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Gültig ab: 17.09.2008 10:19
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Das vereinigte Europa – Vision oder Illusion?

Gregor Gysi und Adam Krzeminski sitzend auf Stühlen vor einer Europaflagge
Rücken die Europäer näher zusammen? Gregor Gysi (links) und Adam Krzeminski
© Thomas Köhler/photothek.net

Streitgespräch: Gregor Gysi und Adam Krzeminski

Was sind in der heutigen Situation die Perspektiven, wo kann, wo soll es mit Europa hingehen? Im Streitgespräch von BLICKPUNKT BUNDESTAG begegnen sich zwei Europäer, die eines eint: Sie sind in einem Land des Ostblocks politisch groß geworden, der eine in Polen, der andere in der DDR. Adam Krzeminski ist Redakteur der Wochenzeitung „Polityka” und einer der besten Kenner Deutschlands in Polen. Mit ihm diskutiert Gregor Gysi, Vorsitzender der Fraktion Die Linke im Bundestag, die beim Bundesverfassungsgericht gegen den Lissabon-Vertrag geklagt hat.

Blickpunkt Bundestag: Zukunft Europas – was ist Ihre Vision, Herr Krzeminski?

Adam Krzeminski: Ich hoffe, dass Europa langfristig eine starke Entität wird, sich im globalen Wettbewerb durchsetzen kann und nicht mehr abhängig ist von den Egoismen der einzelnen Nationalstaaten, so wie wir das im 19. und 20. Jahrhundert erfahren haben.

Blickpunkt Bundestag: Herr Gysi – ist Adam Krzeminskis Vision eine Illusion?

Gregor Gysi: Wenn man in langen Zeiträumen denkt, nicht. Denn immer mehr Menschen in Europa erkennen: Wir verhindern – im Unterschied zu früheren Jahrhunderten – Kriege zwischen europäischen Staaten nur, wenn wir zusammenstehen. Und: Europa hat weltweit nur ein Gewicht, wenn es in den großen Fragen einig ist.

Adam Krzeminski: So ist es.

Blickpunkt Bundestag: Die EU hat sich bei der Finanzkrise gerade als erstaunlich stark und handlungsfähig erwiesen. Sind wir also schon weiter, als Sie glauben?

Gregor Gysi: Ganz klar: Die EU ist politisch wie ökonomisch unersetzbar. Das bedeutet nicht, dass man keine Kritik an ihren Strukturen und Inhalten haben darf. Alle, inklusive Frau Merkel, haben jetzt begriffen: Es geht nur international und europäisch – oder gar nicht. Das ist ein Fortschritt. Denn das war nicht immer so. Ich hoffe, dass die nervige Zeit des kleinkarierten Mistes dauerhaft vorbei ist.

Adam Krzeminski: Wie wichtig die EU heute ist, zeigen drei Punkte: Erstens der Balkan. Hätte das alte Jugoslawien die Chance erhalten, in die damalige EWG aufgenommen zu werden, wäre es später nicht zu den fürchterlichen Kriegen auf dem Balkan gekommen. Denn allein die Perspektive, zu Europa zu gehören, hat eine enorm disziplinierende Wirkung. Zweitens: Die EU hat 2004 während der orangenen Revolution in der Ukraine eine sehr konstruktive Vermittlerrolle gespielt und drittens in der Georgienkrise eine klare, gemeinsame und eindeutige Haltung gegenüber Russland gezeigt. Das beweist das gewachsene Gewicht der EU.

Gregor Gysi

© Thomas Köhler/photothek.net
Blickpunkt Bundestag: Im Zuge der Finanzkrise scheint die EU auf eine neue Form der Marktwirtschaft hinzusteuern – weg vom Neoliberalismus und wieder mehr Dirigismus und europäischer Sozialstaat. Das müsste Ihnen, Herr Gysi, doch gefallen?

