KINDERSCHUTZGESETZ
Verbände, Opposition und SPD kritisieren den fehlenden Präventionsgedanken
Jede einzelne der Meldungen schockierte von Neuem: Im November 2007 verhungerte und verdurstete die fünfjährige Lea-Sophie in Schwerin - weil ihre Eltern sich nicht ausreichend um sie gekümmert hatten. Wenige Wochen später wurden bei einer jungen Frau im thüringischen Plauen drei mehrere Jahre alte Babyleichen gefunden. Die dritte Schreckensnachricht kam aus Darry in Schleswig-Holstein: Eine psychisch kranke Mutter hatte ihre fünf Söhne im Alter von drei bis neun Jahren umgebracht.
Wie konnte es soweit kommen? Und was kann dagegen getan werden? Das waren die Fragen, die in der Folge gestellt wurden. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder wollten Antworten geben und trafen sich im Dezember 2007 zum sogenannten Kindergipfel. Einen besseren Schutz für Kinder sollte es geben. So lautete ihr Versprechen.
Knapp anderthalb Jahre später liegt nun ein Gesetzentwurf der Bundesregierung ( 16/12429) vor, der am 23. April in erster Lesung im Bundestag beraten wurde. Zu den wesentlichen Inhalten der Vorlage gehört eine Änderung des Achten Sozialgesetzbuches. Demzufolge soll das Jugendamt verpflichtet werden, sich bei Verdacht auf Vernachlässigung per Hausbesuch einen persönlichen Eindruck vom Kind und seiner Umgebung zu verschaffen. Immer vorausgesetzt, der Besuch verschlechtert nicht die Situation des Kindes. Zudem soll die Schweigepflicht von Berufsgeheimnisträgern wie Ärzten gelockert werden. Sofern ihnen "gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt" werden oder sie es für nötig halten, die Lage genauer zu untersuchen, können sie eine Fachkraft hinzuziehen oder das Jugendamt einschalten.
Mit dem Gesetz, so der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, Hermann Kues (CDU), werde insbesondere Ärzten und Beratungsfachkräften Sicherheit im Umgang mit Hinweisen auf die Vernachlässigung von Kindern gegeben. Er betonte, das Jugendamt solle erst eingeschaltet werden, wenn Gespräche mit den Eltern fruchtlos geblieben seien oder wenn durch derartige Gespräche das Kind gefährdet sei. Kues plädierte für eine bundeseinheitliche Regelung, wie sie das Gesetz vorsieht. "Ob und wie ein Kind am besten geschützt wird, kann und darf nicht davon abhängen, ob es an der Nordsee oder in den Alpen aufwächst", sagte er.
Die Opposition, aber auch der Koalitionspartner SPD kritisierten den Gesetzentwurf hingegen als nicht ausreichend. Caren Marks (SPD) bemängelte, dass die Prävention zu kurz komme. Frühe Hilfen für Schwangere und junge Eltern - zum Beispiel Willkommensbesuche und Elternberatung - müssten "im Gemeinwesen verankert werden". Zu einem funktionierenden Kinderschutz gehöre auch "eine gut ausgestattete Kinder- und Jugendhilfe". Die vorgesehene Regelung zu verpflichtenden Hausbesuchen des Jugendamtes sei zu starr. Marks erneuerte auch die SPD-Forderung, Kinderrechte in das Grundgesetz aufzunehmen.
Die fehlenden Regelungen zur Prävention beklagte auch die kinder- und jugendpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Miriam Gruß. "Es ist wichtig, dass das Gesetz nicht erst wirkt, wenn es schon lichterloh brennt", sagte sie. Gruß kritisierte zudem die mangelhafte finanzielle und personelle Ausstattung der Jugendämter. Ohne gut funktionierende Jugendämter könne die Betreuung der Kinder nicht gewährleistet werden. Zudem befürchte sie, Eltern würden Ärzte künftig gar nicht mehr aufsuchen, weil sie Angst hätten, diese würden gleich das Jugendamt einschalten.
Diana Golze (Die Linke) bezweifelte, dass verpflichtende Hausbesuche des Jugendamtes ein richtiges Instrument sind, um den Kinderschutz zu erhöhen. "Aus meiner Sicht wird vielmehr Vertrauen zerstört, und es birgt die Gefahr, dass Hilfeprozesse abgebrochen werden", sagte Golze. Auch sie sprach sich für eine Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz aus.
Ekin Deligöz schloss sich der Kritik ihrer Vorrednerinnen an. Die kinder- und familienpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen warf der Bundesregierung vor, sie habe "aus dem Blick verloren, worum es geht". Deligöz sprach sich für eine bessere Ausstattung der Jugendhilfe sowie für flächendeckende Angebote von Familienhebammen, also Hebammen, die eine Zusatzausbildung haben, um Mütter und Kinder medizinisch und psychosozial beraten zu können, aus.
Auch von den Verbänden wird das Gesetz als zu kurz greifend kritisiert. Der Deutsche Kinderschutzbund nennt es "bedauerlich, dass ein Gesetz zum Kinderschutz sich fast ausschließlich mit Maßnahmen zur Intervention und nicht mit den Maßnahmen zur Prävention" befasse. Die vorgesehenen Änderungen seien zu restriktiv und könnten eher dazu führen, dass die vorgesehenen Personen es ablehnten, Verantwortung zu übernehmen. Dem Bundesverband für Erziehungshilfe (AFET) zufolge scheitert Kinderschutz nicht an Inkompetenz, sondern an fehlendem Geld. Fachliche Anforderungen könnten nicht wirksam umgesetzt werden. Der Bundesverband der Diakonie bemängelt unter anderem, dass der Gesetzentwurf "weder zu den Kosten noch zu den Folgeeinschätzungen" Stellung nehme. Eine kostenneutrale Umsetzung der Regelungen sei aber nicht möglich. Der Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren zufolge überschneidet sich der Entwurf mit bestehenden oder beabsichtigten Gesetzen verschiedener Bundesländer. Das trage zur "Verunsicherung, Desorientierung und Verwirrung der Fachkräfte" bei und fördere keineswegs den Schutz der Kinder.