Noch nie war die Bundesrepublik Deutschland so hoch verschuldet wie heute. Mit einer Schuldenbremse versucht die Politik, das Problem immer neuer Kredite in den Griff zu bekommen. Zugleich stehen Bundestag und Regierung in der Verantwortung, die Folgen der Finanzkrise abzufedern – und dafür notfalls Milliardenbeträge bereitzustellen.
Aus der Traum. Peer Steinbrück hatte womöglich die stille Hoffnung, als erster Bundesfinanzminister seit vierzig Jahren einen Haushalt ohne neue Schulden vorzulegen. Die tiefe Rezession hat einen Strich durch diese Rechnung gemacht. Nun ist der SPD-Politiker sogar Schuldenkönig.
Den Negativrekord hielt bisher Theo Waigel (CSU), der 1996 umgerechnet 40 Milliarden Euro neue Schulden machte. Nun plant der Bund für kommendes Jahr mit gut dem Doppelten. Hinzu kommen neue Schulden für die Bankenrettung und zur Konjunkturbelebung, die über Nebenetats finanziert werden. Daher gilt 2010 ein Gesamtdefizit des Bundes von mehr als 100 Milliarden Euro als wahrscheinlich.
Auch in der Folge bleiben die Lücken im Haushalt groß. Nach der aktuellen Finanzplanung fehlen bis 2013 insgesamt 300 Milliarden Euro. Die Zahl sagt schon alles über die Probleme, vor denen der Bundestag und die nächste Regierung stehen werden. Dagegen wirken die eingeplanten „globalen Minderausgaben” von fast 37 Milliarden Euro fast wie „Peanuts”. Zu diesem Instrument der Minderausgaben greift der Finanzminister immer dann, wenn er nicht weiß oder nicht sagen will, wie er den Haushalt ausgleichen will. So sind globale Minderausgaben pauschale Kürzungen im Etat, ohne dass klar ist, wo und wie das geschehen soll. Die Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD halten sich vor der Wahl in dieser Frage mit einer klaren Antwort zurück. Die nächste Regierung wird das nicht können. Ende Mai hat der Deutsche Bundestag grünes Licht für die Aufnahme einer Schuldenbremse ins Grundgesetz gegeben.
Die neue Schuldengrenze wird die Regierung zwingen, das Defizit stetig zu verkleinern. So darf der Bund schon in wenigen Jahren kaum noch neue Schulden machen, den Ländern ist es dann sogar ganz verboten.
Lange wollte man die Schulden ganz bewusst künftigen Steuerzahlern aufhalsen. Schließlich profitierten sie auch von den Schulen, Straßen, Museen, die vor ihrer Zeit gebaut wurden, hieß das Argument. Daher war es Bund und Ländern erlaubt, sich jeweils so stark zu verschulden, wie sie im Gegenzug investieren. Doch auch der beste Asphalt wird irgendwann löchrig, der Beton von Brücken mürbe, ein einstmals modernes Gebäude zum Sanierungsfall.
Deshalb wurde in den vergangenen Jahren immer deutlicher, dass dieses Konzept die nachfolgende Generation benachteiligte. Hinzu kam, dass eine Ausnahmeregel der Regierung erlaubte, mehr Kredite aufzunehmen, wenn das ihrer Ansicht nach zur Abwehr einer gesamtwirtschaftlichen Störung notwendig war. Das war ein Blankoscheck, der nur zu gern gezogen wurde. So hat die alte Kreditobergrenze dazu beigetragen, dass die Verschuldung in Deutschland seit vier Jahrzehnten nur eine Richtung kennt: nach oben.
Die Last der Vergangenheit ist nicht nur riesig geworden, sondern wächst auch derzeit schneller denn je. Allein die Verschuldung des Bundes wird von heute rund einer Billion Euro um knapp ein Drittel zunehmen. Hinzu kommen die Schulden der Länder. Insgesamt ist der deutsche Staat derzeit mit etwa 1,6 Billionen Euro verschuldet. Umgerechnet auf jeden Deutschen vom Baby bis zum Greis sind das fast 20.000 Euro. Allein der Bund wird im Jahr 2010 die Schuldenlast, die auf jeden Bürger entfällt, um etwa 1.200 Euro erhöhen.
