Norbert Lammert ist ein Freund der klaren Worte: Nicht Hilfsorgan sei das Parlament, sondern „Herz der politischen Willensbildung in unserem Land”, sagte er zur Eröffnung des 17. Deutschen Bundestages. Im Gespräch mit BLICKPUNKT BUNDESTAG verrät der wiedergewählte Bundestagspräsident, wie er die Rolle des Parlaments interpretiert, was er von Drucksachenrekorden hält und warum er das Florett dem Säbel vorzieht.
Blickpunkt Bundestag: Herr Präsident, Sie haben in Ihrer Eröffnungsrede zum 17. Bundestag Klartext gesprochen, etwa, dass sich der Bundestag in Sachen Selbstbewusstsein nicht hinter anderen Verfassungsorganen verstecken sollte: Der Bundestag sei nicht Hilfsorgan, sondern Herz der politischen Willensbildung in diesem Land. Warum erschien Ihnen der Anstoß notwendig?
Norbert Lammert: Diese Bemerkung war mindestens so sehr nach innen wie nach außen gerichtet. Denn es gibt unverändert eine deutlich unterschiedliche Wahrnehmung der Öffentlichkeit, insbesondere der Medien, mit Blick auf die Relevanz unserer Verfassungsorgane: Die Regierung dominiert die mediale Berichterstattung; im Vergleich dazu wird das Parlament nur nachrangig wahrgenommen. Neben dem Blick auf das Selbstverständnis sind mir aber auch einige selbstkritische Bemerkungen zur Arbeitsweise des Bundestages wichtig, die im nicht auflösbaren Zusammenhang mit dieser öffentlichen Wahrnehmung stehen.
Blickpunkt: Und auf die wir gleich noch zu sprechen kommen. Aber zunächst: Zeigt der Bundestag zu selten die Kraft, die er verfassungsmäßig hat?
Lammert: Offensichtlich jedenfalls zu selten auffällig. Da liegt auch ein Teil des Problems. Es wäre ja niemandem ernsthaft geholfen, wenn zur Kompensation glücklicherweise nicht vorhandener Minderwertigkeitskomplexe nun ein Wettbewerb parlamentarischer Kraftmeierei stattfände. Aber es muss schon klar sein, dass in unserem politischen System nicht die Regierung der eigentliche Gesetzgeber und das Parlament der Gesetznehmer ist, sondern dass die legislativen Zuständigkeiten genauso eindeutig beim Parlament liegen wie die exekutiven bei der Regierung.
Blickpunkt: Sind die Abgeordneten zu pflegeleicht für die Regierung?
Lammert: Auf diese Frage würde Ihnen vermutlich jeder Regierungschef antworten: Schön wär′s. Interessanterweise empfinden die Regierungen regelmäßig die Abgeordneten alles andere als pflegeleicht und mit Blick auf das Fragerecht oft als außerordentlich lästige Partner.
Blickpunkt: In der letzten Wahlperiode gab es Rekorde bei der Zahl der Gesetze, der Redebeiträge, der Drucksachen – erstickt der Bundestag im eigenen Fleiß?
Lammert: Jedenfalls besteht dieses Risiko. Wir müssen nicht von einer Legislaturperiode zur nächsten jeweils neue Rekorde in der Produktion von Drucksachen aufstellen. Insofern bin ich auf den Drucksachenrekord der letzten Legislaturperiode nicht besonders stolz, wohl aber darauf, dass es am Ende dieser Wahlperiode zum ersten Mal weniger Gesetze und Verordnungen gibt als zu Beginn. Die Leistungsfähigkeit eines Parlaments bemisst sich nicht an der Zahl der von ihm verabschiedeten Gesetze.
Blickpunkt: Sind die Abgeordneten zu stark auf ihre Fachgebiete fixiert? Fehlt es manchmal an der großen Sicht, der leidenschaftlichen Debatte?
Lammert: Nein, das ist mein Eindruck nicht. Wir haben notwendigerweise ein arbeitsteilig organisiertes Parlament. Wäre dies nicht so, wäre es wirkungslos. Aber kein Abgeordneter kann sich erlauben, sich in seine Fachzuständigkeit zu vergraben. Jeder Sozialpolitiker, Außenpolitiker, jeder Kulturpolitiker vertritt einen Wahlkreis, ob direkt oder indirekt gewählt, und die Wählerinnen und Wähler aus dem Wahlkreis wenden sich mit ihren Problemen an ihn. Dabei spielt die fachliche Spezialisierung aus deren Sicht eine nachrangige Rolle.
