Rücken die Europäer näher zusammen? Gregor Gysi (links) und Adam Krzeminski
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Streitgespräch: Gregor Gysi und Adam Krzeminski
Was sind in der heutigen Situation die Perspektiven, wo kann, wo soll es
mit Europa hingehen? Im Streitgespräch von BLICKPUNKT BUNDESTAG begegnen
sich zwei Europäer, die eines eint: Sie sind in einem Land des Ostblocks
politisch groß geworden, der eine in Polen, der andere in der DDR. Adam
Krzeminski ist Redakteur der Wochenzeitung „Polityka” und einer der besten
Kenner Deutschlands in Polen. Mit ihm diskutiert Gregor Gysi, Vorsitzender
der Fraktion Die Linke im Bundestag, die beim Bundesverfassungsgericht
gegen den Lissabon-Vertrag geklagt hat.
Blickpunkt Bundestag:
Zukunft Europas –
was ist Ihre Vision, Herr Krzeminski?
Adam Krzeminski:
Ich hoffe, dass Europa
langfristig eine starke Entität wird,
sich im globalen Wettbewerb durchsetzen
kann und nicht mehr abhängig
ist von den Egoismen der einzelnen Nationalstaaten,
so wie wir das im 19. und
20. Jahrhundert erfahren haben.
Blickpunkt Bundestag:
Herr Gysi – ist Adam
Krzeminskis Vision eine Illusion?
Gregor Gysi:
Wenn man in langen
Zeiträumen denkt, nicht. Denn immer
mehr Menschen in Europa erkennen:
Wir verhindern – im Unterschied zu früheren
Jahrhunderten – Kriege zwischen
europäischen Staaten nur, wenn wir zusammenstehen.
Und: Europa hat weltweit nur ein Gewicht, wenn es in den
großen Fragen einig ist.
Adam Krzeminski:
So ist es.
Blickpunkt Bundestag:
Die EU hat sich bei der
Finanzkrise gerade als erstaunlich stark
und handlungsfähig erwiesen. Sind wir
also schon weiter, als Sie glauben?
Gregor Gysi:
Ganz klar: Die EU ist politisch wie
ökonomisch unersetzbar. Das bedeutet
nicht, dass man keine Kritik an ihren
Strukturen und Inhalten haben darf.
Alle, inklusive Frau Merkel, haben jetzt
begriffen: Es geht nur international und
europäisch – oder gar nicht. Das ist ein
Fortschritt. Denn das war nicht immer so.
Ich hoffe, dass die nervige Zeit des kleinkarierten
Mistes dauerhaft vorbei ist.
Adam Krzeminski:
Wie wichtig die EU heute ist, zeigen drei Punkte: Erstens der Balkan.
Hätte das alte Jugoslawien die
Chance erhalten, in die damalige EWG
aufgenommen zu werden, wäre es später
nicht zu den fürchterlichen Kriegen auf
dem Balkan gekommen. Denn allein die
Perspektive, zu Europa zu gehören, hat
eine enorm disziplinierende Wirkung.
Zweitens: Die EU hat 2004 während der
orangenen Revolution in der Ukraine eine
sehr konstruktive Vermittlerrolle gespielt
und drittens in der Georgienkrise eine klare,
gemeinsame und eindeutige Haltung
gegenüber Russland gezeigt. Das beweist
das gewachsene Gewicht der EU.
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Blickpunkt Bundestag:
Im Zuge der Finanzkrise
scheint die EU auf eine neue Form der
Marktwirtschaft
hinzusteuern – weg vom
Neoliberalismus
und wieder mehr Dirigismus
und europäischer Sozialstaat. Das
müsste Ihnen, Herr Gysi, doch gefallen?
Gregor Gysi:
Die Logik zwingt zu diesem Kurs.
Aber ob er sich auch dauerhaft durchsetzt,
weiß ich noch nicht. Nach dieser
Finanzkatastrophe müssen jedenfalls
drei Dinge klar sein: Erstens: Der
Neoliberalismus ist der falsche Ansatz.
