Die Finanzkrise wirft eine alte Frage auf: Welche Regeln braucht die Marktwirtschaft und wer wacht über ihre Einhaltung? BLICKPUNKT BUNDESTAG hat einen prominenten Liberalen zum Streitgespräch ins Münzkabinett des Berliner Bode-Museums gebeten: Hermann Otto Solms ist Vizepräsident des Deutschen Bundestages und finanzpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion. Mit ihm diskutiert Bernhard Emunds, Direktor des Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik. Er fordert schärfere Regeln für die Finanzwirtschaft und ein Umdenken in den Vorstandsetagen.
Blickpunkt Bundestag: Herr Emunds, als was wird das Jahr 2008 in die Geschichtsbücher eingehen – als Jahr der großen Krise?
Bernhard Emunds: Ganz sicher. Denn erstmals seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 erleben wir wieder eine große weltweite Finanzkrise. In der Zwischenzeit gab es begrenzte Krisen wie die Asienkrise. Diesmal haben wir es mit einer umfassenden globalen Krise zu tun.
Blickpunkt Bundestag: Herr Solms, übertreibt Herr Emunds?
Hermann Otto Solms: Nein, er übertreibt nicht. Weil die hohe Internationalität der jetzigen Krise mit ihren gewaltigen Dimensionen etwas völlig Neues ist. Nicht nur Amerika und Europa, sondern auch Asien und die Schwellenländer sind durch die Vernetzung der internationalen Finanzwirtschaft einbezogen. Die Tragweite dieser Krise hat niemand voraus gesehen.
Blickpunkt Bundestag: Wie konnte es zu dieser Kettenreaktion kommen – von der Finanzkrise zur globalen Wirtschaftskrise bis hin zur Krise der Marktwirtschaft insgesamt?
Solms: Das hätten die Gegner der Marktwirtschaft gern, dass sie die jetzige Krise nutzen können, um die Marktwirtschaft als solche bloßzustellen. Wenn man aber die Ursprünge der Marktwirtschaft in Erinnerung ruft, weiß man, dass die Marktwirtschaft durchaus einen starken Staat braucht, der die Regeln setzt und auf ihre Einhaltung achtet. Alexander Rüstow hat schon 1932 geschrieben: Der liberale Markt braucht einen starken Staat, und ein starker Staat braucht einen liberalen Markt.
Edmunds: Richtig ist, dass wir nicht die Wahl haben zwischen einem kapitalistisch- marktwirtschaftlichen System und einem völlig anderen System, sondern nur die Wahl zwischen verschiedenen Varianten des marktwirtschaftlichen Systems. Die Krise ist insofern eine Krise des ungezügelten Kapitalismus und damit auch eine Krise des marktradikalen Wirtschaftsliberalismus. Das sieht man besonders deutlich am Arbeitsmarkt und an den Finanzmärkten, wo jeweils versucht wurde, neben einem regulierten und gesicherten Sektor einen weniger regulierten und kaum abgesicherten Bereich einzuführen.
Solms: In dieser Analyse wird vermischt, was die amerikanische Administration gemacht hat und was die europäischen Staaten, vor allem Deutschland, getan haben. Die Vorwürfe eines Turbokapitalismus richten sich vor allem gegen besondere Ausprägungen in den USA. Solche Vorwürfe sind gegenüber der deutschen Wirtschaftspolitik unberechtigt.
Edmunds: Dem widerspreche ich. In der Grundrichtung hat man in der Bundesrepublik sehr wohl in den letzten 15 Jahren auf die Entfesselung der Marktkräfte gesetzt und auf einen schlanken Staat, der sich aus der Regulierung von Märkten und der Absicherung von Lebensrisiken zurückzieht. Und Ihre Partei, Herr Solms, war dabei immer die Speerspitze.
Solms: Da, wo wir das gemacht haben, war es ohne Alternative. Denken Sie mal, die alte Post würde noch als Staatsorgan agieren, dann hätten wir alle noch Drehscheibentelefone. Das Gleiche gilt für die Bahn. Beide produzieren ganz normale Dienstleistungen, die im Wettbewerb erbracht werden müssen. Hier war eine Deregulierung über fällig. Es mag in der Finanzwirtschaft Fälle gegeben haben, wo die Deregulierung übereilt war, da muss sich aber vor allem die frühere rotgrüne Bundesregierung an die Nase fassen, da sie dafür verantwortlich war.
Edmunds: Vorsicht, Herr Solms, so effizient sind die Privatisierungen nun auch wieder nicht. Ich erinnere nur an den Rückzug der Post aus der Fläche und deren schiefgelaufene Experimente in anderen Ländern.