Blickpunkt: Worin könnte sich mehr parlamentarisches Selbstbewusstsein konkretisieren? Bei der Fragestunde oder der Ministerbefragung? Immerhin zwei Kontrollinstrumente, die im Bundestag zu langweiligen Routineveranstaltungen degeneriert sind. Besucher verstehen meist nur Bahnhof.
Lammert: Für mich ist die Gestaltung der Fragestunde die wichtigste einzelne Baustelle auf dem Weg zu einer Verbesserung der Wahrnehmung unserer parlamentarischen Arbeit. Dass die Besucher bei der Fragestunde oft nicht wissen, worum es geht, hängt auch mit dem Ärgernis zusammen, dass die Fragen zwar beantwortet, aber nicht mehr gestellt werden. Dem will ich dadurch abhelfen, dass wir an den beiden Stirnseiten des Plenarsaals große Bildschirme aufstellen, auf denen die Zuschauer nicht nur erfahren, wer gerade mit welcher Parteizugehörigkeit redet, sondern auch, um welches Thema es geht. Da könnten dann auch die Fragen eingeblendet werden, die gerade zu beantworten sind. Ich hoffe, dass wir möglichst bald darüber Einvernehmen erzielen. Insgesamt aber bekenne ich, dass die Vitalität unserer Fragestunde nicht nur hinter manchen Vorbildern anderer Parlamente zurückbleibt, sondern auch hinter meinen eigenen Vorstellungen und Erwartungen.
Blickpunkt: Sie denken wohl an das britische Unterhaus. Dort gehört die Ministerbefragung zu den Sternstunden des Parlaments, auch und weil der Premierminister und die Minister Rede und Antwort stehen. Bei uns sind es meist die Parlamentarischen Staatssekretäre. Könnte das ein Vorbild für uns sein?
Lammert: Grundsätzlich ja. Aber für diese wie andere mögliche Veränderungen gilt, dass man dafür eine veränderungswillige Mehrheit braucht …
Blickpunkt: … die ein selbstbewusstes Parlament ja aufbringen könnte.
Lammert: So ist es. Deshalb spreche ich ja auch das Selbstbewusstsein nicht als rhetorische Floskel an. Ich hoffe, dass bei meinen anstehenden Gesprächen mit den Fraktionen das Ziel erreicht wird, notwendige Änderungen nun wirklich anzupacken.
Blickpunkt: Mangelndes Selbstbewusstsein nach innen hat nach außen mangelndes Ansehen zur Folge. Was kann der Bundestag tun, um in der Öffentlichkeit besser dazustehen?
Lammert: Zunächst fällt mir hier die große Diskrepanz zwischen dem Ansehen des Bundestages im Ausland und im Innern auf. Der Bundestag genießt außerhalb unserer Landesgrenzen einen überragenden Ruf; während wir immer wieder über notwendige Verbesserungen nachdenken, wird er anderswo als leuchtendes Beispiel für ein gut funktionierendes Parlament herangezogen. Ich glaube nicht, dass das Ansehen der Verfassungsorgane nur von deren Arbeitsweise abhängt, aber dass die Wahrnehmung eines Parlamentes auch mit den parlamentarischen Abläufen und Erkennbarkeit zu tun hat, daran habe ich keine Zweifel.
Blickpunkt: Mit Blick auf den häufig nur mäßig besetzten Plenarsaal sagen viele Bürger, die Abgeordneten nehmen den Bundestag ja selber nicht ernst …
Lammert: Dieser Vorwurf ist so alt wie der Parlamentarismus. Ich weise immer darauf hin, dass die Parlamente nur in jenen Ländern immer voll sind, wo sie nichts zu sagen haben. Wo ernsthaft arbeitsteilig gearbeitet wird, kommt es natürlich auch zu unterschiedlicher Präsenz im Plenum, aber es handelt sich hier zweifellos um ernst zu nehmende, einflussreiche Parlamente. Besuchergruppen beklagen sich regelmäßig über die mangelnde Präsenz, wenn sie aus einem nicht voll besetzten Plenum zu einem Gespräch mit ihrem Abgeordneten kommen, und legen dabei zugleich größten Wert darauf, dass ihr Abgeordneter nun mit ihnen redet und nicht gleichzeitig unten im Plenarsaal sitzt.
Blickpunkt: Herr Präsident, Sie haben einen Vorstoß für eine fünfjährige Wahlperiode unternommen? Warum?
