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Im Schatten der EU: Nach 60 Jahren Engagement fällt die politische Bilanz des Staatenbundes durchwachsen aus
Joachim Hörster (CDU) hat im Palais de l'Europe eine interessante Erfahrung gemacht: "Manchmal rennen einem die Botschafter dieser oder jener Länder die Türen ein." Das ist immer dann der Fall, wie der Leiter der 18-köpfigen Bundestagsdelegation beim Europarat erzählt, wenn einer der Mitgliedsnationen Sanktionen wie der Entzug des Stimmrechts in der Parlamentarischen Versammlung des Staatenbunds drohen. In jüngerer Zeit stand dies bei Russland wegen des Kriegs gegen Georgien und bei Armenien wegen der Inhaftierung von Gefangenen aus politischen Gründen zur Debatte. Zuletzt verhängte die paneuropäische Volksvertretung solche Strafen nicht mehr. "Kein Land will an den Pranger gestellt werden, das ist für die Regierungen eine Frage der Ehre", sagt Hörster.
So kontert er einen Vorwurf, der den Europarat seit seiner Gründung 1949 begleitet: dass ihm die Macht fehle, um gemäß seinem Kernauftrag freiheitliche Rechtstaatlichkeit durchzusetzen, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention ihren Ausdruck findet. Zum 60-jährigen Jubiläum wollen der Brite Terry Davis, Generalsekretär im Palais de l'Europe, und der Spanier Lluis Maria de Puig, Präsident der Parlamentarischen Versammlung, das Licht ihrer Organisation jedenfalls nicht unter den Scheffel gestellt wissen: "Wir sind stolz, dass der Europarat einen entscheidenden Beitrag zur Demokratisierung auf dem Kontinent beisteuert."
Zu den "herausragenden Leistungen" rechnet der SPD-Abgeordnete Wolfgang Wodarg die Heranführung mittel- und osteuropäischer Länder nach dem Fall des Eisernen Vorhangs an demokratisch-rechtstaatliche Standards: "Ohne diese Vorarbeit hätten die heutigen EU-Mitglieder aus dem Osten nicht zur Brüsseler Gemeinschaft stoßen können", sagt der stellvertretende Leiter der Bundestagsdelegation.
Eines hat sich indes auch zum 60. Geburtstag nicht geändert: Der Europarat steht im Schatten der EU und des ebenfalls in Straßburg tagenden EU-Parlaments. Davis und de Puig sind weit weniger bekannt als die Brüsseler Kommissare oder gar die Staats- und Regierungschefs, die sich bei EU-Gipfeln inszenieren. An die Macht der EU reicht der altehrwürdige Staatenbund nicht heran, der gleichwohl das Zusammenwachsen des Kontinents erst in Gang gebracht hat. Wodarg wirft Brüssel vor, inzwischen sogar auf dem ureigensten Terrain des Europarats zu wildern, dem Kampf für Rechtstaatlichkeit. "Die EU-Grundrechtsagentur verrichtet doppelte Arbeit", so seine Kritik.
Zehn Nationen riefen am 5. Mai 1949 in London den Europarat ins Leben, dessen Sitz Straßburg wurde. Die Bundesrepublik trat 1951 als 14. Mitglied bei. 1959 wurde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegründet, das Glanzstück des Staatenbunds feiert damit dieses Jahr seinen 50. Geburtstag. Der Auftrag der Institution, der Einsatz für freiheitliche Rechtstaatlichkeit, mutet nicht spektakulär an. Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs stand der Europarat denn auch im Ruf, ein gepflegter Debattierclub westlicher Politiker zu sein. Mit dem Engagement im Osten für Gewaltenteilung, unabhängige Justiz, Medienfreiheit, Parteienpluralismus, Folterverbot, humanen Strafvollzug, kulturelle Vielfalt und den Schutz von Minderheiten kam indes sichtlich Schwung ins Palais de l'Europe - der sich seither auch in verstärkter Kritik an Missständen im Westen niederschlägt. Mittlerweile zählt der Staatenbund 47 Nationen, nur das von Alexander Lukaschenko autokratisch regierte Weißrussland muss vorerst noch vor der Tür bleiben.