Blickpunkt: Hat die Politik es sich zu leicht gemacht? Hat sie zu lange unter dem Motto „Der Markt wird es schon richten” zugeschaut?
Solms: Nein, das finde ich nicht. Gerade in der Finanzkrise hat der Staat als Akteur auf dem Markt als Erster versagt, viel stärker als die Privatwirtschaft. Die Banken mit den größten Problemen sind interessanterweise die Quasistaatsbanken oder Landesbanken. Zudem: Wo der Staat versagt, steht der Steuerzahler ein, wo der Private versagt, stehen der Inhaber und die Aktionäre ein.
Edmunds: Sie zeichnen eine heile Welt. Die Wahrheit ist doch, dass es eine dezidierte Strategie des Staates war, auf die Liberalisierung und Entfesselung der Märkte zu setzen. Nehmen wir den Arbeitsmarkt: Dort hat man neben dem Sektor der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung die prekäre Beschäftigung aufgebaut, in der Hoffnung, dadurch die Kosten für die Unternehmen zu senken und den Wohlstand zu steigern. In ähnlicher Weise war auch die neue kapitalmarktdominierte Finanzpolitik mit ihren enormen Mengen an Finanzkapital gedacht als eine billige Alternative zur teuren Bankkreditfinanzierung. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass man sowohl Regulierungslücken zugelassen als auch erlaubt hat, dass es im Investmentbanking- Bereich zu einer ungeheuren Dynamik von Finanzinnovationen kam. Ein Großteil dieser Finanzinnovationen diente dem Zweck, alle Beschränkungen des Staates zu umgehen!
Solms: Herr Emunds spricht gern von einer Strategie des Staates. Wenn es Fehlentwicklungen gab – etwa bei einer adäquaten Regulierung oder bei der Bankenaufsicht – entsprang das nicht einer ideologischen Strategie, sondern hier hat der Staat teilweise aus Unkenntnis der neuen Produkte schlicht versagt. Und die bei den Banken Tätigen sind Risiken eingegangen, ohne sie wirklich gekannt und verstanden zu haben. Das und nicht eine gewollte Strategie hat uns in die gefährliche Situation gebracht.
Blickpunkt: Als was bezeichnen Sie es, wenn der Staat in die Bredouille gekommenen Konzernen mit Milliardenhilfen nun aus der Klemme helfen soll?
Solms: Das halte ich für äußerst bedenklich, denn der Staat ist nicht der Retter, der Verluste sozialisieren und Gewinne bei den Banken belassen darf. Der Staat muss wie der Schiedsrichter beim Fußball für die Spielregeln sorgen und denen, die sie verletzen, die Gelbe oder Rote Karte zeigen.
Edmunds: Für die Realwirtschaft stimme ich absolut zu. Es ist hanebüchen, der Automobilindustrie mit ihrer gut aufgestellten Lobby im großen Maßstab unter die Arme zu greifen. Bei der Finanzwirtschaft gab es allerdings keine Alternative. Als die Finanzkrise erst einmal eingebrochen war, haben die Umstände die Politik genötigt und vor die Frage gestellt: „Geld oder Leben?” Da konnte die Politik nicht anders als mit „Geld!” antworten. Im Umkehrschluss zeigt dies aber auch, wie wichtig es ist, gerade die Finanzwirtschaft stark zu regulieren. Wenn der Staat letztlich Risiken übernehmen muss, geht das nur, wenn die Grenzen der Regulierung sehr eng gezogen werden.
Blickpunkt: Liegt in der Krise auch eine Chance? Welche Lehren sind aus dem Desaster zu ziehen?
Solms: In jeder Krise liegt eine Chance. Man muss aus den Fehlern lernen. Das Schöne an der Marktwirtschaft ist, dass sie ein lernfähiges, flexibles System ist im Gegensatz zur Staatswirtschaft, die starr und unbeweglich ist und schlussendlich zur Pleite eines Staates führt, wie die DDR gezeigt hat.
Edmunds: Das kapitalistisch-marktwirtschaftliche System ist flexibel, aber wir müssen es auch wirklich gestalten und dem Tiger der Gewinnorientierung Fesseln anlegen, ihn ins Geschirr für die Steigerung des Wohlstands zwingen. Konkret heißt das in der jetzigen Krise: Die Finanzmärkte müssen umfassend reguliert werden. Zugleich muss aber auch die soziale Entsicherung gestoppt werden. Denn das sind zwei Seiten einer Medaille. Die Krise, die auch eine Vertrauenskrise ist, kann nur dauerhaft gelöst werden, wenn die Menschen sehen, dass die Politik ihre Nöte und Sorgen ernst nimmt und nicht zulässt dass ihre Lebensperspektiven in einer gnadenlosen Konkurrenz aller gegen alle zerrieben werden.