Gregor Gysi: Die Logik zwingt zu diesem Kurs. Aber ob er sich auch dauerhaft durchsetzt, weiß ich noch nicht. Nach dieser Finanzkatastrophe müssen jedenfalls drei Dinge klar sein: Erstens: Der Neoliberalismus ist der falsche Ansatz. Zweitens: Wir brauchen ein Primat der Politik über die Finanzwelt und die Wirtschaft. Und drittens: Wir brauchen wieder eine bestimmende Rolle der Wirtschaft über die Finanzwelt. Und nicht umgekehrt. Wenn diese Zuständigkeiten klar wären, wäre das ein Gewinn für Europa und für uns alle.

Adam Krzeminski: Im Großen und Ganzen bin ich einverstanden. Mit einer Einschränkung: Die Idee des sozialen Europa wurde bei uns in den sogenannten Beitrittsländern oft als ein verschleierter Nationalismus angesehen, als Versuch, unter diesem Etikett die eigenen Besitzstände gegen „die Bedrohung aus dem Osten” zu schützen. Sowohl die CSU wie die Linke haben sich in Deutschland dieser Ängste bedient.

Gregor Gysi: Wenn Sie, Herr Krzemin, uns hier nationalen Egoismus vorwerfen, ist das eine sehr komplizierte Angelegenheit. Denn wenn die EU dazu führt, dass sich der Lebensstandard der Menschen in Deutschland reduziert und hier polnische Löhne bezahlt werden, dann fährt die NPD die Ernte ein. Wer das nicht will, muss dafür sorgen, dass keine Ängste entstehen, sondern sich die Standards in allen EU-Ländern schrittweise annähern – aber nach oben. Also möchte ich, dass die polnischen Löhne steigen und nicht die unseren sinken.

„Wir sind nicht gegen einen Vertrag, wir wollen nur, dass er von den Völkern mitgetragen wird.”
Gregor Gysi
Blickpunkt Bundestag: Wenn sich jetzt in der EU einiges tut – in jeder Katastrophe liegt ja auch eine Chance – warum klagen Sie dann noch gegen den Lissabon-Vertrag?

Gregor Gysi: Weil wir die EU stärken und auf ein solides Fundament stellen wollen. Wir sind nicht gegen einen Vertrag, wir wollen nur, dass er von den Völkern mitgetragen wird. Die EU darf nicht die Sache von 27 Regierungen sein, sondern muss von 27 Völkern getragen werden. Würden wir Volksentscheide durchführen, gäbe es in vielen Ländern eine Mehrheit gegen den Vertrag. Kein Wunder: Denn soziale Grundrechte werden ausgesprochen klein geschrieben. Das macht den Leuten Angst. Und was uns als Linke besonders stört, ist, dass die EU immer stärker militärisch zu einer Interventionsmacht ausgebaut wird. Das können wir nicht mittragen.

Adam Krzeminski: Solche Kritik wird bei uns in Polen von der Liga der polnischen Familie und bei den Nationalkatholiken geübt. Ich weiß nicht, ob sich Herr Gysi in dieser Nachbarschaft wohlfühlt. Die haben Angst davor, dass das wirtschaftlich noch schwache Polen seine frisch erworbene nationale Souveränität wieder verliert. Sie wollen das Land am liebsten unter einer Panzerung der nationalen Zuständigkeit bewahren. Das leuchtet vielen ein, dennoch halte ich sie für falsch, denn die Praxis lehrt uns, dass sich ein Land nur in einer Situation der notwendigen Anpassung an die äußeren Umstände reformiert.

Gregor Gysi: Aber nicht durch eine Europapolitik von oben. Wir müssen die Völker mitnehmen. Deshalb verlangen wir Volksentscheide und Volksabstimmungen. Sonst wird es kein Verständnis für Europa geben.

