Ein unruhiger Sommer geht der Bundestagswahl im September 1998 voraus. Die Menschen protestieren gegen die Reformvorhaben der Regierung. Nach steigenden Arbeitslosenzahlen sorgen sie sich um Wirtschaft und soziale Sicherheit. „Reformstau“ war im Vorjahr „Wort des Jahres“, „Rot-Grün“ wird das des Jahres 1998. Gerhard Schröder tritt als fünfter Sozialdemokrat nach den vergeblichen Anläufen an, Helmut Kohl als Kanzler zu beerben. Nie zuvor wird der Wahlausgang mit so viel Spannung erwartet. Gelingt der regierenden Koalition der Stimmungsumschwung, kommt die Große Koalition oder erhalten SPD und Grüne eine klare Mehrheit?
In den Umfragen vor der Wahl führt Kanzler-Herausforderer Gerhard Schröder weit vor Amtsinhaber Dr. Helmut Kohl. Die Themen Arbeitslosigkeit, Wirtschaftspolitik und Reformen sowie der Wunsch nach politischer und personeller Veränderung beherrschen den Wahlkampf. Die Regierung legt ein Reformpakt vor, das Steuersenkungen vorsieht. Die geplanten Streichungen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall führen allerdings zu Protesten. Das "Bündnis für Arbeit“ scheitert nach kurzer Zeit.
Die CDU tritt zum fünften Mal mit Kohl an. Der Wahlkampf der CDU ist auf die Person des Kanzlers ausgerichtet, mit Slogans wie "Weltklasse für Deutschland“ soll der Erfolg des Bewährten herausgestellt werden. Die CDU setzt zudem auf die Themen Deutsche Einheit und Währungsunion und vermittelt ein Bild von Stabilität und Sicherheit, offensiv führt sie Wahlkampf gegen eine mögliche rot-grüne Regierung.
Die SPD kürt den niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder zum Kanzlerkandidaten, der einen klaren Sieg bei der niedersächsischen Landtagswahl im März erringen konnte. Der 1944 in Westfalen geborene Schröder holte nach einer Lehre zum Einzelhandelskaufmann in der Abendschule die Mittlere Reife nach, später auch das Abitur. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften arbeitete er als Rechtsanwalt in Hannover und war von 1980 bis 1986 Bundestagsabgeordneter. Seit 1990 ist er Ministerpräsident von Niedersachsen.
Die SPD stellt sich als Veränderer dar, will mit Innovation und sozialer Gerechtigkeit punkten und wirbt für Rot-Grün.
Die CDU schaltet mehr als doppelt so viele Wahlspots in Fernsehen und Hörfunk als beim Wahlkampf 1994 und verfolgt eine konträre Strategie zur SPD. Sie sendet deutlich weniger Wahlwerbespots und setzt eher darauf, dass die Medien über ihre Wahlkampfführung berichten. Die Sozialdemokraten lagern ihre "Kampa 98“ aus den Parteigremien weitgehend aus, um Professionalität zu beweisen gemäß ihrem Slogan "Wir sind bereit“. Den Wahlkampf beginnen sie sehr früh, bereits im April 1997 startet eine Anzeigenkampagne. Nach einer wissenschaftlichen Analyse richtet sich ihr Wahlkampf auf bestimmte Personengruppen, die besonders wichtig für die Wahl angesehen werden, etwa Facharbeiter und junge Frauen in guten Positionen.
Die Wahlkampforganisation und -strategie der CDU bewerten Experten im Nachhinein als "ohne einheitliche Linie“, Personalentscheidungen sorgten für Dissonanzen.
Nach 18 Uhr am 27. September 1998 dann die Gewissheit: Die SPD wird stärkste Fraktion mit erheblichem Vorsprung vor der Union. Von 60,7 Millionen Wahlberechtigten sind knapp 50 Millionen zur Wahl gegangen - das entspricht einer Wahlbeteiligung von 82,2 Prozent - und mehr als 20 Millionen Wähler gaben ihre Stimme der SPD.
Niemals zuvor hat eine Partei so viele Stimmen erhalten. Die bisherigen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP erreichen nur 35,2 und. 6,2 Prozent der Stimmen. SPD (40,9 Prozent) und Grüne (6,7 Prozent) bilden eine Koalition, die erste rot-grüne auf Bundesebene.
Der Wahlsieg der SPD beendet schließlich eine Ära: die 16 Jahre dauernde Kanzlerschaft von Helmut Kohl, der damit länger als Konrad Adenauer regiert hat. Der "Kanzler der Einheit“ hat ausgerechnet in den neuen Bundesländern elf Prozent verloren, er tritt ab und legt auch den Parteivorsitz nieder.
Unionsparteien und FDP gehen neben der PDS (5,1 Prozent), die mit 36 Mandaten im neuen Bundestag erstmals in Fraktionsstärke vertreten ist, in die Opposition. Die Liberalen sind zum ersten Mal seit 29 Jahren nicht mehr an der Regierung beteiligt.
Der Ton des Machtwechsels nennt "Der Spiegel“ im Vergleich zur Wende 1982 "versöhnlich“: "Souveräner hätte die alte Bundesrepublik sich kaum verabschieden können.
Die deutliche Absage an alle Rechtsradikalen sowie die Fairness, mit der Helmut Kohl und seine Parteifreunde ihr Debakel akzeptierten, haben offenbart, dass die deutsche Nachkriegsdemokratie in Bonn verlässliche Fundamente gelegt hat.“