Zweitens: Wir brauchen ein Primat der
Politik über die Finanzwelt und die
Wirtschaft. Und drittens: Wir brauchen
wieder eine bestimmende Rolle
der Wirtschaft über die Finanzwelt.
Und nicht umgekehrt. Wenn diese
Zuständigkeiten klar wären, wäre das
ein Gewinn für Europa und für uns
alle.
Adam Krzeminski:
Im Großen und Ganzen
bin ich einverstanden. Mit einer Einschränkung:
Die Idee des sozialen Europa
wurde bei uns in den sogenannten
Beitrittsländern oft als ein verschleierter
Nationalismus angesehen, als
Versuch, unter diesem Etikett die eigenen
Besitzstände gegen „die Bedrohung
aus dem Osten” zu schützen. Sowohl
die CSU wie die Linke haben sich in
Deutschland dieser Ängste bedient.
Gregor Gysi:
Wenn Sie, Herr Krzemin,
uns hier nationalen Egoismus vorwerfen,
ist das eine sehr komplizierte
Angelegenheit. Denn wenn die EU dazu
führt, dass sich der Lebensstandard der
Menschen in Deutschland reduziert und
hier polnische Löhne bezahlt werden,
dann fährt die NPD die Ernte ein. Wer
das nicht will, muss dafür sorgen, dass
keine Ängste entstehen, sondern sich die
Standards in allen EU-Ländern schrittweise
annähern – aber nach oben. Also
möchte ich, dass die polnischen Löhne
steigen und nicht die unseren sinken.
„Wir sind nicht gegen
einen Vertrag, wir
wollen nur, dass er
von den Völkern
mitgetragen wird.”
Gregor Gysi
Blickpunkt Bundestag:
Wenn sich jetzt in der EU
einiges tut – in jeder Katastrophe liegt
ja auch eine Chance – warum klagen Sie
dann noch gegen den Lissabon-Vertrag?
Gregor Gysi:
Weil wir die EU stärken und auf
ein solides Fundament stellen wollen.
Wir sind nicht gegen einen Vertrag, wir
wollen nur, dass er von den Völkern
mitgetragen wird. Die EU darf nicht
die Sache von 27 Regierungen sein,
sondern muss von 27 Völkern getragen
werden. Würden wir Volksentscheide
durchführen, gäbe es in vielen Ländern
eine Mehrheit gegen den Vertrag. Kein
Wunder: Denn soziale Grundrechte werden
ausgesprochen klein geschrieben.
Das macht den Leuten Angst. Und was
uns als Linke besonders stört, ist, dass
die EU immer stärker militärisch zu einer
Interventionsmacht ausgebaut wird.
Das können wir nicht mittragen.
Adam Krzeminski:
Solche Kritik wird bei uns
in Polen von der Liga der polnischen
Familie und bei den Nationalkatholiken
geübt. Ich weiß nicht, ob sich Herr Gysi
in dieser Nachbarschaft wohlfühlt. Die
haben Angst davor, dass das wirtschaftlich
noch schwache Polen seine frisch erworbene
nationale Souveränität wieder
verliert. Sie wollen das Land am liebsten
unter einer Panzerung der nationalen
Zuständigkeit bewahren. Das leuchtet
vielen ein, dennoch halte ich sie für
falsch, denn die Praxis lehrt uns, dass
sich ein Land nur in einer Situation der
notwendigen Anpassung an die äußeren
Umstände reformiert.
Gregor Gysi:
Aber nicht durch eine Europapolitik
von oben. Wir müssen die Völker mitnehmen.
Deshalb verlangen wir Volksentscheide
und Volksabstimmungen.
Sonst wird es
kein Verständnis
für Europa geben.
Adam Krzeminski:
Das klingt schön, aber ich
verstehe auch die Ängste anderer vor
den Elementen der direkten Demokratie.