Blickpunkt: Zu einer wirklichen Umkehr gehören nicht nur neue staatliche Regulierungen, sondern auch eine Änderung der Ethik- und Moralvorstellungen der wirtschaftlichen Eliten. Fragen wir den Gesellschaftsethiker: Sehen Sie da Licht am Horizont?
Edmunds: Im Moment sehe ich eine betretene Nachdenklichkeit. Ich hoffe, dass daraus eine wirkliche Änderung der Unternehmenskultur entsteht. Denn die brauchen wir in Deutschland. Die Großunternehmen müssen weg von der Orientierung am Shareholder-Value und wieder zurück zu einer Unternehmenskultur, die langfristig orientiert ist und die realwirtschaftlichen Bedingungen des eigenen Erfolgs mit im Blick hat. Dazu gehören motivierte Arbeitnehmer und zufriedene Kunden. Dazu sind auch neue Regeln der Corporate Governance nötig. Warum wird der Erfolg eines Unternehmens, für den die Manager zusätzlich bezahlt werden, nur an der Entwicklung des Aktienkurses gemessen? Er sollte auch andere Ziele, wie die stabile Beschäftigung der Mitarbeiter, umfassen!
Solms: Ich glaube, dass bei manchem Manager, der nicht genug kriegen konnte, bereits ein Bewusstseinsprozess eingesetzt hat. Sie haben uns mit ihren hohen Gehältern und Boni gesellschaftspolitisch sehr geschadet. Gerade auch uns Liberalen, weil sie die Grundlagen der liberalen Gesellschaftsordnung in frage gestellt haben. Allerdings muss auch der Staat, der eine solche kurzfristige Erfolgsorientierung in der Vergangenheit auch noch begünstigt hat, beispielsweise durch neue Bilanzierungsvorschriften, mangelnde Aufsicht und die Duldung von Zweckgesellschaften, umdenken. Hier muss vieles korrigiert werden.
Blickpunkt: Was sind die wirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise? Vor allem: Wie kommen wir aus der Krise wieder heraus?
Solms: Man sollte den Bürgern nicht suggerieren, der Staat könnte alles richten. Er kann es nicht. Was er kann, ist, einen unausweichlichen Abschwung abzuschwächen. Ob das mit Geldgutscheinen gelingt, da habe ich meine Zweifel. In Deutschland geben die Menschen, wenn sie Zukunftssorgen haben, das Geld nicht in den Kon - sum, sondern aufs Konto. Von Konjunkturprogrammen halte ich auch nichts, denn sie lösen zumeist nur Strohfeuer aus. Wir brauchen Entlastungen für Bürger und Unternehmen, die schnell wirken und dauerhaft orientiert sind. Verlorenes Vertrauen gewinnt man nur durch Stetigkeit und Dauerhaftigkeit zurück. Niemand kauft ein neues Auto, nur weil er 200 Euro Kfz-Steuer für ein Jahr spart.
Edmunds: Allerdings wäre auch eine steuerliche Entlastung nur sehr begrenzt nachfragewirksam. Ich bin dafür, die Abschreibungsbedingungen der Unternehmen noch stärker zu verbessern als bisher geplant, damit es einen Impuls gibt zu investieren. Zweitens muss den unteren Einkommensschichten geholfen werden, etwa durch eine Verdoppelung des Kindergeldes. Und drittens sollte der Staat in Bildung und Pflege investieren und dort selbst für zusätzliche Beschäftigung sorgen.
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Das Gespräch führte Sönke Petersen.
Erschienen am 25. Februar 2009
Bernhard Emunds,, Jahrgang 1962,
st seit 2006 Professor für Christ -
liche Gesellschaftsethik an der Hochschule
Sankt Georgen und Leiter des Oswald von
Nell-Breuning-Instituts. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten
gehört die Theorie und
Ethik der Finanzwirtschaft. In zahlreichen
Veröffentlichungen hat er sich auf diesem
Feld einen Namen gemacht.
Website: www.sankt-georgen.de
Hermann Otto Solms, Jahrgang 1940, ist seit 1998 Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Der promovierte Ökonom war von 1991 bis 1998 Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion. Seit 1971 ist Solms Mitglied der FDP, von 1987 bis 1999 war er Bundesschatzmeister. Zu seinen Schwerpunkten zählt die Steuer- und Finanzpolitik.
E-Mail: hermann.solms@bundestag.de
Website: www.hermann-otto-solms.de