Steuern senken oder Steuern erhöhen? Angesichts der dramatischen Haushaltslage geht es um mehr als nackte Zahlen: Im Mittelpunkt der haushaltspolitischen Debatten im Deutschen Bundestag steht die Frage, wie viel Staat und welchen Staat sich Deutschland in Zukunft leisten kann und will.
Die Finanzpolitik steht vor gewaltigen Herausforderungen. Die Wirtschaftskrise dürfte zwar in diesem Jahr mit einer Rückkehr zu soliden Wachstumsraten weitgehend überwunden werden. Doch die öffentlichen Haushalte reagieren auf das Beben an den Finanzmärkten und den Einbruch der Realwirtschaft mit erheblicher Verzögerung. In den Kassen von Bund, Ländern und Gemeinden entfalten die Folgen der Krise erst jetzt und in den kommenden Jahren ihre volle Wirkung. Einige Eckdaten zum Bundeshaushalt 2010 machen dies deutlich: Während die Steuereinnahmen mit nur noch 211,9 Milliarden Euro auf das Niveau von 2006 zurückgehen, steigen die Ausgaben in diesem Jahr um mehr als sieben Prozent auf 325,4 Milliarden Euro. Den größten Zuwachs verzeichnen dabei die Sozialausgaben. Sie legen auf insgesamt 176,7 Milliarden Euro zu, das entspricht mehr als der Hälfte (54 Prozent) der Gesamtausgaben. Dahinter verbergen sich allein 33 Milliarden Euro, die wegen der Krise in den Arbeitsmarkt, an die gesetzlichen Krankenkassen und in Konjunkturprogramme geflossen sind. Addiert man die Zinsausgaben von 38 Milliarden Euro, dann erkennt man schnell: Allein die Sozialausgaben und der Schuldendienst machen dieses Jahr mit fast 215 Milliarden Euro zwei Drittel der Bundesausgaben aus. Der Gestaltungsspielraum für Investitionen in Bildung, Klimaschutz oder Verkehrswege ist äußerst gering. Damit ist das Kernproblem der deutschen Finanzpolitik in den kommenden Jahren beschrieben.
Die krisenbedingten Mehrausgaben und Steuerausfälle machen sich insbesondere bei der Neuverschuldung bemerkbar. Die Etatplanung von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) weist eine nie dagewesene Nettoneuverschuldung von 85,8 Milliarden Euro aus. Berücksichtigt man ferner das Defizit von 14,5 Milliarden Euro aus Nebenhaushalten, summieren sich die neuen Schulden allein für den Bund auf rund 100 Milliarden Euro. Nach der letzten mittelfristigen Finanzplanung von Juni vergangenen Jahres fehlen dem Bund bis 2013 mehr als 300 Milliarden Euro. Die Bundesschuld insgesamt steigt im Laufe dieses Jahres auf mehr als eine Billion Euro.
Welche Zahl man auch heranzieht, eines steht außer Frage: So tief im Minus war Deutschland noch nie. Entsprechend scharf fallen auch die haushaltspolitischen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien aus. Denn beim Bundeshaushalt geht es um mehr als nackte Zahlen. Das „Schicksalsbuch der Nation” spiegelt die politischen Prioritäten der Regierung wider, der Etat gilt als „in Zahlen geronnene” Politik. An den finanzpolitischen Konzepten der Parteien und der Fraktionen im Deutschen Bundestag lässt sich deshalb auch viel über das jeweils zugrunde liegende Staatsverständnis ablesen. Im Mittelpunkt der Haushaltsdebatten steht immer auch die Frage, wie viel Staat und welchen Staat sich Deutschland in Zukunft noch leisten kann und will. Einen gut ausgebauten Wohlfahrtsstaat, der sich umfassend um die Bildung, die Gesundheit und die Versorgung seiner Arbeitslosen kümmert? Oder tendiert die Bundesrepublik angesichts der dramatischen Haushaltslage in den nächsten Jahren eher in die Richtung eines Staates, der sich schrittweise aus dem Sozialen zurückzieht und sich stärker auf die Bereitstellung eines Ordnungsrahmens konzentriert?