Gerade in Deutschland hat sich ja in der
Weimarer Republik gezeigt, wie sich das
Volk fatal verirren kann. Noch ist die EU
vielleicht ein Projekt von oben, der Eliten
und Staaten. Dennoch sehe ich Elemente
der Demokratisierung im Lissabon-Vertrag. Sie mögen nicht ausreichend
sein, sind aber doch ein Fortschritt.
Wir in Polen haben 2004 sogar für eine
Direktwahl des EU-Präsidenten plädiert,
was ihm ein enormes Gewicht verliehen
hätte. Schade, dass der Vertrag das nicht
vorsieht.
Gregor Gysi:
Wollen wir uns beide für das
Amt bewerben? Aber im Ernst: Bei
Direktwahlen von Präsidenten bin ich vorsichtig.
Ein direkt gewählter Präsident –
ob in Deutschland oder in der EU – würde
nur Enttäuschungen provozieren, wenn
er nicht durch eine parallele Veränderung
des gesamten Systems entscheidende
Kompetenzen erhielte. Ich stimme Ihnen
allerdings nachdrücklich zu, dass wir
insgesamt – auch in Deutschland –
Volksentscheide brauchen. Wir können
die Leute nur mitnehmen, wenn sie auch
etwas zu entscheiden haben.
„Wir in Polen haben
2004 sogar für eine
Direktwahl des EU –
Präsidenten plädiert.”
Adam Krzeminski
Blickpunkt Bundestag:
Sie sind in autoritären
Regimen des Ostblocks politisch groß
geworden, der eine in Polen, der andere
in der DDR. Dennoch haben Sie eine unterschiedliche
Sicht auf Europa. Wieso?
Adam Krzeminski:
Polen und die DDR waren
zwar strukturell vergleichbare Gebilde,
aber die historischen Erfahrungen und
damit auch die Ausblicke waren völlig
anders. Wir in Polen haben schon 1978
gewusst, dass das polnische Modell am
Ende ist. Allerdings hat man nicht mit
einer Revolution der Solidarnosó von
unten gerechnet, sondern mit einer Reformbewegung
von oben nach preußischem
Modell. Und wir wussten oder
ahnten auch, dass die Großmächte nicht
ewig sind. Der Gedanke an Europa, die
Chance, einmal mit dabei zu sein, war bei
uns ein starker Wunschtraum und eine
kalkulierbare Größe. In Deutschland, vor
allem in der DDR, war das anders. Und
weil die DDR durch den innerdeutschen
Handel praktisch ein Teil der damaligen
EG war, brauchte man keine strukturellen
Gregor Gysi:
Es gibt noch zwei weitere Unterschiede:
Wegen ihrer Geschichte – erinnern
wir uns nur an die vielen Teilungen – denken
die Polen immer darüber nach, wie sie
ihre Existenz sichern können. Deshalb
der Drang in die EU, in die NATO, an
die Seite der Amerikaner. Zweitens: Die
Nation Polen war nie durch eine Veränderung
der Gesellschaftsstrukturen
gefährdet. Dagegen konnte die DDR
nur existieren, solange sie einen anderen
Weg ging als die Bundesrepublik.
In dem Moment, in dem sie dieselbe
Gesellschaftsstruktur annahm, musste
sie aufhören zu existieren.
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Blickpunkt Bundestag:
Wie viel Nationalstaatlichkeit
darf es in Europa noch geben?
Adam Krzeminski:
Polen hat sicher antiquierte
nationale Sehnsüchte. Sie sind Kopien
des gestorbenen 19. Jahrhunderts. Man
will etwas nachholen, was damals nicht
möglich war, weil es keinen polnischen
Nationalstaat gab. In der Solidarnosó gab es zwei Linien: Die eine war national
gesinnt, die andere wollte die Flucht nach
Europa. Man wollte in Europa aufgehoben
sein. Inzwischen sind wir in der EU und
in der NATO. Und prompt gibt es einen Rückfall mit dem Bedürfnis nach einem
antiquierten Nationalstolz.
