„Demokratie ohne Demokraten funktioniert nicht“. Mit diesem Argument begründete der SPD-Bundestagsabgeordnete Jörn Thießen seinen Vorstoß für eine Wahlpflicht in Deutschland. Vorausgegangen war die Europawahl mit einem historischen Tief von 43,2 Prozent Wahlbeteiligung. Selbst eine theoretisch mögliche absolute Mehrheit hätte demnach nur 21,6 Prozent der Bevölkerung entsprochen. Sind solche Wahlergebnisse noch repräsentativ? Und wie steht es mit der Legitimation von politischen Entscheidungen?
Für Thießen ist der Fall klar: „Wir Politiker müssen im Parlament abstimmen - das kann man auch von den Wählern verlangen“, kontert der studierte Theologe und verweist dabei auf Belgien, das seinen Bürgern den Gang an die Wahlurne vorschreibt. Bei Nichterfüllung werden 50 Euro Geldstrafe fällig. Eine ähnliche Sanktionierung schwebt Thießen auch für Deutschland vor.
Doch eine genauere Betrachtung der Ursachen von Wählerabstinenz lohnt. „Die Wahlbeteiligung spiegelt den gesellschaftlichen Wandel wider“, sagte der Wahlexperte und Politikwissenschaftler an der Universität Erlangen-Nürnberg, Dr. Michael Krennerich. „Der Gang zur Wahlurne aus staatsbürgerlichem Bewusstsein ist für viele Menschen vorbei.“
Dennoch steht Deutschland im internationalen Vergleich mit durchschnittlich rund 78 Prozent Beteiligung bei den Bundestagswahlen nicht schlecht da. Bei den Europawahlen allerdings sieht Krennerich den Grund für das Wegbleiben der Wähler vor allem bei der Politik. Die Parteien hätten es nicht verstanden, Werbung für Europa zu machen, sagte er. Auch die Vermittlung von europabezogenen Themen sei nicht gelungen.
Die meisten Demokratien weltweit kennen keine Wahlpflicht. In Europa beispielsweise verpflichten nur Belgien, Griechenland, Zypern, Liechtenstein und Luxemburg ihre Bürger zur Stimmabgabe. Auch die Niederlande, die Schweiz, Österreich und Italien hatten über viele Jahrzehnte eine verfassungsrechtlich festgeschriebene Wahlpflicht. Geahndet allerdings werden Verstöße nur in einigen Ländern wie in Belgien. Im Gegenzug liegt die Wahlbeteiligung dort konstant bei 90 Prozent.
„Generelles Argument für eine Wahlpflicht ist eine höhere Legitimation der Politik“, sagt Krennerich. „In Deutschland aber würde die Wahlpflicht das Prinzip von freien Wahlen verletzten und wäre damit
verfassungswidrig.“ Im Artikel 38 des Grundgesetzes ist geregelt, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in „allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen gewählt werden“.
Außerdem ändert der vorgeschriebene Gang an die Wahlurne nichts an den Ursachen von Politikverdrossenheit. „Es kommt darauf an, Interesse an Politik zu wecken. Dazu gehören eine entsprechende inhaltliche Politikvermittlung und eine überzeugende Präsentation der Parteien“, meint Krennerich.
Befürworter einer Wahlpflicht verweisen noch auf die demokratische Pflicht von Bürgern sich einzumischen oder argumentieren, dass schließlich auch der Wehrdienst und die Bezahlung von Steuern Bürgerpflicht sei. Ein Argument allerdings, dass bei geringer Wahlbeteiligung extremistische Parteien einen Vorteil hätten, lässt sich nicht eindeutig belegen. Ein Beispiel aus der Geschichte sind die letzten freien Wahlen 1933 in der Weimarer Republik. Die Wahlbeteiligung lag bei traumhaften 88,7 Prozent. Der große Wahlgewinner aber war die nationalsozialistische NSDAP mit rund 44 Prozent der Stimmen. Alle demokratischen Parteien hatten herbe Verluste hinnehmen müssen.
Lediglich in Lateinamerika ist eine obligatorische Wahlbeteiligung weit verbreitet und historisch gewachsen. „Das ist Bestandteil einer verfassungsrechtlichen Tradition und wenig umstritten“, sagt Krennerich. In Argentinien beispielsweise besteht seit 1912 eine in der Verfassung verankerte Wahlpflicht. Doch auf dem Kontinent gibt es große Unterschiede, ob die Einhaltung der Wahlpflicht kontrolliert und sanktioniert wird.
Eines der wenigen Länder mit einer Strafe für Nichtwähler ist Chile. In anderen Ländern wie Ecuador, Bolivien, Brasilien, Peru, Uruguay und Costa Rica sind Geldstrafen möglich, werden aber gar nicht oder nur weniger streng geahndet. Als Ergebnis schwankt auch in Lateinamerika die Wahlbeteiligung stark.