Glaubt man der Prognose der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, dann wird Deutschland im kommenden Jahr zum vierten Mal in Folge die Defizitgrenze des EU-Stabilitätspakts brechen. Das öffentliche Defizit werde bei rund 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen und das, obwohl die Wirtschaft im kommenden Jahr mit 1,5 Prozent zumindest für deutsche Verhältnisse relativ stark wächst, so die Institute in ihrem Herbstgutachten von Mitte Oktober.
Deutschland müsste somit eigentlich wie im vergangen Jahr mit Sanktionen durch die Europäische Union rechnen, da der Stabilitäts- und Wachstumspakt unter anderem eine Höchstgrenze von drei Prozent für das Haushaltsdefizit vorschreibt. Das heißt, dass die jährliche Neuverschuldung nicht mehr als drei Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmachen darf.
Doch anders als 2003, als Deutschland fast unmittelbar vor solchen Sanktionen stand, ist diesmal davon nichts zu hören. Heute schlägt die Kommission deutlich leisere Töne an. An neue Sanktionen für Deutschland denkt man in Brüssel derzeit offensichtlich nicht.
Dabei waren bisher diese Sanktionen für Staaten mit übermäßiger Verschuldung gewissermaßen das Herzstück des Stabilitätspakts. Gerade nach dem Willen Deutschlands sollten sie streng und schnell verhängt werden. So hatten es die EU-Staaten auf dem Gipfel von Amsterdam im Jahr 1997 beschlossen.
Doch die EU-Kommission ist dabei, ihre Vorstellung über die richtige Anwendung des Stabilitätspakts zu ändern. Die harte und automatische Anwendung von Sanktionen wird dabei in den Hintergrund rücken. Ein Grund ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg zum Streit über das Defizitverfahren aus dem Jahr 2003. Die EU-Staaten hatten sich damals über eine Empfehlung der Kommission hinweggesetzt, Deutschland und Frankreich mit Sanktionen zu drohen. Die Kommission hat in Luxemburg gegen diese Entscheidung geklagt, aber vor dem Europäischen Gerichtshof nur teilweise Recht bekommen. Damit war klar, dass die Kommission nicht ohne weiteres Sanktionen gegen einen Mitgliedstaat durchsetzen kann.
Auch inhaltlich denkt die Kommission um. Der zuständige Kommissar, der Spanier Joaquín Almunia, hat dazu im September Vorschläge gemacht, die zwar an den Gesetzestexten nichts ändern, nach denen jedoch die Defizitkriterien anders und in der Regel weniger streng ausgelegt werden.
In Zukunft sollen also die besonderen Bedingungen eines jeden Mitgliedstaats stärker berücksichtigt werden. So will sich Brüssel bei seinen Empfehlungen künftig nicht allein auf das Haushaltsdefizit eines einzelnen Jahres, sondern auf den absoluten Schuldenstand eines Mitgliedstaats konzentrieren. Mit jedem Mitgliedstaat sollen Pläne beschlossen werden, wie die Gesamtverschuldung mittelfristig zu reduzieren sei. Mildernde Umstände soll es künftig auch für Staaten geben, die unter andauernder Wirtschaftsschwäche leiden oder nur ein geringes Wachstum aufweisen. In einem solchen Fall will die Kommission akzeptieren, dass das Defizitkriterium von drei Prozent zeitweise überschritten wird. Bisher ist dies nach den Regeln des Stabilitätspakts nur in Zeiten eines Wirtschaftsabschwungs akzeptabel.
Im Gegenzug müssten die Mitgliedstaaten in Zeiten einer Hochkonjunktur sich strengere Auflagen zum Schuldenabbau gefallen lassen, auch wenn das Haushaltsdefizit in einer solchen Zeit weit geringer ausfällt als die magischen drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Außerdem will die Kommission die Koordinierung der Wirtschaftspolitik verstärken. Die Mitgliedstaaten sollen sich nach dem Willen der Kommission künftig besser bei der Planung ihrer Finanzpolitik absprechen.
Die Reformen stoßen innerhalb der EU auf ein sehr unterschiedliches Echo. Von der Bundesregierung und von vielen Mitgliedstaaten in der Eurozone werden sie begrüßt. Die neuen Kriterien führten dazu, dass die als zu starr empfundenen Regeln des Stabilitätspakts besser auf die Wirklichkeit abgestellt werden können. Sie sicherten, dass die Mitgliedstaaten die Konjunktur nicht kaputt sparten.
Skeptisch sind dagegen die Bundesbank und die Europäische Zentralbank. Beide Institutionen haben sich ablehnend zu den Reformvorschlägen der EU-Kommission geäußert. Sie fürchten, dass der Stabilitätspakt mit den Reformen seine Zähne verliert. Wenn eindeutige Regeln für die Verhängung von Sanktionen fehlen, dann, so ihr Argument, verlören sie ihre abschreckende Wirkung.
Text: Matthias Rumpf
Foto: picture-alliance
Erschienen am 01. November 2004
Stellungnahmen:
Pakt wirtschaftlich sinnvoll anwenden
Jörg-Otto Spiller, SPD
Kriterien strikt einhalten
Michael Meister, CDU/CSU
Kriterien erfüllen
Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen
Stabilitätskriterien im Grundgesetz verankern
Claudia Winterstein, FDP
Bundestagsdrucksachen im Internet
Information: Zuletzt wurde der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt auch im Bundestag behandelt. Dazu gab es Anträge der CDU/CSU und der FDP. Beide Oppositionsfraktionen setzten sich dafür ein, an den Stabilitätskriterien festzuhalten. Die Liberalen verlangten sogar, die Defizit- und Schuldenbegrenzung in das Grundgesetz aufzunehmen. Beide Vorlagen sollen zur Beratung an die Ausschüsse überwiesen werden.
Drucksachen 15/3957, 15/3719 und 15/3721