Dahinter
steckt aber vor allem der Wunsch,
sich angesichts der Globalisierung und
des raschen Wandels an Vertrautem
festzuhalten.
Gregor Gysi:
Gerade deshalb müssen wir uns
fragen: Wann wird es ein Gefühl geben,
dass wir alle Europäer sind? Denn das
ist – nicht nur in Polen – noch nicht
richtig da. Wann werden wir mal eine
europäische Fußballmannschaft haben?
Adam Krzeminski:
Oder wann werden die Europäer
bei Olympia ihre Goldmedaillen
zusammenzählen? Europa wäre in Peking
wirklich eine sportliche Supermacht
gewesen!
Blickpunkt Bundestag:
War es ein Fehler, im Vertrag
auf Symbole, etwa auf Fahne und
Hymne, zu verzichten?
Adam Krzeminski:
Das ist empörend! Das ist
ein wirklicher Rückfall.
Gregor Gysi:
Ja, das ist ein Manko. Aber es
ist auszugleichen. Denn jede Art von
Gemeinschaft braucht letztlich Symbole.
Und die werden wir auch bekommen.
Blickpunkt Bundestag:
Ist die EU zu abstrakt, zu
wenig für den Bürger erfühlbar?
Adam Krzeminski:
Wenn man sich in die juristischen
Formeln des Lissabon-Vertrages
vertieft, ja. Aber ich glaube, dass fast 20
Jahre nach dem Fall des Kommunismus und der Mauer gerade die junge Generation
Europa verinnerlicht hat.
Gregor Gysi:
Ich sehe es ähnlich. Die nächste Generation wird viel unverklemmter mit Europa
umgehen als Leute, die wie ich DDR-Bürger,
Bundesbürger und EU-Bürger
waren
oder sind. Und diese Generation
wird
die Frage beantworten, vor der wir uns
drücken: Wollen wir nun die Vereinigten
Staaten von Europa werden oder nicht?
Adam Krzeminski:
Die werden kommen! Anders
verfasst als die USA, aber sie werden
kommen.
Blickpunkt Bundestag:
Meine Herren, im nächsten
Jahr sind Europawahlen, bei denen die
Wahlbeteiligung oft erschreckend niedrig
ist. Wie kann man Europa schnell
neuen Schwung verleihen?
Gregor Gysi:
Die Menschen müssen spüren, dass
Europa ihnen soziale Sicherheit gibt. Dazu
brauchen wir eine andere Öffentlichkeit.
Das Europäische Parlament spielt in unseren
Medien kaum eine Rolle. Hinzu
kommen muss eine deutliche Stärkung
der Rechte des Parlaments.
Adam Krzeminski:
Es stimmt, der Wurm in der
europäischen Suppe ist die Öffentlichkeit.
Die Medien, wir Journalisten, sind hier
viel provinzieller geworden, als wir vor
20 Jahren waren. Europa gilt in den
Redaktionen als nicht sexy und Auflagen
steigernd. Das muss sich ändern.
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Das Gespräch führte Sönke Petersen.
Erschienen am 19. November 2008
Zur Person:
Gregor Gysi, Jahrgang 1948,
ist seit 2005 neben Oskar Lafontaine Vorsitzender
der Fraktion Die Linke. Bereits in
der frei gewählten DDR-Volkskammer 1990
war der Rechtsanwalt Vorsitzender der
PDS-Fraktion. Von 1990 bis 1994 führte
er die Gruppe, von 1994 bis 1998
E-Mail: gregor.gysi@bundestag.de
Website: www.gregor-gysi.de
Adam Krzeminski, Jahrgang
1945, ist Publizist und Redakteur der
polnischen Wochenzeitung „Polityka”. Der
stellvertretende Vorsitzende der Polnisch-
Deutschen Gesellschaft gilt in Polen als
einer des besten Kenner Deutschlands. Für
seine Verdienste um die deutsch-polnische
Verständigung wurde er unter anderem mit
dem Großen Bundesverdienstkreuz und
dem Viadrina-Preis ausgezeichnet.