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Gültig ab: 29.06.2006 13:52
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Feinjustierung oder Generalrevision?

Bild: Das Ticket für die Rückkehr ins Berufsleben? Abrissmarken im Arbeitsamt Kassel.
Das Ticket für die Rückkehr ins Berufsleben? Abrissmarken im Arbeitsamt Kassel.

Forum: Zwischenbilanz Hartz IV

„Hartz IV“ steht auf dem Prüfstand. Die hochgesteckten Erwartungen an die größte Sozialreform in der Geschichte der Bundesrepublik wurden bislang enttäuscht. Die registrierte Arbeitslosigkeit verharrt nach wie vor weit über der 4-Millionen-Marke. Die geplanten Einsparungen für den Staat blieben aus, und die Effizienzgewinne bei der Vermittlung der Stellensuchenden nehmen sich bestenfalls bescheiden aus. Angesichts der öffentlichen Debatte um das so titulierte„Milliardengrab Hartz IV“ beschleicht die Steuerzahler der Verdacht, der Staat gehe nicht sorgsam genug mit den ihm anvertrauten Geldern um. Arbeitslosengeld-II-Empfänger wiederum fühlen sich als Sozialschmarotzer diffamiert und klagen über Leistungskürzungen.

Ist Hartz IV nach nur anderthalb Jahren schon gescheitert? „An der grundsätzlichen Idee, Arbeitslosenund Sozialhilfe zusammenzulegen, zweifele ich auch heute nicht – sie ist und bleibt richtig“, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/CSU) allen Problemen zum Trotz. „Aber das Hauptanliegen heißt, sich nicht in Hartz IV einzurichten – sondern aus Hartz IV wieder in richtige Arbeit zu kommen.“ Merkel gibt damit die Grundrichtung der Debatte vor. Weitgehend Einigkeit besteht auch bei dem Befund, dass Hartz IV nicht zum sozialen Abstellgleis verkümmern darf. Gleichwohl ist eine Diskussion darüber entbrannt, wie weiter zu verfahren ist. Reichen kleinere Nachjustierungen aus oder ist doch eine „Generalrevision“ nötig? Die Kontroverse rührt an Kernfragen der sozialen Gerechtigkeit – und an der Positionierung der Großen Koalition werden die Wähler beurteilen, welche Richtung das Land in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik einschlägt.

Die aktuelle Debatte in Gang gesetzt hat die ungünstige Entwicklung der Ausgaben. Zu den angesetzten 24,4 Milliarden Euro wird der Bund im laufenden Jahr womöglich drei Milliarden Euro zuschießen müssen. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) spricht vom „größten Haushaltsrisiko“ und prophezeit: „Wenn wir alles so lassen, wie es ist, fährt der Sozialstaat in zehn Jahren gegen die Wand.“ Ähnlich sehen das auch die Kommunen, die über die Unterhaltskosten an der Unterstützung der Langzeitarbeitslosen beteiligt sind. Selbst einige Wohlfahrtsverbände sprechen sich inzwischen dafür aus, bei den Transferleistungen zu sparen – weil sonst zu wenig Geld für andere soziale Projekte zur Verfügung stehe.

Explosive Kostenbilanz

Ist Hartz IV „Armut per Gesetz“, wie die Reformgegner bis heute beklagen? Oder ist Hartz IV im Gegenteil sogar ein Programm zum „unkontrollierten Sozialaufbau“, wie der Direktor des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, mutmaßt? Die Bewertung hängt davon ab, auf welche Zahlen man schaut. Wie kann es sein, dass Hartz IV einerseits Milliarden zu verschlingen scheint, die meisten Erwerbslosen, die früher Arbeitslosenhilfe bezogen haben, nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) aber trotzdem schlechter dastehen als vor der Reform? Aufschluss über die Kostenentwicklung gibt ein Bericht des Arbeitsministeriums. Danach gaben Bund, Länder und Gemeinden 2004, also im letzten Jahr vor Inkrafttreten der Hartz-IV-Reform, 38,6 Milliarden Euro für Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe und Wohngeld aus. 2005, im ersten Jahr von Hartz IV, zahlte der Staat insgesamt 44,4 Milliarden Euro für die Grundsicherung. Wäre es beim alten System geblieben, so eine Hochrechnung des Ministeriums, dann hätte der Staat 2005 insgesamt 43,5 Milliarden Euro locker machen müssen.