Die Opposition im Bundestag wirft der Großen Koalition vor, mit ihrem Konsolidierungsversprechen gescheitert zu sein. „Peer Steinbrück ist nicht nur der Rekord-Schuldenmacher, er ist auch derjenige, der der zukünftigen Generation ihre politischen Gestaltungschancen nimmt”, urteilt die Obfrau der FDP-Fraktion im Haushaltsausschuss, Ulrike Flach.
Die Parlamentarier der nächsten Generation könnten durch die hohen Zinskosten gar nicht mehr abwägen, ob sie mehr für den Umweltschutz oder die Bildung ausgeben wollten. „Das Geld dafür wird nicht da sein.”
Tatsächlich steigt der Aufwand für Schuldentilgung und Zinsen rasant. Er ist heute mit 42 Milliarden Euro schon der zweitgrößte Etatposten. Mit den erwarteten fast 55 Milliarden Euro im Jahr 2013 wird er dann etwa doppelt so groß wie der Verkehrsetat sein. Allein das zeigt schon, wie die Vergangenheit die Zukunft einschnürt.
Die Linksfraktion spricht bildhaft von einer tickenden Zeitbombe. „Die Bundesregierung nimmt gigantische Schulden auf, ohne zu sagen, wer diese Schulden bezahlen soll”, kritisiert Gesine Lötzsch von der Fraktion Die Linke. Sie warnt vor einer abermaligen Mehrwertsteuererhöhung. „Die hohen, nicht aufgeschlüsselten Sparvorgaben (globale Minderausgaben) bezüglich der einzelnen Etatposten in den Ministerien sind eindeutig versteckte Steuererhöhungen.” Die Grünen sprechen nüchtern von einem Offenbarungseid.
„Leider haben zukünftige Generationen nicht die Möglichkeit, dieses Erbe auszuschlagen”, kritisiert der haushaltspolitische Sprecher Alexander Bonde. Den SPD-Haushaltspolitiker Carsten Schneider treiben die hohen Defizite ebenfalls um. Er kündigte einen erneuten Kurswechsel für die nächsten Jahre an. „In der nächsten Wahlperiode müssen auch alle Ausgaben wieder auf den Prüfstand.”
Doch erst einmal steigt die Neuverschuldung sprunghaft. Es ist eine Folge des größten Einbruchs in der Wirtschaftstätigkeit, den es je in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat. Die Regierung schätzt, dass die gesamtwirtschaftliche Leistung dieses Jahr um sechs Prozent sinken wird, für nächstes Jahr wird nur ein kleines Plus erwartet. Wo weniger erwirtschaftet und verdient wird, gibt es weniger zu versteuern. Dem Staat fehlen die Einnahmen. Nach der Mai-Steuerschätzung muss der Bund von 2009 bis 2012 mit Steuerausfällen von mehr als 150 Milliarden Euro rechnen.
Hinzu kommt: Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, ist dies mit höheren Ausgaben für den Staat verbunden. Für die Grundsicherung für Arbeitssuchende („Hartz IV”) sind nun 41 Milliarden Euro vorgesehen, zusätzlich erhält die Bundesagentur für Arbeit ein Darlehen von 20 Milliarden Euro. Größter Einzelposten bleibt der Zuschuss an die Rentenversicherung mit fast 81 Milliarden Euro.
Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD haben sich dafür entschieden, die konjunkturbedingten Mindereinnahmen und Mehrausgaben hinzunehmen, um den Abschwung nicht zu verschärfen. Man müsse diese „automatischen Stabilisatoren” – dazu gehört zum Beispiel das Arbeitslosengeld – in der Krise wirken lassen, auch wenn damit das Defizit steigt, argumentiert beispielsweise der haushaltspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Steffen Kampeter.