Weitgehend unstrittig ist im Rückblick, dass der Großteil des Schuldenberges der Wirtschaftskrise geschuldet ist - und insoweit nur zum Teil zu vermeiden gewesen wäre. Bundesfinanzminister Schäuble hält die Rekordverschuldung für „bitter”, zugleich aber auch für „notwendig und ökonomisch richtig”. Dahinter steht die in Wissenschaft und Politik nahezu einhellige Auffassung, dass die Regierung in der Krise eine antizyklische Fiskalpolitik betreiben sollte, also nicht in der Krise sparen darf, um den Abschwung nicht weiter zu forcieren. Weit weniger Einigkeit herrscht indes über den künftigen Kurs der Finanzpolitik nach der Krise. Gestritten wird nicht nur in der Politik, auch Finanzwissenschaftler sind uneins, welcher Weg aus der Krise führt. Konsens besteht im Grunde nur darüber, dass Deutschland ab 2011 seine öffentlichen Haushalte konsolidieren muss, um den EU-Stabilitätspakt und die neue Schuldenregel in der Verfassung einzuhalten. Die noch von der großen Koalition im Grundgesetz verankerte „Schuldenbremse” verlangt vom Bund, seine Neuverschuldung bis 2016 schrittweise auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zurückzufahren, also fast gar keine neuen Schulden mehr zu machen. Anders ausgedrückt: Ab 2011 muss die Regierung jedes Jahr zehn Milliarden Euro mehr einnehmen oder weniger ausgeben. Die von Union und FDP im Koalitionsvertrag vereinbarten Steuersenkungen sind dabei noch nicht berücksichtigt. Sie schlügen mit 19,4 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich zu Buche. Rund die Hälfte davon müsste der Bund tragen. Das ist angesichts der aktuellen Haushaltslage ein ambitioniertes Ziel. Der Bundesfinanzminister nennt es eine „finanzpolitische Herkulesaufgabe”. Konkreter wurde Schäuble bislang indes nicht. Der Minister und die Politiker der Regierungskoalition verweisen auf die große Steuerschätzung Anfang Mai, die mit der mittelfristigen Finanzplanung für die nächsten fünf Jahre verbunden ist. Schäuble betont, erst dann könne man sich einen umfassenden Überblick über die Finanzsituation machen. Würden vorher detaillierte Sparvorschläge in die Debatte gebracht, bestehe die Gefahr, dass man diese „öffentlich zerredet”. Die Opposition vermutet freilich, dass die Zurückhaltung von Union und FDP mehr mit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu tun hat, die wenige Tage nach der Steuerschätzung stattfindet. Bis zur parlamentarischen Sommerpause jedenfalls dürften die Bürger mehr Gewissheit darüber bekommen, welchen Kurs Union und FDP bis zum Ende der Legislaturperiode einschlagen werden.
Die finanzpolitischen Eckdaten legen nahe, dass die Bundesregierung mit der Konsolidierung des Haushalts und zugleich milliardenschweren Steuersenkungen eine praktisch nicht zu bewerkstelligende Quadratur des Kreises anstrebt. Oder doch nicht? Vor allem die FDP dringt beharrlich auf Steuersenkungen. Sie sind für die Liberalen nicht nur zentrales Wahlkampfversprechen, sondern eine zugleich wichtige Voraussetzung für eine Gesundung der Staatsfinanzen. „Wir werden Steuerentlastungen durchsetzen und damit auch die Wirtschaft wieder ankurbeln”, verspricht Birgit Homburger, Fraktionsvorsitzende der FDP im Bundestag. „Den Bürgern wird eingehämmert, dass Haushaltskonsolidierung und Steuerentlastung nicht gemeinsam machbar sind. Aber das ist falsch. Haushaltskonsolidierung und Steuerentlastungen gehen bei uns Hand in Hand”, betont Homburger. Das liberale Credo lautet folglich: Steuern fördern Wachstum, und durch mehr Wachstum sprudeln die Steuerquellen ergiebiger. Zusätzlich will die FDP „alle Subventionen auf den Prüfstand stellen” und einen strikten Sparkurs fahren. Einzelheiten nennt aber auch die FDP bislang nicht. In der zurückliegenden Legislaturperiode haben die Haushälter der FDP-Fraktion jedes Jahr ein „liberales Sparbuch” vorgelegt, mit dem sich nach ihren Berechnungen gut zehn Milliarden Euro sparen ließen. Der Ansatz der FDP ist jedoch höchst umstritten. 60 Prozent der Bundesbürger lehnt Steuersenkungen angesichts der Haushaltsnöte ab, selbst FDP-Anhänger sind inzwischen überwiegend skeptisch
