SZENARIO 2050
Wie Familie Schmidt-Yesil in vierzig Jahren lebt, wohnt und arbeitet. Blick in eine nachhaltige Zukunft
Familie Schmidt-Yesil wohnt in München in einem Einfamilienplusenergiehaus mit solarer Stromproduktion. Die älteste Tochter Esna studiert in Hamburg im ersten Semester; erst seit kurzem wohnt sie in einer Mehrgenerationen-WG in einem renovierten 1990er Jahre-Altbau mit eigenem Mini-Blockheizkraftwerk. Heute geht es bei Familie Schmidt-Yesil hektisch zu. Die Zwillinge Max und Mert sind nervös vor einer Prüfung im Nachhaltigkeitsunterricht. Über 3rd Life hatten die Geschwister mit einem Jungen aus Serbien gelernt - dies ist seit der Angleichung der Unterrichtsinhalte in allen EU-Ländern möglich. In diesem Schuljahr steht Nachhaltigkeitsgeschichte auf dem Lehrplan.
Vollkommen überrascht waren die 15-Jährigen, als der Lehrer erklärte, dass Produkte früher kein Label hatten, das ihre Nachhaltigkeit anzeigt. Es gab lediglich Effizienzklassen für weiße Ware. Umgebungs- oder Bewegungsenergie wurde schon gar nicht genutzt. Unvorstellbar für Max und Mert, die daran gewöhnt sind, dass jeder ihrer Schritte im Haus in Energie verwandelt wird. Damit wird dann zum Beispiel der Akku ihres Lieblings-Geräts aufgeladen: Der 3-D-Drucker, der von Fußbällen bis hin zu Geschirr alle möglichen Gegenstände ausdrucken kann. Beim Frühstück erzählen sie den Eltern, was sie in Nachhaltigkeitsgeschichte über die vergangenen 20 Jahre gelernt haben.
Mutter Hannah fährt heute ausnahmsweise mit dem E-Taxi zur Arbeit. Eigene Pkw gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Stattdessen nutzen alle die öffentlichen Mobilitätsdienstleistungen: Per Handheld lassen sich Routen zeitgenau und intermodal planen. Die weite Flächenabdeckung des effizienten Verkehrssystems konnte der Landflucht entgegen wirken. Zurzeit wird ein solarbetriebenes Gondelsystem für die EU diskutiert und in den Niederlanden getestet.
Hannah arbeitet als Vorstandvorsitzende bei den lokalen Stadtwerken. Diese fungieren heute nicht mehr als Energieversorger, sondern ausschließlich als Betreiber der intelligenten Netze. Viele Haushalte leben weitestgehend energieautark und speisen Strom ins Netz ein. Heute empfängt Hannah Projektmitarbeiter eines EU-Forschungszentrums. Dort arbeitet eine Gruppe immer noch ergebnislos an der Kernfusion. Erfolge gibt es im Bereich Space Solar; der Bau gigantischer Solaranlagen im All wurde aufgrund weit verbreiteter Bedenken in der Öffentlichkeit jedoch (noch) nicht eingeführt. Gestern hat Hannah eine Fotovoltaik-Anlage in der nigerianischen Partnerstadt besichtigt. In weiten Teilen Sub-Sahara Afrikas hat sich die dezentrale Versorgung durchgesetzt und so einem Großteil der Bevölkerung den Zugang zu Strom ermöglicht. Auf Dienstreisen bevorzugt die Mutter Nachtflüge; dank der geräuschlosen und CO2-freien Flugzeuge sind diese inzwischen erlaubt.
Vater Kerim, Professor für Bionische Architektur, arbeitet wie die Hälfte der Erwerbstätigen in Deutschland im Home Office. Er bereitet seine Rede zur Grundsteinlegung der ersten bionischen Neubausiedlung in der Region vor. Besonders hervorheben will er die Wasserversorgung: Die Häuser reinigen Regenwasser auf Trinkwasserqualität und werden zu einem "virtuellen Wasserwerk" der Siedlung integriert, das weitestgehende Selbstversorgung ermöglicht. Zwischendurch liest er den News-Ticker auf der digitalen Oberfläche seines Schreibtisches. Er ist froh über sein papierloses Haus und denkt kurz an früher und die riesigen Müllberge zurück.
Am Abend widmet sich Hannah der Gartenpflege und überprüft im Haussystem die Bewässerungsanlage für das Gemüsebeet. Seit fünf Jahren nimmt die Familie an dem EU-geförderten Programm "Urban Farming" teil. Agrarsubventionen sind Geschichte.
Das Haussystem lässt sich per Touch-Screen programmieren und steuert zentral die gesamte Technik wie Klimatisierung, Schaltung der elektrischen Haushaltsgeräte sowie den hausinternen Stromspeicher. Kerim ist für das Abendessen zuständig und wirft einen Blick auf das Kühlschrank-Display, das Produkte mit bald ablaufendem Verfallsdatum anzeigt.
Familie Schmidt-Yesil gehört einer inzwischen weltweiten vegetarischen Bewegung an: Vornehmlich zur Treibhausgasreduktion verzichten in Deutschland inzwischen circa 25 Millionen Menschen auf Fleisch. Vor dem Essen werden die Zwillinge noch zum Händewaschen ermahnt. Prompt vergessen sie das Licht auszuschalten. Gut, dass intelligente Sicherheitssensoren die LED-Beleuchtung im Bad ausschalten, als die beiden Geschwister in die Küche stürmen.
Die Autorinnen sind Zukunftsforscherinnen für das Beratungsunternehmen z_punkt.