Vor 90 Jahren wurde die deutsche Nationalversammlung gewählt
Es ist wohl einer der berühmtesten Momente der deutschen
Geschichte: Am 9. November 1918 gegen zwei Uhr nachmittags
verkündete der SPD-Politiker Philipp Scheidemann von einem
Fenster des Reichstags aus einer jubelnden Menschenmenge das Ende
der Monarchie und proklamierte die "Deutsche Republik".
Weniger bekannt ist, dass der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert, dem
zwei Stunden zuvor Prinz Max von Baden sein Amt als Reichskanzler
übertragen hatte, alles andere als erfreut über dieses
Vorgehen war. "Du hast kein Recht, die Republik auszurufen!",
schrie er seinen Parteifreund an. "Was aus Deutschland wird, ob
Republik oder was sonst, entscheidet eine Konstituante!" –
also eine verfassunggebende Nationalversammlung.
Dass sich Ebert mit diesem Demokratieverständnis würde durchsetzen können, war zum damaligen Zeitpunkt mehr als ungewiss. Denn im "Rat der Volksbeauftragten", der am 9. November gebildeten Übergangsregierung, saßen neben Ebert und zwei weiteren Sozialdemokraten auch drei Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), die sich 1917 von der SPD abgespalten hatte.
Und die sahen die Chance, die revolutionäre Stimmung nach der
verheerenden Kriegsniederlage des Deutschen Reichs zu nutzen, um
ein Rätesystem zu errichten und umfassende Sozialisierungen
vorzunehmen. An einer baldigen Wahl einer Nationalversammlung, die
eine parlamentarische Regierung bilden, ein Staatsoberhaupt
wählen und eine neue Verfassung ausarbeiten sollte, war ihnen
daher nicht unbedingt gelegen.
Doch gelang es Ebert schließlich, sich in dieser Frage durchzusetzen: Am 30. November 1918 beschloss der "Rat der Volksbeauftragten" Wahlen zur Nationalversammlung für den 19. Januar 1919. Bestätigt wurde der Termin vom Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte, der Mitte Dezember 1918 in Berlin tagte.
Überschattet wurden die Vorbereitungen zur Wahl vom Bruch des
Bündnisses zwischen USPD und SPD. Der Konflikt eskalierte in
den so genannten Januarunruhen. Dabei lieferten sich in Berlin
Regierungstruppen der SPD mit Vertretern von USPD und KPD blutige
Straßenkämpfe, an denen auf Seiten der Regierungstruppen
rechtsgerichtete Freikorps teilnahmen. Sie ermordeten am 15. Januar
die beiden KPD-Führer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.
Trotz der Unruhen fanden die Wahlen am vorgesehenen Termin statt. Da Frauen erstmals auf Reichsebene das aktive und passive Wahlrecht erhielten und das Wahlalter von 25 auf 20 Jahre gesenkt wurde, waren gut zweieinhalb Mal so viele Menschen wahlberechtigt wie bei der letzten Reichstagswahl 1912. Insgesamt durften 36,7 Millionen Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme abgeben.
Eine große Mehrheit machte von diesem Recht Gebrauch: Die Wahlbeteiligung lag bei rund 83 Prozent. Die Frauen gingen ebenso zahlreich zu den Urnen wie die Männer, und 37 weibliche Abgeordnete schafften auf Anhieb den Sprung in den Reichstag.
Klare Wahlsiegerin war die SPD. Sie ging mit 165 von 423 Mandaten als stärkste Fraktion aus den Wahlen hervor. Die USPD hingegen erreichte lediglich 22 Sitze.
Zweitstärkste Partei wurde mit 91 Abgeordneten das katholische
Zentrum. Die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) kam
auf 75 Sitze, die rechtsliberale Deutsche Volkspartei (DVP) errang
19 Mandate.
Die als Sammelpartei rechtskonservativer, antisemitischer und völkischer Gruppierungen gegründete monarchistische Deutschnationale Volkspartei (DNVP) zog mit 44 Abgeordneten in die Nationalversammlung ein.
Die erst wenige Wochen alte Kommunistische Partei Deutschlands
(KPD) hatte die Wahlen boykottiert und war daher nicht in der
Nationalversammlung vertreten.
Insgesamt bedeutete das Wahlergebnis einen deutlichen Sieg für die Anhänger der parlamentarischen Demokratie und eine klare Niederlage für deren Gegner im linken und rechten Parteienspektrum.
Da die Unruhen in Berlin andauerten, kamen die gewählten
Abgeordneten am 6. Februar 1919 in Weimar zu ihrer konstituierenden
Sitzung zusammen. Wenige Tage später wählten sie Ebert
zum ersten Reichspräsidenten. Die schwierige Arbeit der
Nationalversammlung konnte beginnen.