Doch die FDP hat auch Befürworter. „Die Misere der deutschen Staatsfinanzen lehrt seit Langem, dass sich die öffentlichen Haushalte mit hohen Steuern nicht sanieren lassen”, sagt der Finanzwissenschaftler Jürgen von Hagen. „Gerade weil durch die Finanzkrise die Staatsverschuldung stark gestiegen ist, werden Steuersenkungen nötig”, ist der Bonner Ökonom überzeugt. Aus zwei Gründen: Erstens stärkten Steuersenkungen das Wachstum, zweitens erhöhten sie den Spardruck auf die Politik. „Wenn Regierungen viel Geld haben, bedienen sie nicht etwa die Staatsschulden, sondern befriedigen die Wünsche ihrer politischen Klientel”, hat von Hagen beobachtet. „Eine Finanzpolitik jenseits der Logik demokratischer Politik gibt es nicht.” Ins gleiche Horn stößt Homburger: Der Ansatz, den Haushalt mit höheren Einnahmen zu sanieren, sei in der Vergangenheit gescheitert. Der Staat habe kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem, sagt die Freidemokratin. Kronzeuge für die Überzeugung, dass Steuersenkungen sich durch mehr Wachstum im Idealfall selbst finanzieren, ist seit den siebziger Jahren der US-Ökonom Arthur Laffer. Doch die viel diskutierte „Laffer-Kurve” bleibt bis heute umstritten, einer empirischen Überprüfung hielt sie oft nicht stand. Der Wirtschaftsweise Wolfgang Wiegard ist sich deshalb sicher: „Mit Steuerentlastungen kann man die öffentlichen Haushalte nicht konsolidieren. Das sagen die ökonomische Theorie, die Empirie aber auch der gesunde Menschenverstand.” Gustav Horn vom gewerkschaftsnahen Forschungsinstitut IMK ergänzt: „Das Geld, das in gesamtwirtschaftlich wenig sinnvolle Steuersenkungen fließen soll, fehlt für Maßnahmen, die wirklich Wachstum bringen.”
Jüngere empirische Arbeiten der Ökonomen Mathias Trabandt und Harald Uhlig legen nahe, dass sich eine Einkommensteuersenkung in Deutschland in etwa zur Hälfte selbst finanzieren könne. Bei einer Entlastung von knapp 20 Milliarden Euro könnten Union und FDP demnach mit einem Selbstfinanzierungseffekt von rund zehn Milliarden Euro rechnen, der allerdings einige Jahre bräuchte, bis er sich voll in den öffentlichen Kassen niederschlüge. Die FDP will dabei vordringlich dem „Mittelstandsbauch” und der „kalten Progression” im Steuerrecht zu Leibe rücken, am liebsten mit einem Stufentarif. „Wir werden das Steuersystem mit einem Stufentarif einfacher und gerechter machen”, bekräftigte Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) bei der Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichts im Bundestag. Aber hier tun sich womöglich neue Lücken für den Haushalt auf. Denn je weniger Stufen es gibt, desto teurer dürfte eine Kernsanierung des deutschen Steuersystems werden. Kritiker, die der FDP vorwerfen, sie trockne so die Finanzquellen des Staates aus, bereite Sozialabbau und einem Rückzug des Staates den Boden, hält Parteichef Guido Westerwelle entgegen, das seien „Uraltklischees”. „Wir bejahen den Staat, denn wir sind Liberale, nicht Anarchisten”, sagt der FDP-Chef. Die Liberalen seien für einen „starken Staat”, der allerdings wissen müsse, „was seine Kernaufgaben sind.” Für die Liberalen manifestiert sich der Hobbes’sche Leviathan im Steuer- und Abgabensystem, es nehme den Menschen die „Luft zum Atmen” und habe „geradezu enteignungsgleiche Züge”, kritisiert Westerwelle. Der Vizekanzler fordert deshalb eine „geistigpolitische Wende”, wozu er vor allem eine Stärkung der Mittelschicht zählt. „Das muss die blau-gelbe Linie sein, die sich über die nächsten vier Jahre zieht”, fordert der Bundesaußenminister. Ein Sozialabbau größeren Stils schwebt der FDP nach eigenem Bekunden nicht vor. „Wir werden ein sozial ausgewogenes Gesamtkonzept vorlegen”, verspricht Fraktionschefin Homburger.
