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In der Cafeteria im Reichstagsgebäude hat der Maler Bernhard Heisig, einer der bedeutendsten Vertreter der "Leipziger Schule" in der DDR, ein aufwühlendes Panorama deutscher Geschichte entworfen. Sein Gemälde "Zeit und Leben" knüpft an die Tradition des deutschen Expressionismus an. Eine kaum überschaubare Fülle von Bildmotiven kreist unter anderem um Themen aus der Geschichte Friedrichs des Großen, entlarvt das opportunistische Mitläufertum des "Pflichttäters" oder greift die für die Kunst in der DDR so bedeutende und bezeichnende Ikarus-Metapher auf. Eindrucksvoll verlebendigt Heisigs Gemäldefries Täter, Opfer und Mitläufer und wirft die Frage nach der Selbstbehauptung des Einzelnen gegenüber staatlicher Gewalt und Bevormundung auf, nach seiner Chance, ein ethisch verantwortetes, selbstbestimmtes Leben zu führen.
Wie eine Abfolge von Filmschnitten sind die einzelnen Szenen aneinandergereiht, überlagern und überschneiden sich jedoch vielfach. Am linken Bildrand eröffnen die schwarz-rot-goldenen Farben der Revolution von 1848 das dramatische Geschehen. Hinter einem sterbenden Soldaten wird das Motiv des preußischen Wappenadlers sichtbar, oberhalb der steinernen Büste Bismarcks schlägt eine große, altmodische Pendeluhr die Stunde. Ein menschliches Skelett versucht, Friedrich den Großen zu ergreifen und mit sich fortzuziehen, während der alte König den Totenschädel seines Jugendfreunds Katte in der Hand hält. An diese traumatische Erfahrung Friedrichs wird erneut durch die angrenzende Kerkertür erinnert, denn Friedrich wurde von seinem Vater gezwungen, aus dem Kerker heraus die Enthauptung seines Freundes mit anzuschauen. In die Kerkertür ist die Rückenfigur eines osteuropäischen Juden im Kaftan eingezwängt, dessen ausgestreckte Arme zum Doppelporträt Hitlers mit Totenkopf und bekrönenden Propagandalautsprechern überleiten. Unterhalb dieser Szene zitiert Heisig das letzte Selbstporträt von Felix Nussbaum, "Selbstbildnis mit Judenpaß" aus dem Jahre 1943, das kurz vor Nussbaums Deportierung und Ermordung entstand. Die zentrale Figur des Kriegsinvaliden, der als opportunistischer "Pflichttäter" entlarvt wird, hebt rechthaberisch-belehrend den Zeigefinger, während neben ihm eine rot leuchtende monumentale Uhr fünf vor zwölf anzeigt.
Das grün gerahmte Storchenwappen vom Domstift St. Petri in Bautzen, ein Liebespaar, die Standfigur des Roland von Stendal mit dem brandenburgischen Adlerwappen sowie am unteren Rand des Gemäldes ein Selbstporträt des Malers leiten über zu dessen brandenburgischen Heimat. Nur wenige Kilometer von Heisigs Atelier entfernt stürzte Otto Lilienthal ab. Sein Fluggerät in der rechten oberen Ecke des Gemäldes erinnert an den Ikarus- Mythos, der für viele Künstler in der DDR zum Sinnbild der gescheiterten Utopie und der Sehnsucht nach Freiheit wurde. Die bedrängende Abfolge traumatisierender Geschichtsbilder schließt dennoch mit einem Bild der Hoffnung: Ein kleiner Junge hält seinen rosaroten Flugdrachen auf grüner Wiese, dem Lied der DDR-Band "Puhdys" folgend " ... laß’ deinen Drachen steigen" - Ausdruck der Sehnsucht, dass die Irrungen und Wirrungen deutscher Geschichte nunmehr überwunden sein mögen.
geboren 1925 in Breslau, lebt und arbeitet in Strodehne, Brandenburg.
Text: Andreas Kaernbach
Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages