musste ihr das vorgestreckte Geld zurückzahlen - vier lange Jahre nach der Hüft-OP in Frankreich.
Solche langwierigen Einzelfallentscheidungen soll es nach dem Willen der EU-Parlamentarier mit der neuen Richtlinie künftig nicht mehr geben: "Was wir heute machen, ist die Kodifizierung der EuGH-Rechtsprechung", sagt die liberale niederländische Abgeordnete Ria Oomen Ruijten während der Aussprache im Parlament. Die beschlossene Richtlinie sei eine "perfekte Neuigkeit für Menschen in Grenzregionen, für Menschen mit seltenen Krankheiten und alle Menschen, die zu Hause auf langen Wartelisten stehen."
Denn die Richtlinie schreibt eindeutig fest, dass sich Patienten künftig grundsätzlich ohne Formalitäten im EU-Ausland behandeln lassen dürfen. Die Kosten dafür bekommen sie der neuen Regelung zufolge vom Versicherer in ihrer Heimat erstattet, allerdings nur in der Höhe, in der dieser sie auch zu Hause übernommen hätte. Lediglich für Krankenhausaufenthalte und Spezialbehandlungen sollen Ausnahmen von diesem Prinzip gelten: Hier dürfen die Mitgliedstaaten ein Vorabgenehmigungssystem einführen. So soll nach dem Willen der Abgeordneten sichergestellt werden, dass die Finanzierung eines Sozialversicherungssystems nicht aus dem Gleichgewicht gerät, weil beispielsweise Patienten für bestimmte Behandlungen massenweise ins Ausland strömen wollen.
Gemäß der Richtlinie müssen die EU-Staaten in Zukunft auch spezielle Informationsstellen einrichten. Dort können sich Patienten zum Beispiel erkundigen, in welcher Höhe Kosten erstattet werden und welche Entschädigungsansprüche sie bei Behandlungsfehlern im Ausland haben.
Die neue Regelung stärke nicht nur die Rechte der Patienten, sondern biete auch eine Chance für die 4,4 Millionen Beschäftigten im deutschen Gesundheitssektor, so der CDU-Abgeordnete Peter Liese: "Noch ist das deutsche Gesundheitswesen auf einem relativ hohen Niveau und im Ausland attraktiv. In Großbritannien gibt es Wartelisten für lebensnotwendige Operationen. Hier wird die Richtlinie viel in Bewegung bringen."
Umstritten unter den Parlamentariern war das geplante System der Vorabgenehmigungen: "Die Mitgliedstaaten sollen die Kompetenz für ihre Gesundheitssysteme behalten. Wir wollen sie ihnen nicht nehmen und sie auch nicht ausbluten lassen", sagte die SPD-Abgeordnete Dagmar Roth-Behrend in der Aussprache. "Es ist daher richtig, dass es vorherige Genehmigungen für Spezialbehandlungen und Krankenhausaufenthalte gibt." Holger Krahmer (FDP) dagegen nannte diese Vorabgenehmigungen eine "bürokratische Hürde", die die Flexibilität der Kranken einschränke, und forderte: "Es sollte mehr um die Rechte der Patienten gehen als um den Schutz nationaler Eigenbrötelei im Gesundheitswesen."
Grundsätzliche Kritik an der Neuregelung kam von der Konföderalen Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke: Sie benachteilige ärmere Menschen, argumentierte die niederländische Abgeordnete Kartika Tamara Liotard bei der Aussprache im Plenum: "Sie wird dazu führen, dass Menschen mit dickem Portemonnaie einen besseren Zugang zu hochwertiger Gesundheitsversorgung haben." Außerdem berge die Richtlinie das Risiko, dass die Versicherer aus dem Recht der Patienten, sich im Ausland versorgen zu lassen, die Pflicht machten, eine billigere Behandlung jenseits der Grenze in Anspruch zu nehmen.
Bevor die Neuregelung in Kraft treten kann, müssen sich EU-Parlament und EU-Ministerrat auf einen gemeinsamen Text einigen. Derzeit werde über den Kompromissvorschlag der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft beraten, sagte eine Vertreterin der amtierenden Ratspräsidentschaft.
Auch wenn damit noch unklar ist, zu welchem Zeitpunkt die neuen EU-Vorgaben für mehr Patientenmobilität greifen - eines ist bereits heute sicher: Sie sollen in jedem Fall sicherstellen, dass sich Kranke wie Yvonne Watts ihre Kostenerstattung nicht mehr in einem zermürbenden Gang durch alle Instanzen erstreiten müssen. Denn immerhin hatte die alte Dame jahrelang eine beträchtliche Summe vorstrecken müssen: 3.900 britische Pfund.