Dieses Gesamtkonzept wird sich naturgemäß auch nach den Vorstellungen des größeren Koalitionspartners zu richten haben. Zwar haben alle drei Regierungsparteien vor der Wahl Steuersenkungen versprochen. Doch die Union, vor allem die CDU, ging dabei wesentlich zurückhaltender vor als die Liberalen. Zwar betont auch der finanzpolitische Sprecher der CDU/CSUBundestagsfraktion, Leo Dautzenberg: „Entlastungen durch Steuersenkungen und Haushaltskonsolidierung sind kein Gegensatz, sondern bedingen einander, weil über beides Wachstum generiert werden kann.” Aber: Ungeachtet der im Koalitionsvertrag vereinbarten Steuersenkungen pocht Bundesfinanzminister Schäuble stets auf eine solide Haushaltsführung - und betont, dass Steuersenkungen zwar wünschenswert, aber aus Sicht der Union eher zweitrangig seien. „Alle Einsparpotenziale sind grundsätzlich prioritär zur Einhaltung der Schuldenregel einzusetzen”, macht Schäuble klar. „Ob, wann und wie viel, das entscheiden wir Mitte 2010”, sagt der Minister mit Blick auf Steuersenkungen. Dem unbedingten Willen der FDP zu Entlastungen der Bürger setzt die Union damit ein „Ja, aber” entgegen. Entlastungen ja - aber nur dann, wenn Konjunktur, Steuereinnahmen und Schuldenbremse dies zulassen. Hier verläuft die wohl deutlichste Trennlinie innerhalb der Koalition.
Bei der Steuerfrage und beim zugrunde liegenden Staatsverständnis grenzt sich auch die Bundeskanzlerin mit einem deutlichen Bekenntnis zur gesellschaftlichen Solidarität von der FDP ab: „Es gibt einen gewissen Unterschied zwischen FDP und CDU in der Frage, wie wir über den Staat sprechen”, sagte Angela Merkel (CDU) in einem Interview. „Unser Staat kann nur stark sein, wenn er von den Menschen getragen wird, wenn sie kreativ sind, ihre Ideen verwirklichen, sich engagieren und wenn sie dafür in unserem Staat Entfaltungsmöglichkeiten sehen. Er kann aber auch nur stark sein, wenn diese Leistungsträger ihre Leistung nicht permanent daran messen, was sie dafür zurückbekommen.” Für die Union laute deshalb die Lösung: „Damit den Schwächeren geholfen wird, müssen die Stärkeren motiviert werden. Wir wollen keinen schwachen Staat, sondern einen Staat, der Zusammenhalt ermöglicht.” Auch Wolfgang Schäuble bekennt sich eindeutig zur gesellschaftlichen Solidarität: „Im Wesentlichen will die Mehrheit der Bevölkerung das heutige Maß an Daseinsvorsorge, Sicherheit, sozialer Sicherung. Wir wollen ein Land mit funktionierenden Strukturen bleiben.”
Die Opposition hört zwar die Bekenntnisse, glauben mag sie ihnen jedoch nicht. „Steuersenkungen sind asozial und ruinieren unseren hoch verschuldeten Staat”, sagt SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann. „Am Ende müssen die kleinen Leute die Steuergeschenke bezahlen.” Der SPD-Haushälter Carsten Schneider wirft der Koalition vor, sie lasse kein Konzept für die Konsolidierung der Staatsfinanzen erkennen. „Entweder hat Schäuble kein Konzept - oder er hält es bis nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen unter Verschluss”, glaubt der SPD-Politiker. Fraktionsvize Joachim Poß moniert ebenfalls, der Bundesfinanzminister mache nur „große Worte", gebe aber „null Antworten” auf die Frage nach seiner finanzpolitischen Strategie. „Egal, wie die nächste Steuerschätzung ausfällt. Es ist klar, dass es für Steuersenkungen keinen Spielraum gibt”, glaubt Poß. Dem Bekenntnis der Koalition zu Steuersenkungen, wirtschaftlicher Freiheit und zur „sozialen Marktwirtschaft, aber effizienter” (Schäuble) setzen die Sozialdemokraten in ihrem Hamburger Grundsatzprogramm die „Einheit von Freiheit und Gerechtigkeit” entgegen.