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Das sind zwar „nur“ knapp eine Milliarde Euro weniger als unter Hartz IV. IW-Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer gibt aber zu bedenken: „Wir wissen nicht, ob die jetzt sichtbaren Kosten tatsächlich auf mehr Leistungsansprüche oder schlicht auf mehr Transparenz zurückzuführen sind.“ Denn Hartz IV hat die Kosten der Jobmisere durch die Registrierung der arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger erst sichtbar gemacht.

Explosiver fällt die Bilanz aus, wenn man die bisherigen Planungen für 2006 anschaut: Danach soll Hartz IV immerhin 47,8 Milliarden Euro kosten – mithin rund zehn Milliarden Euro mehr als noch vor zwei Jahren. Für den Bund haben sich die die Kosten – gemessen am ursprünglichen Etatansatz von rund 14 Milliarden Euro – bis heute nahezu verdoppelt. Die Zahl der „Bedarfsgemeinschaften“ ist enorm gestiegen. Inzwischen registriert die Bundesagentur für Arbeit (BA) rund vier Millionen Haushalte oder sieben Millionen Menschen, die von Arbeitslosengeld II abhängig sind.

Doch hat Hartz IV auch Entwicklungen ausgelöst, mit denen beim Abfassen der Gesetzestexte niemand gerechnet hat: Allein die Zahl der „Aufstocker“, die einen niedrigen Lohn durch ergänzendes ALG II aufbessern, stieg inzwischen auf eine Million. Auch „Zellteilungen“ wurden attraktiv, die vermeintliche Trennung von einem (Ehe)Partner, um in den Genuss von Sozialleistungen zu kommen. Jüngere Arbeitslose nutzten die Übernahme der Unterkunftskosten durch die Ämter, um die erste eigene Wohnung zu finanzieren. Und nicht zuletzt, so kritisiert der Bundesrechnungshof, waren oder sind die Behörden mit der Flut der Langzeitarbeitslosen augenscheinlich überfordert. Weder die Vermögensverhältnisse noch die Krankmeldungen der Antragsteller würden hinreichend geprüft. Hinweisen, dass Hartz-IVEmpfänger gegen Auflagen verstießen, seien die Vermittler in sechs von zehn Fällen nicht nachgegangen.

Keine Zeit für Vermittlung

Auf der anderen Seite bleibt auch für die Vermittlung offensichtlich zu wenig Zeit. Rund die Hälfte der Langzeitarbeitslosen soll den Erkenntnissen der Prüfer zufolge trotz gesetzlicher Vorgaben noch immer keinen „Eingliederungsvertrag“ für die Rückkehr ins Berufsleben angeboten bekommen haben. Die bereitgestellten Milliarden für Weiterbildungskurse werden von den Arbeitsagenturen nur zögerlich abgerufen, die Jobcenter setzen überwiegend auf die umstrittenen Ein-Euro-Jobs, bei denen teilweise Verdrängungseffekte auf dem ersten Arbeitsmarkt entstehen.