Adam Krzeminski: Das klingt schön, aber ich verstehe auch die Ängste anderer vor den Elementen der direkten Demokratie. Gerade in Deutschland hat sich ja in der Weimarer Republik gezeigt, wie sich das Volk fatal verirren kann. Noch ist die EU vielleicht ein Projekt von oben, der Eliten und Staaten. Dennoch sehe ich Elemente der Demokratisierung im Lissabon-Vertrag. Sie mögen nicht ausreichend sein, sind aber doch ein Fortschritt. Wir in Polen haben 2004 sogar für eine Direktwahl des EU-Präsidenten plädiert, was ihm ein enormes Gewicht verliehen hätte. Schade, dass der Vertrag das nicht vorsieht.

Gregor Gysi: Wollen wir uns beide für das Amt bewerben? Aber im Ernst: Bei Direktwahlen von Präsidenten bin ich vorsichtig. Ein direkt gewählter Präsident – ob in Deutschland oder in der EU – würde nur Enttäuschungen provozieren, wenn er nicht durch eine parallele Veränderung des gesamten Systems entscheidende Kompetenzen erhielte. Ich stimme Ihnen allerdings nachdrücklich zu, dass wir insgesamt – auch in Deutschland – Volksentscheide brauchen. Wir können die Leute nur mitnehmen, wenn sie auch etwas zu entscheiden haben.

„Wir in Polen haben 2004 sogar für eine Direktwahl des EU – Präsidenten plädiert.”
Adam Krzeminski
Blickpunkt Bundestag: Sie sind in autoritären Regimen des Ostblocks politisch groß geworden, der eine in Polen, der andere in der DDR. Dennoch haben Sie eine unterschiedliche Sicht auf Europa. Wieso?

Adam Krzeminski: Polen und die DDR waren zwar strukturell vergleichbare Gebilde, aber die historischen Erfahrungen und damit auch die Ausblicke waren völlig anders. Wir in Polen haben schon 1978 gewusst, dass das polnische Modell am Ende ist. Allerdings hat man nicht mit einer Revolution der Solidarnosó von unten gerechnet, sondern mit einer Reformbewegung von oben nach preußischem Modell. Und wir wussten oder ahnten auch, dass die Großmächte nicht ewig sind. Der Gedanke an Europa, die Chance, einmal mit dabei zu sein, war bei uns ein starker Wunschtraum und eine kalkulierbare Größe. In Deutschland, vor allem in der DDR, war das anders. Und weil die DDR durch den innerdeutschen Handel praktisch ein Teil der damaligen EG war, brauchte man keine strukturellen

Gregor Gysi: Es gibt noch zwei weitere Unterschiede: Wegen ihrer Geschichte – erinnern wir uns nur an die vielen Teilungen – denken die Polen immer darüber nach, wie sie ihre Existenz sichern können. Deshalb der Drang in die EU, in die NATO, an die Seite der Amerikaner. Zweitens: Die Nation Polen war nie durch eine Veränderung der Gesellschaftsstrukturen gefährdet. Dagegen konnte die DDR nur existieren, solange sie einen anderen Weg ging als die Bundesrepublik. In dem Moment, in dem sie dieselbe Gesellschaftsstruktur annahm, musste sie aufhören zu existieren.

Adam Krzemiñski

© Thomas Köhler/photothek.net
Blickpunkt Bundestag: Wie viel Nationalstaatlichkeit darf es in Europa noch geben?

Adam Krzeminski: Polen hat sicher antiquierte nationale Sehnsüchte. Sie sind Kopien des gestorbenen 19. Jahrhunderts. Man will etwas nachholen, was damals nicht möglich war, weil es keinen polnischen Nationalstaat gab. In der Solidarnosó gab es zwei Linien: Die eine war national gesinnt, die andere wollte die Flucht nach Europa. Man wollte in Europa aufgehoben sein. Inzwischen sind wir in der EU und in der NATO. Und prompt gibt es einen Rückfall mit dem Bedürfnis nach einem antiquierten Nationalstolz. Dahinter steckt aber vor allem der Wunsch, sich angesichts der Globalisierung und des raschen Wandels an Vertrautem festzuhalten.