dort, „spielen die Grundwerte nicht selten gegeneinander aus: je mehr Freiheit, desto weniger Gerechtigkeit und umgekehrt. Im sozialdemokratischen Verständnis bilden sie eine Einheit. Sie sind gleichwertig und gleichrangig.” Dieses Verständnis der Grundwerte bewahre die Sozialdemokratie davor, „Freiheit auf die Freiheit des Marktes, Gerechtigkeit auf den Rechtsstaat und Solidarität auf Armenfürsorge zu reduzieren.” In der tagespolitischen Auseinandersetzung münzt SPD-Fraktionsführer Frank-Walter Steinmeier das grundlegende Staatsverständnis seiner Partei in die Worte um, mit ihrem „schwarz-gelben Phantasialand” betrüge die Koalition die Bürger, denn diese müssten am Ende draufzahlen. Steinmeier wirft der Regierung vor, ihre Pläne für soziale Kürzungen bis nach der NRW-Wahl bewusst zu verschleiern. Statt mehr „Netto vom Brutto” kämen am Ende „höhere Gebühren für Kindergärten, Müllabfuhr, Abwasser und Schwimmbäder” auf die Menschen zu. Das finanzpolitische „Chaos der Regierung” werde „bittere Folgen” für die Bürger nach sich ziehen, prophezeit Steinmeier. Auf ganz besonderen Unmut trifft im Oppositionslager das „Wachstumsbeschleunigungsgesetz”, mit dem die Koalition neben Familien, Erben und Unternehmen auch die Hotelbranche um eine Milliarde Euro entlastet hat. Die Opposition kritisiert dies als augenfällige Klientelpolitik und verweist mit einiger Häme auf den Anspruch der FDP, das Steuersystem von den zahlreichen Ausnahmeregelungen zu befreien. „Was ist das für eine Politik?”, fragt Steinmeier erzürnt. „In manchen Schulen pfeift der Wind durch die Fenster, aber im Grandhotel nebenan wird jetzt neues Parkett verlegt!” Die Bilanz der SPDFraktion zum finanzpolitischen Kurs der Bundesregierung fällt somit vernichtend aus. „Steuersenkungen auf Pump”, warnt Steinmeier, „werden uns in die haushaltspolitische Katastrophe führen.” Die SPD schlägt statt Steuersenkungen vor, die Einnahmebasis des Staates zum Beispiel durch eine Börsenumsatzsteuer und eine Finanztransaktionssteuer zu verbreitern. Die Sozialdemokraten verfolgen somit einen grundsätzlich anderen Ansatz als die Regierung: Statt der Formel „Steuern runter, Wachstum stärken” setzt die SPD auf mehr Steuereinnahmen, um die finanzielle Ausstattung des Sozialstaates zu sichern.
Ähnlich kritisch sehen die Grünen die Haushaltspolitik der Bundesregierung. „Als grüner Haushaltspolitiker gilt für mich die Maxime der Nachhaltigkeit”, sagt Alexander Bonde, haushaltspolitischer Sprecher der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. „Ziel der Haushaltspolitik muss es sein, auch künftigen Generationen gute Zukunftschancen und Entwicklungsspielräume zu sichern.” Die massive Verschuldung des Bundes sei ungerecht gegenüber den Folgegenerationen. „Grüne Haushaltspolitik bekennt sich zur Grünen Marktwirtschaft und ist der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet”, erläutert Bonde. Übersetzt in konkrete Politik: Die Grünen-Fraktion schlägt vor, umweltschädliche Subventionen zu streichen. So ließen sich „zügig” bis zu zwölf Milliarden Euro pro Jahr einsparen. Insgesamt beziffert Bonde mit Verweis auf das Umweltbundesamt (UBA) die klimaschädlichen Subventionen im Bundeshaushalt mit rund 42 Milliarden Euro. Dazu zählen etwa Ausnahmeregelungen bei der Ökosteuer, die Steuerbefreiung für Flugbenzin und die Steinkohlesubventionen. „Qualitative Konsolidierung ist auch in Krisenzeiten möglich”, ist die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen deshalb überzeugt. Zugleich sollte nach ihrer Auffassung auch die soziale Komponente im Haushalt stärker betont werden. „Wir müssen den sozialen Zusammenhalt, die Daseinsvorsorge und die Teilhabegerechtigkeit stärken”, heißt es in einem Positionspapier der Grünen-Fraktion. So solle die „Kluft zwischen Arm und Reich” verringert werden. Etwa durch die Aufstockung des „Hartz IV”- Regelsatzes auf 420 Euro im Monat. Mehreinnahmen verspricht sich Bündnis 90/Die Grünen durch „gezielte Steuererhöhungen”, etwa durch eine Finanztransaktionssteuer, eine höhere Erbschaftssteuer, durch die Anhebung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer und eine Vermögensabgabe, mit der die Folgekosten der Finanzkrise „solidarisch” beglichen werden könnten. „Für Steuersenkungsphantasien”, ist Grünen-Fraktionschefin Renate Künast überzeugt, „gibt es schlichtweg keine Luft!”