„Ein desaströser Sparkurs wäre keine Alternative”, sagt Kampeter. Allerdings müsse Deutschland rasch zum Konsolidierungskurs zurückkehren. Zusätzlich versuchen die Koalitionsparteien, mit rund 80 Milliarden Euro die Wirtschaft zu beflügeln. Diese Konjunkturpakete erhöhen ebenfalls die Neuverschuldung. Kurz vor Ende der Legislaturperiode hat der Bundestag die neue, strengere Schuldenregel im Grundgesetz verankert. Danach dürfen die Länder vom Jahr 2020 an in normalen Zeiten keine Kredite mehr aufnehmen. Der Bund darf sich vom Jahr 2016 an nur noch mit 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschulden, wenn man von konjunkturellen Sondersituationen und Notlagen absieht. Die neue Regel wirkt sofort, so ist der Bund verpflichtet, bis dahin die „strukturelle Verschuldung” in gleichen Schritten zu senken.
Das Finanzministerium beziffert die Verschuldung auf knapp 40 Milliarden Euro im Jahr 2010 – wenn man die krisenbedingten der konjunkturbedingten Mindereinnahmen und Mehrausgaben ausklammert. Das sind etwa 1,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Diese Lücke ist jedes Jahr um 0,2 Prozentpunkte zu senken, damit die neue Norm 2016 eingehalten wird. Die neue Schuldenregel zeigt, was dazu noch zu tun ist: 2011 fehlen 4,9 Milliarden Euro; 2012 steigt der Handlungsbedarf auf 11,1 Milliarden Euro, und 2013 beträgt er sogar 18,5 Milliarden Euro.
Wie die Lücke geschlossen werden soll, ist die Preisfrage und berührt den Wahlkampf der Parteien. Finanzminister Steinbrück lässt die Frage ausdrücklich offen. „Ich schließe alles ein, und ich schließe alles aus.” Der Finanzminister lehnte sowohl Steuererhöhungen als auch Steuersenkungen bis 2011 ab. Er stellte sich damit gegen Stimmen aus CDU und CSU, aber auch von Finanzwissenschaftlern, die eine Mehrwertsteuererhöhung ins Spiel gebracht hatten. Bundeskanzlerin Merkel hat ihrerseits ausgeschlossen, dass es mit ihr Steuererhöhungen in der nächsten Legislaturperiode geben wird.
Steinbrück kritisierte die Versprechen von Union und FDP als unglaubwürdig, die Einkommensteuer zusätzlich zu senken, also zum Beispiel über die vom Bundesverfassungsgericht verlangte und jüngst vom Bundestag beschlossene stärkere Berücksichtigung der Krankenversicherungsbeiträge hinaus. Die SPD will zwar ebenfalls Geringverdiener entlasten, sich dies aber bei den „Reichen” zurückholen. Zuspruch erhielten CDU, CSU und FDP von Bundespräsident Horst Köhler. Steuersenkungen seien möglich, wenn es wieder Wirtschaftswachstum und damit höhere Staatseinnahmen gebe, sagte Köhler. Die Regierung rechnet schon bald wieder mit einem durchschnittlichen Wachstum von rund zwei Prozent, gemessen an den Ergebnissen der vergangenen Jahre ist das recht viel. Allerdings entlassen Mehreinnahmen einer wieder anspringenden Konjunktur die zukünftige Regierung nicht aus ihrer Verpflichtung, das strukturelle Defizit zu senken.
Für den öffentlichen Haushalt bleibt die Frage entscheidend, wie Deutschland aus der Bankenkrise kommt. Springt das Wachstum zügig wieder an, werden sich die konjunkturbedingten Defizite zurückbilden. Hinzu kommen die riesigen Garantien, mit denen der Bund Banken und Unternehmen in der Krise stützt. 400 Milliarden Euro sind an Bürgschaften für Banken vorgesehen, für Eigenkapitalhilfen zugunsten von Finanzinstituten sind bis zu 80 Milliarden Euro eingeplant. Ergänzend haben Banken die Chance bekommen, „toxische” Papiere auszulagern.