Beim Versuch, die Menschenrechtskonvention auch in "neuralgischen Ländern" zu verankern, setzt der Europarat vor allem auf öffentlichen Druck. Zu den größten Erfolgen gehört der Kampf gegen die Todesstrafe, die in 46 Ländern formell abgeschafft ist - zudem finden auch in Russland, wo die Kapitalstrafe noch im Gesetzbuch steht, keine Hinrichtungen mehr statt.
Im Gremiengefüge des Palais de l'Europe, dem Straßburger Sitz des Rates, spielt aus Sicht Wodargs die Parlamentarische Versammlung "die aktivste Rolle". Als "wichtigstes Instrument" bezeichnet Hörster dabei das "Monitoring": Das sind Kontrollberichte, mit deren Hilfe die Volksvertretung in den Mitgliedstaaten überprüft, inwiefern freiheitlich-rechtstaatliche Standards eingehalten werden. "Diese kritischen Beschlüsse entfalten ihre Wirkung", meint der CDU-Abgeordnete.
So trug der Schweizer Parlamentarier Dick Marty mit seinen Untersuchungen wesentlich zur Aufdeckung der von der CIA praktizierten rechtswidrigen Verschleppung Terrorverdächtiger ("Renditions") bei.
Armenien und Aserbaidschan wurden mehrfach ermahnt, etwa wegen Verstößen gegen die Pressefreiheit. In Italien sah sich Silvio Berlusconi wegen der Verquickung politischer und medialer Macht der Kritik ausgesetzt. Mehrere Studien über die autoritäre Herrschaft Wladimir Putins in Russland und über Menschenrechtsverletzungen im Tschetschenien-Krieg haben Moskau gehörig genervt, einmal entzog die Straßburger Volksvertretung den Duma-Delegierten sogar für ein Jahr das Stimmrecht: In Nordkaukasus haben sich Moskaus Truppen inzwischen gemäßigt, allerdings steht es in Russland selbst um Medienfreiheit und Oppositionsrechte nach wie vor schlecht.
Hörster moniert indes, dass die Arbeit des Abgeordnetenhauses thematisch ausufert: "Man konzentriert sich nicht auf die Kernaufgaben, sondern befasst sich mit allen möglichen Fragen, und dabei kommt wenig heraus." In der aktuellen Sitzungswoche (siehe Text rechts unten) finden sich auch die Finanzierung des öffentlichrechtlichen Rundfunks sowie die Konkurrenz zwischen Nahrungsmittelproduktion und Biospritherstellung auf der Tagesordnung: Das sind durchaus interessante Themen, aber es stellt sich die Frage, was das mit dem Auftrag des Europarats zu tun hat?
Das machtpolitische Dilemma des Staatenbunds offenbart der Krieg zwischen Russland und Georgien. Straßburg ist das einzige internationale Forum, bei dem Parlamentarier beider Länder direkt die Klingen kreuzen. Politischen Einfluss im Südkaukasus hat der Europarat freilich nicht. Das ist Sache der EU. Aus Sicht Wodargs könnte der Staatenbund jedoch durch Krisenprävention viel mehr tun, um solche Eskalationen zu verhindern, vor allem durch eine effektive Minderheitenpolitik: Im Falle Georgiens hätte dies durch eine bessere Integration der mit autonomen Rechten ausgestatteten Abchasen und Südosseten geschehen können. "Bei der Krisenprävention haben wir zu wenig Power, dazu bräuchte man auch mehr Geld", weist der SPD-Abgeordnete aus die Schwachstellen hin. Den Etat des Europarats mit jährlich 200 Millionen Euro findet Wodarg "lächerlich niedrig".