Lammert: Dieser Vorstoß ist nicht neu und auch nicht unumstritten. Aber ich sehe drei Aspekte, die für ihn sprechen: Erstens: Inzwischen ist die vierjährige Legislaturperiode die Ausnahme. In Deutschland haben fast alle Landesparlamente eine fünfjährige Periode, viele unserer Nachbarländer auch. Zweitens: Nirgendwo in Europa wird so oft und regelmäßig gewählt wie in Deutschland: Bürgermeister, Oberbürgermeister, Landräte und Stadträte, Mitglieder des Kreistages, des Landtages und des Bundestages und des Europäischen Parlaments. Drittens: Daraus nährt sich die Klage, in Deutschland werde pausenlos gewählt, aber nicht mehr regiert. Insofern spricht schon einiges dafür, durch eine Anpassung der Legislaturperiode des Bundes an die anderer Parlamente im Ergebnis mehr als nur ein Viertel der zusätzlichen Arbeitszeit zu gewinnen.
Blickpunkt: Bislang wurden als Kompensation für eine längere Wahlperiode stets stärkere plebiszitäre Elemente eingefordert. Warum tun Sie das nicht?
Lammert: Natürlich gibt es Argumente dafür oder dagegen. Ich persönlich bin kein Anhänger einer plebiszitären Öffnung. Die Erfahrungen mit der Beteiligung an Bürgerbegehren und Volksentscheiden auf kommunaler wie auf Landesebene sind durchaus ernüchternd. Deshalb würde ich an der Stelle keine politischen Geschäfte machen.
Blickpunkt: Aber bei der Zulassung von Parteien zu Wahlen besteht Handlungsbedarf?
Lammert: So ist es. Ich finde die Regelung, die wir haben, zwar sehr praktisch, was etwa die Zurückweisung von Wahlvorschlägen anbetrifft, aber einer reifen Demokratie nicht wirklich angemessen. Deshalb sollten wir zu einer liberaleren Regelung kommen.
Blickpunkt: Herr Präsident, in der letzten Wahlperiode dominierte die Große Koalition. Nun gibt es wieder eine zahlenmäßig große Opposition. Wird das die Debattenkultur verändern?
Lammert: Die Heftigkeit der Auseinandersetzungen steht in keinem Kausalzusammenhang zur Größe der Fraktionen. Aber klar ist, dass die veränderten Mehrheitsverhältnisse eine veränderte Rollenverteilung nach sich ziehen und sich über die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse hinaus Fragen nach der Zukunft unseres Parteiensystems stellen. Diese Doppelperspektive könnte die Legislaturperiode besonders spannend machen.
Blickpunkt: Die erste Debatte im neuen Bundestag war schon recht lebhaft. Werden Sie persönlich weiter eher mit dem Florett als dem Säbel die Kontrahenten zur Räson bringen?
Lammert: Ich habe in den vergangenen Jahren nie den Eindruck gehabt, dass ich mit meinem Florett den gelegentlich ausbrechenden „rhetorisch-kriegerischen Handlungen” nicht hätte beikommen können. Deshalb ist auch für die Zukunft nicht mit einer anderen Waffengattung zu rechnen.
Blickpunkt: Mit 84,6 Prozent der Stimmen wiedergewählt zum protokollarisch zweiten Mann im Staate – ist Norbert Lammert ein glücklicher Mensch?
Lammert: Also meine Zufriedenheit und meine Freude über die Wiederberufung in dieses Amt wären auch dann ungetrübt gewesen, wenn es nicht erstaunliche 85 Prozent gewesen wären. Dass selbst nach einer Amtszeit, in der man ja notwendigerweise nicht nur jedem Kollegen Freude gemacht haben kann, eine solche Zustimmung quer durch alle Fraktionen erfolgte – das hatte ich nicht erwartet.
Blickpunkt: Letzte Frage: Was hat Berlin mit Bochum gemeinsam?
Lammert: Leider müssen sich beide Städte begründete Sorgen über die Überlebensaussichten ihrer Bundesligavereine machen.
Blickpunkt: Haben Sie präsidialen Trost? Könnte der Bundestag helfen?
Lammert: Nur sehr begrenzt. Ich fürchte, dass das gut gemeinte Angebot, in Zukunft statt in der Fußballmannschaft des Deutschen Bundestages zu spielen in die Mannschaft von Hertha BSC oder VfL Bochum zu wechseln, der Malaise nicht wirklich Abhilfe verschaffen würde.
Interview: Sönke Petersen
Erschienen am 17. Dezember 2009