Zudem hat die Regierung den Wirtschaftsfonds Deutschland aufgelegt, über den Kredite bis zu 40 Milliarden Euro und Bürgschaften bis zu 75 Milliarden Euro bereitgestellt werden. Solange sich die Ausfälle in Grenzen halten, muss der Staat nicht als Verlierer aus der Krise hervorgehen. „‚Giftmüllabfuhr′ nur gegen volle Gebühr!”, beteuert das Finanzministerium. Aber die Sorge ist da, dass der Staat ungeachtet aller Vorsichtsmaßnahmen auf einmal Hunderte Milliarden Euro mehr Schulden hat. Und wo beginnt die Überforderung des Staates, wann kann er die damit verbundene Last nicht mehr schultern?
Der Bund verschuldet sich nicht nur jedes Jahr zusätzlich, sondern muss auch alte Kredite durch neue ersetzen. Bei einer Bruttokreditaufnahme von 330 Milliarden Euro im Jahr 2010 addieren sich selbst kleine Zinsänderungen zu großen Belastungen. Eine schlechtere Bonitätsstufe wird da schnell teuer. Die Schuldenbremse ist deshalb ein wichtiges Signal an die Kapitalmärkte.
Die Altlast wächst – nicht nur absolut, sondern auch relativ. Für Staaten gilt wie für Individuen: Wer mehr verdient, kann sich eine etwas höhere Verschuldung leisten. Es macht eben einen Unterschied, ob man 20.000 Euro oder 100.000 Euro verdient, wenn man einen Kredit über 10.000 Euro zu tilgen hat. Auf gesamtstaatlicher Ebene schaut man deswegen auch auf die Schuldenquote. Sie setzt die aufgelaufenen Verbindlichkeiten des Staates ins Verhältnis zur gesamtwirtschaftlichen Leistung. Nach Berechnungen des Bundesfinanzministeriums wird sie dieses Jahr nach oben schießen und nächstes Jahr in die Nähe von 80 Prozent rücken. Anschließend verharrt sie in dieser Größenordnung. Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt hat als Obergrenze 60 Prozent definiert. Dass Italien seit Jahren mit einer Quote von mehr als 100 Prozent lebt und Japan sich dynamisch der Marke von 200 Prozent nähert, ist da nur ein schwacher Trost. Bisher lag Deutschland mit einer Quote von 65 Prozent immerhin in Sichtweite des EU-Referenzwertes.
Die Bundesrepublik bürgt mit ihrem immer noch guten Namen für Banken und Betriebe, die in der Krise sonst schwer an Kredite kommen. Gleichzeitig verschuldet sie sich stärker denn je. Der größte Teil der Kreditaufnahme geschieht durch die Ausgabe von Bundeswertpapieren. Über 80 Prozent entfällt auf Bundesanleihen, Bundesobligationen und Bundesschatzanweisungen, die vor allem von inländischen und ausländischen Banken, Versicherungen und Investmentfonds gehalten werden. Der kleinere Teil des Defizits wird von privaten Sparern finanziert.
Man dreht sich also im Kreis: Der Staat nimmt Kredite auf, um die Banken zu entlasten, und ist auf die Finanzwirtschaft angewiesen, die seinen Kapitalbedarf decken muss. Das funktioniert, weil die Bürger viel sparen und ihr Geld weiterhin zur Bank tragen – nicht zuletzt weil der Staat versprochen hat, diese zu stützen. Das Ganze kann nur funktionieren, solange der Staat seinen guten Ruf als Schuldner nicht verliert. Die nächste Regierung wird daher nicht darum herumkommen, den Haushalt weiter zu sanieren.
Text: Manfred Schäfers
Erschienen am 7. August 2009