Sehr aktiv war nach dem Krieg Menschenrechtskommissar Thomas Hammarberg: Der Schwede vermittelte beim Gefangenenaustausch und machte sich für die Belange von Flüchtlingen stark. Für Hörster zählt die Institution des Menschenrechtskommissars, der häufig vor Ort präsent sei, zu den Pluspunkten des Staatenbunds.
Das größte Renommée erworben hat sich indes der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR): Vor der höchsten juristischen Instanz auf dem Kontinent können 800 Millionen Bürger nach Durchlaufen des nationalen Rechtswegs wegen Verletzung ihrer Grundrechte klagen. Das Kollegium des Präsidenten Jean-Paul Costa (Frankreich) ist kein Strafgericht, es dient dem Schutz des Einzelnen vor der Staatsmacht. Die 47 Richter können keine nationalen Gesetze diktieren, trotzdem geht von ihren Entscheidungen ein entsprechender Druck aus: Spricht Straßburg einem Beschwerdeführer Schadensersatz zu, so müsste ein Land in ähnlich gelagerten Fällen ebenfalls mit Strafzahlungen rechnen.
Die meisten Urteile betreffen einige wenige Staaten wie Russland, die Türkei, Italien, Rumänien oder die Ukraine. Ankara wurde häufig etwa wegen der Zerstörung von Privathäusern bei Feldzügen gegen kurdische Aufständische oder wegen Verstößen gegen die Meinungsfreiheit zu Schadensersatz für Betroffene verurteilt. Moskau geriet wegen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien oder wegen unhaltbarer Zustände in Gefängnissen ins Visier der Europarats-Richter. Italien wird oft wegen überlanger Prozessdauer kritisiert.
Ein zwiespältiges Verhältnis hat der Gerichtshof zur Medienfreiheit. Zwar hob Straßburg mehrfach Urteile gegen Journalisten auf, die zu Hause wegen "Verleumdung" belangt worden waren. Straßburg hat die Pressefreiheit aber auch eingeschränkt: So erlaubt das berühmte "Caroline-Urteil" die Veröffentlichung von Fotos, die Prominente bei privaten Aktivitäten in der Öffentlichkeit zeigen, nur mit deren Zustimmung. Heikel über den Einzelfall hinaus mutet ein Sieg Jean-Marie Le Pens an: Der Gerichtshof erkannte dem Rechtsaußen eine Entschädigung wegen "Verleumdung" zu, weil er in einem - polemischen - Buch für zwei von militanten Rechtsextremisten begangene Morde politisch mitverantwortlich gemacht wurde. Die Europarats-Richter dekretierten, bei Werturteilen müsse ein "Minimum an Mäßigung und Anstand" gewahrt werden.
Streitfälle aus Deutschland münden selten in eine Entscheidung zugunsten der Beschwerdeführer, "Caroline" gehört zu den Ausnahmen. Einmal befand der Gerichtshof, dass der Einsatz von Brechmitteln bei mutmaßlichen Drogendealern eine unzulässige, weil unmenschliche Vorgehensweise sei. Schlagzeilen hat Straßburg mit der Abweisung der Klage der Preußischen Treuhand gemacht, die auf eine Rückgabe einst deutscher Besitztümer zielte, die nach dem Krieg in Polen enteignet worden waren.
Costas Kollegium droht an seinem Erfolg zu ersticken: An die 100.000 unbearbeitete Verfahren haben sich beim EGMR aufgestaut. Mehr Effizienz will eine Reform des Gerichtshofs erreichen, die jedoch von Russland als einzigem Staat blockiert wird - vermutlich aus Verärgerung wegen der gegen Moskau gerichteten Urteile. Für Hörster ist das eine Enttäuschung: "Dass diese Reform nicht gelingt, ist im Jubiläumsjahr sehr bedauerlich."