NS-Unrecht
Rechtsausschuss billigt einstimmig die Aufhebung der Urteile wegen »Kriegsverrat«
Wenn der Bundestag am 8. September zu seiner wohl letzten Sitzung dieser Legislaturperiode zusammenkommt, wird er 70 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine Gruppe von Wehrmachtssoldaten rehabilitieren, die bis heute nach zumindest juristischen Maßstäben als rechtskräftig verurteilte Verbrecher gelten: die sogenannten "Kriegsverräter". Gemeint sind damit jene deutschen Soldaten und Zivilisten, die nach dem damals geltenden Militärstrafgesetzbuch wegen "Kriegsverrat" verurteilt worden waren - in den meisten Fällen mit dem Tod. Diese Urteile sollen nun pauschal aufgehoben werden. Der Rechtsausschuss empfahl in seiner Sitzung am 26. August dem Bundestag einstimmig, den entsprechenden Gesetzentwurf ( 16/13654) von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen in der zweiten und dritten Lesung anzunehmen. Die Verabschiedung dieses Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafpflege gilt somit als gesichert.
Möglich geworden war diese fraktionsübergreifende Gesetzesinitiative, weil Teile der CDU/CSU-Fraktion ihren ursprünglichen Widerstand gegen eine pauschale Rehabilitierung der "Kriegsverräter" unter dem politischen Druck innerhalb der Koalition schließlich aufgaben und bereit waren, an einem Gesetz unter Ausschluss der Linksfraktion mitzuwirken. Der CSU-Abgeordnete Norbert Geis und andere Parlamentarier aus den Reihen der Union hatten stets argumentiert, es sei nicht auszuschließen, dass verurteilte "Kriegsverräter" ihren Kameraden oder der Zivilbevölkerung geschadet hätten, indem sie zum Beispiel den Alliierten Informationen zuspielten. Deshalb sei eine Rehabilitierung nur nach einer vorherigen Einzelfallprüfung möglich.
Die Linksfraktion hatte bereits im Oktober 2006 einen Gesetzentwurf zur pauschalen Rehabilitierung ( 16/3139) vorgelegt. Sie stützte sich dabei auf die Studie "Das letzte Tabu" der Historiker Wolfram Wette und Detlef Vogel, die dargelegt hatten, dass kein einziger Fall bekannt sei, in dem ein verurteilter Kriegsverräter seinen Kameraden oder Zivilisten geschadet habe. Vielmehr seien in der Regel einfache Soldaten zum Tod verurteilt worden, weil sie Juden oder Kriegsgefangenen geholfen oder sich kritisch über das NS-Regime geäußert hatten. Auch der jetzt zu beschließende Gesetzesentwurf beruft sich auf diese Studie.
Nach einer Expertenanhörung im Bundestag legten schließlich 24 Abgeordnete der SPD, 38 der Grünen und 39 der Linken im Juni dieses Jahres einen weiteren inhaltsgleichen Gesetzesentwurf ( 16/13405) vor.
Den politischen Durchbruch für die pauschale Rehabilitierung der Kriegsverräter brachte vor allem ein Gutachten des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Hans Hugo Klein, das das Bundesjustizministerium im Frühjahr 2009 in Auftrag gegeben hatte. Klein kam zu dem Schluss, dass der Straftatbestand des "Kriegsverrats" nach dem damaligen Paragraf 57 des Militärstrafgesetzbuches mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sei. Zudem seien von 1934 an durch eine Gesetzesnovelle die Kriterien für "Kriegsverrat" drastisch verschärft und statt Zuchthaus die Todesstrafe als alleinige Strafandrohung eingeführt worden. Diese Ausweitung des Straftatbestandes in Verbindung mit der Todesstrafe diente dem NS-Regime als Instrument "zur unnachsichtigen Verfolgung jeder der nationalsozialistischen ,Bewegung' feindlich oder auch nur ablehnend begegnenden Gesinnung", wie Klein ausführte.
Mit der Aufhebung der Kriegsverräter-Urteile endet eine lange und emotionale Debatte in Deutschland über den Umgang mit den Urteilen der Militärgerichtsbarkeit im NS-System. Einen ersten parlamentarischen Höhepunkt erreichte die Diskussion am 15. Mai 1997, als der Bundestag unter dem Eindruck eines Urteils des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 1995 einen Entschließungsantrag verabschiedete, in dem der Zweite Weltkrieg als "Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen" charakterisiert wurde. Zudem erklärte das Parlament, dass die verhängten Urteile der Wehrmachtsjustiz wegen Kriegsdienstverweigerung, Desertion oder Wehrkraftzersetzung "Unrecht waren".
Konsequent umgesetzt wurde diese Entschließung mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege, das der Bundestag am 28. Mai 1998 beschloss. Mit diesem Gesetz wurden Millionen Urteile, die "zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtssystems aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen" sind, aufgehoben. Unter dieses Gesetz fielen alle Urteile, die durch den Volksgerichtshof und die ab 1945 eingesetzten Standgerichte gefällt worden waren. Dazu gehörten auch Urteile wegen Kriegsdienstverweigerung und Wehrkraftzersetzung. Nicht aufgehoben wurden allerdings die Urteile gegen Deserteure, die durch Militärgerichte verhängt worden waren.
Anfang 2001 brachte die damalige PDS schließlich einen Antrag in den Bundestag ein, der die pauschale Rehabilitierung auch von Wehrmachtsdeserteuren forderte. Dieser Antrag brachte die Koalition aus SPD und Grünen unter Zugzwang, denn bei der PDS-Initiative handelte es sich um einen früheren wortgleichen Antrag der Sozialdemokraten. Mit den Stimmen von SPD, Grünen und PDS verabschiedete der Bundestag am 17. Mai 2002 schließlich einen Gesetzesentwurf der Koalitionsfraktionen, der das NS-Aufhebungsgesetz auf die Urteile gegen Deserteure ausweitete und diese somit aufhob. Union und FDP hatten bis zuletzt für eine Einzelfallprüfung der Urteile plädiert. Durch die pauschale Rehabilitierung werde "jeder Soldat, der nicht desertierte, moralisch abqualifiziert", argumentierte der CDU-Abgeordnete Jürgen Gehb in der Schlussdebatte über die Novelle.