Gregor Gysi: Gerade deshalb müssen wir uns fragen: Wann wird es ein Gefühl geben, dass wir alle Europäer sind? Denn das ist – nicht nur in Polen – noch nicht richtig da. Wann werden wir mal eine europäische Fußballmannschaft haben?

Adam Krzeminski: Oder wann werden die Europäer bei Olympia ihre Goldmedaillen zusammenzählen? Europa wäre in Peking wirklich eine sportliche Supermacht gewesen!

Blickpunkt Bundestag: War es ein Fehler, im Vertrag auf Symbole, etwa auf Fahne und Hymne, zu verzichten?

Adam Krzeminski: Das ist empörend! Das ist ein wirklicher Rückfall.

Gregor Gysi: Ja, das ist ein Manko. Aber es ist auszugleichen. Denn jede Art von Gemeinschaft braucht letztlich Symbole. Und die werden wir auch bekommen.

Blickpunkt Bundestag: Ist die EU zu abstrakt, zu wenig für den Bürger erfühlbar?

Adam Krzeminski: Wenn man sich in die juristischen Formeln des Lissabon-Vertrages vertieft, ja. Aber ich glaube, dass fast 20 Jahre nach dem Fall des Kommunismus und der Mauer gerade die junge Generation Europa verinnerlicht hat.

Gregor Gysi: Ich sehe es ähnlich. Die nächste Generation wird viel unverklemmter mit Europa umgehen als Leute, die wie ich DDR-Bürger, Bundesbürger und EU-Bürger waren oder sind. Und diese Generation wird die Frage beantworten, vor der wir uns drücken: Wollen wir nun die Vereinigten Staaten von Europa werden oder nicht?

Adam Krzeminski: Die werden kommen! Anders verfasst als die USA, aber sie werden kommen.

Blickpunkt Bundestag: Meine Herren, im nächsten Jahr sind Europawahlen, bei denen die Wahlbeteiligung oft erschreckend niedrig ist. Wie kann man Europa schnell neuen Schwung verleihen?

Gregor Gysi: Die Menschen müssen spüren, dass Europa ihnen soziale Sicherheit gibt. Dazu brauchen wir eine andere Öffentlichkeit. Das Europäische Parlament spielt in unseren Medien kaum eine Rolle. Hinzu kommen muss eine deutliche Stärkung der Rechte des Parlaments.

Adam Krzeminski: Es stimmt, der Wurm in der europäischen Suppe ist die Öffentlichkeit. Die Medien, wir Journalisten, sind hier viel provinzieller geworden, als wir vor 20 Jahren waren. Europa gilt in den Redaktionen als nicht sexy und Auflagen steigernd. Das muss sich ändern.

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Das Gespräch führte Sönke Petersen.
Erschienen am 19. November 2008

Zur Person:

Gregor Gysi, Jahrgang 1948, ist seit 2005 neben Oskar Lafontaine Vorsitzender der Fraktion Die Linke. Bereits in der frei gewählten DDR-Volkskammer 1990 war der Rechtsanwalt Vorsitzender der PDS-Fraktion. Von 1990 bis 1994 führte er die Gruppe, von 1994 bis 1998
E-Mail: gregor.gysi@bundestag.de
Website: www.gregor-gysi.de

Adam Krzeminski, Jahrgang 1945, ist Publizist und Redakteur der polnischen Wochenzeitung „Polityka”. Der stellvertretende Vorsitzende der Polnisch- Deutschen Gesellschaft gilt in Polen als einer des besten Kenner Deutschlands. Für seine Verdienste um die deutsch-polnische Verständigung wurde er unter anderem mit dem Großen Bundesverdienstkreuz und dem Viadrina-Preis ausgezeichnet.


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