Einer in Teilen ähnlichen Linie folgen die finanzpolitischen Vorstellungen der Fraktion Die Linke. „Das ist Wahlbetrug mit Ansage”, wettert Fraktionschef Gregor Gysi mit Blick auf die angekündigten Steuersenkungen. Auch Gysi sagt voraus, dass die Koalition nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen ihre Pläne für Sozialkürzungen präsentieren wird. „Die Regierung setzt auf die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft und auf starkes Wachstum, nicht auf die solidarische Gesellschaft”, heißt es dazu in einem Strategiepapier der Fraktion. „Die Steuersenkungen auf Pump schaffen gerade unter den Vorzeichen der Schuldenbremse die Sachzwänge für den Sozialabbau von morgen und übermorgen.” „Bundeskanzlerin Merkel muss die FDP auf den Boden des Sozialstaates zurückholen”, fordert Gesine Lötzsch, stellvertretende Vorsitzende und haushaltspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion. „Wer in Anbetracht von 100 Milliarden neuer Schulden Steuern senken und gleichzeitig bei den Familien und der Arbeitsmarktpolitik kürzen will, legt die Axt an die Wurzel des Sozialstaates.” Die Fraktion der Linken fordert mehr „Investitionen in den Ausbau der sozialen Infrastruktur und für mehr Beschäftigung”. Die Einnahmebasis des Staates solle zugleich durch eine „Wiederbelebung der Vermögensteuer und der Börsenumsatzsteuer, durch eine angemessene Besteuerung der Unternehmen und durch höhere Steuern auf große Erbschaften und Einkommen” verbreitert werden. Allein von einer Fünf-Prozent-Steuer auf Vermögen von mehr als einer Million Euro verspricht sich Die Linke zusätzliche Steuereinnahmen von bis zu 80 Milliarden Euro pro Jahr. „Wir brauchen eine Vermögensteuer, die dafür sorgt, dass sich auch die Reichen angemessen an der Finanzierung des Sozialstaats beteiligen”, fordert Fraktionsvize Klaus Ernst.
Auf das Gros der Vorschläge der Oppositionsparteien wird der Finanzminister bei der Aufstellung seiner Sparliste freilich nicht eingehen. Weder Vermögensteuer, Börsenumsatzsteuer noch höhere Spitzensteuersätze passen zum Programm von Union und FDP. Eine Finanztransaktionssteuer, die auch die Bundeskanzlerin befürwortet, lässt sich wiederum nur im internationalen Rahmen sinnvoll umsetzen. Was also wird die Regierung im Mai präsentieren, wo wird sie sparen? Die Spekulationen schießen ins Kraut: Arbeitnehmer fürchten um ihre steuerfreien Sonntags- und Nachtzuschläge. Berufspendler sorgen sich um die Entfernungspauschale. Verbraucher werden den Verdacht nicht los, dass die Mehrwertsteuer noch einmal kräftig steigt und die reduzierten Umsatzsteuersätze für Lebensmittel, Zeitungen oder Herzschrittmacher umfassend „angepasst” werden. Rentner fürchten weitere Nullrunden. Autofahrer registrieren nervös jede neu aufflammende Debatte um eine mögliche PKW-Maut. Arbeitslose, Krankenversicherte und Familien fürchten, dass sich die Beamten des Bundesfinanzministeriums noch einmal tief über den fast 177 Milliarden Euro schweren Ausgabenblock „Soziales” beugen werden. Doch bis zur Steuerschätzung im Mai bleibt das alles reine Spekulation. Denn der Finanzminister will sich nicht in die Karten schauen lassen, er verrät nur so viel: Mit „herkömmlichen haushalterischen Maßnahmen” werde der Staat seine Finanzprobleme nicht lösen. Schwört Wolfgang Schäuble die Bürger damit auf den härtesten Sparkurs ein, den die Bundesrepublik je gesehen hat? Womöglich. Sicher ist bislang nur eins: Eine solche finanzpolitische Herausforderung hatte vor Union und FDP noch keine Bundesregierung seit dem Krieg zu bewältigen.
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Text: Peter Hahne
Erschienen am 25. März 2010