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Auf die Kritik hat die Bundesregierung inzwischen reagiert. Seit April können Hartz-IV-Empfänger nur noch in Ausnahmefällen von zu Hause ausziehen. Den Rentenbeitrag für Langzeitarbeitslose hat die Regierung von 78 auf 40 Euro im Monat gekürzt. Einsparungen: mehr als zwei Milliarden Euro. Mit dem so genannten Fortentwicklungsgesetz sollen ab 2007 weitere 1,5 Milliarden Euro gespart werden. Kern der mehr als 70 geplanten Änderungen sind empfindliche Sanktionen für Arbeitsunwillige, Sofortangebote, mehr Kontrollen und eine Beweislastumkehr für eheähnliche Gemeinschaften. Wer binnen eines Jahres drei Job- oder Weiterbildungsangebote ablehnt, kann bis zu 100 Prozent der Geldleistung gestrichen bekommen, auch bei den Mietkostenzuschüssen drohen Kürzungen. Wer zwei Angebote ausschlägt, muss mit 60 Prozent Kürzung rechnen. Um die Arbeitswilligkeit zu prüfen, soll jeder Hartz-IVNeuling ein Job- oder Förderangebot bekommen.

Ob die eingeleiteten Maßnahmen ausreichen, wird jedoch zunehmend bezweifelt. „Das Grundproblem ist und bleibt, dass nicht ausreichend Arbeitsplätze da sind. Dafür dürfen Arbeitslose nicht auch noch bestraft werden“, kritisiert DGB-Sozialexpertin Annelie Buntenbach. „Genauso unerträglich ist, dass Langzeitarbeitslose unter einen generellen Missbrauchsverdacht gestellt werden und das Prinzip Fördern und Fordern zum großen Lauschangriff mutiert.“ Tatsächlich werden schärfere Sanktionen und Kontrollen allein kaum die Arbeitsmarktsituation verbessern. Die BA beziffert die Missbrauchsquote mit relativ moderaten sechs Prozent. „Prinzip muss sein, dass der, der arbeitet, merklich besser dastehen muss als der, der in der Arbeitslosigkeit verharrt“, fordert der Chef der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup. Im Visier der Kritiker stehen insbesondere die Zuschläge beim Übergang vom beitragsfinanzierten Arbeitslosengeld I zum steuerfinanzierten ALG II, die im ersten Jahr bis zu 160 Euro pro Monat betragen. Würden diese gestrichen, könnte der Bund weitere 700 Millionen Euro sparen. Zusätzlich sollte nach Einschätzung von Ökonomen die anrechnungsfreie Hinzuverdienstgrenze von derzeit nur 160 Euro monatlich spürbar angehoben werden, damit sich die Aufnahme eines Jobs neben Hartz IV lohnt.

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Regelsätze, die sich seit Anfang Juli im Osten wie im Westen auf 345 Euro monatlich belaufen. Exakt 339,64 Euro frei verfügbare Geldleistungen erhält nach BA-Angaben im Schnitt jede Bedarfsgemeinschaft. Zählt man Leistungen für Unterkunft, Heizung und Sozialversicherungsbeiträge hinzu, summieren sich die Leistungen pro Hartz-IV-Haushalt auf durchschnittlich 831 Euro pro Monat. In Einzelfällen, etwa bei einem erwerbslosen Ehepaar mit zwei Kindern, können die staatlichen Transfers einschließlich der Wohnkosten aber auch auf bis zu 1.900 Euro im Monat steigen. Bei einer 40-Stunden-Woche müsste ein Alleinverdiener mit Familie mindestens zwölf Euro netto pro Stunde verdienen, um ein vergleichbares Einkommen wie als ALG-II-Empfänger zu erzielen – ein Stundensatz, von dem Taxifahrer oder Friseure mit Bruttostundenlöhnen von teils deutlich unter fünf Euro oft nur träumen können.

Damit ist die größte Herausforderung für die große Koalition benannt: Sie muss Hartz IV so umgestalten, dass sich die Aufnahme einer Beschäftigung lohnt – und sie muss zugleich dafür sorgen, dass erwerbslose Hilfeempfänger auch in Zukunft eine menschenwürdige Existenz bestreiten können.

Text: Peter Hahne
Erschienen am 6. Juli 2006

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