Vierzig Jahre brauchte die Volkskammer, um das zu werden, was sie stets vorgab zu sein: ein frei gewähltes und demokratisch arbeitendes Parlament. Vor zwanzig Jahren, am 18. März 1990, bestimmten die Ostdeutschen in freien, geheimen und gleichen Wahlen ihr Parlament. Das Ergebnis der Wahl war ein Votum gegen die DDR und ein Mandat für die deutsche Einheit.
Geschafft! 23. August 1990, drei Uhr morgens. Reinhard Höppner hat als stellvertretender Präsident der Volkskammer eine der schwierigsten Sitzungen hinter sich - sie dauerte fast sechs Stunden. Am Ende steht der Termin für die deutsche Einheit fest: Der „Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990” ist mit 294 Ja- und 62 Nein-Stimmen bei sieben Enthaltungen beschlossen. Da tritt PDSFraktionschef Gregor Gysi an Höppner heran: „Der Beschluss sagt gar nichts!” Höppner, Kirchenparlamentarier, kennt die Tücken der Formulierungen: „Die Volkskammer erklärt den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes ...” Gysi: „Da fehlt DDR!” „Das korrigieren wir im Protokoll”, entgegnet Höppner. Gysi nickt und fügt an, Höppner solle aber nie sagen, der PDS-Fraktionschef hätte die Einheit verhindern können: „Da werden meine Leute sauer.” Gysi bewahrt so alle vor einer peinlichen zweiten Abstimmung. Es ist einer der wichtigsten Beschlüsse der 10. Volkskammer, die am 18. März 1990 erstmals frei gewählt worden ist und deren Amtszeit bereits rund ein halbes Jahr später, am 2. Oktober, enden wird.
Gerade einmal ein Jahr zuvor, in der friedlichen Revolution im Herbst 1989, verlieren die Menschen in der DDR mehr und mehr die Angst vor der SED-Staatsmacht. Sie registrieren auch, dass die SED mit ihrer unbeweglichen Politik immer häufiger in Konfrontation zur Sowjetunion und Michail Gorbatschows Reformbemühungen gerät. Der 9. Oktober 1989 markiert einen Wendepunkt: 70.000 Menschen gehen in Leipzig mutig mit Kerzen auf die Straße, obwohl sie die Bilder von der blutigen Niederschlagung der Studentenproteste in Peking im Gedächtnis haben und fürchten müssen, dass auch ihr Staat ihren friedlichen Protest niederschlagen will. Eine Woche später muss Erich Honecker, mächtigster Mann der DDR und seit 1971 im Amt, gehen. Die Ereignisse überschlagen sich: Am 4. November demonstrieren in Berlin bis zu einer Million Menschen auf dem Alexanderplatz, am 9. November fällt die Mauer. Die Volkskammer, die jahrzehntelang Entscheidungen der SED abgenickt hatte, beginnt sich vorsichtig zu emanzipieren: Eine Rede des einst gefürchteten Ministers für Staatssicherheit Erich Mielke sorgt im Parlament für Gelächter, die Abgeordneten wählen den als Reformer geltenden Dresdener SEDBezirkschef Hans Modrow zum neuen Regierungschef und streichen später den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung.
Am 7. Dezember beginnt der „Zentrale Runde Tisch” seine Arbeit. Vorbild ist der Runde Tisch in Polen, der im Frühjahr 1989 nach drei Monaten Verhandlungen die erste nichtkommunistische Regierung erzwang. Dem Runden Tisch in der DDR gehören zunächst je 15, dann je 19 Vertreter der Oppositionsgruppen und der alten DDR-Parteien an - drei Kirchenvertreter moderieren. Der Runde Tisch füllt ein Machtvakuum aus und stellt eine Art Nebenregierung dar. Funktionäre der SED-PDS lernen in dieser „Schule der Demokratie” genauso wie die Vertreter der Ost-CDU, der LDPD, NDPD und DBD, also der einstigen Blockparteien, und die Vertreter aus oppositionellen Gruppen, zu denen zum Beispiel das Neue Forum, der Demokratische Aufbruch (DA) und die neu gegründete SDP (ab 13. Januar 1990: SPD) gehören. Modrow will den Runden Tisch im Hase-und-Igel-Spiel austricksen, bis er merkt: Der Hase ist er selbst. Er beschwört die Opposition, Minister in die Regierung zu schicken. In der ersten Sitzung beschließt der Runde Tisch die Stasiauflösung und bestimmt den 6. Mai (Jahrestag der Kommunalwahl von 1989, deren Ergebnisse die SED verfälscht hatte) als Termin für freie Wahlen. In drei Monaten schafft das Gremium dafür die Voraussetzung und wird so zu einem Teil deutscher Demokratiegeschichte. Ende Januar wird die Wahl aufgrund der krisenhaften Situation in der DDR auf ein anderes symbolisches Datum vorgezogen - auf den 18. März, den Tag der deutschen Märzrevolution im Jahre 1848. Es wird immer deutlicher, dass die Menschen die Einheit Deutschlands wollen, selbst Modrow spricht am 1. Februar von „Deutschland einig Vaterland”, als er seine „Konzeption für einen Weg zu einem einheitlichen Deutschland” vorlegt.
Am Wahltag strahlt die Sonne. Nach 58 Jahren können die Menschen zwischen Rügen und Erzgebirge erstmals wieder frei und geheim wählen. Eine schwarz gekleidete Frau in Dessau: „Seit einer Woche bin ich achtzig. Und wenn ich morgen ins Grab steigen muss, heute habe ich dafür gesorgt, dass sich hier alles ändert!” Eine andere: „Ich bin Rentnerin und Erstwählerin!” Die Beteiligung ist hoch, über 93 Prozent gehen zur Wahl. Die Stimmung ist anders als bei den von der SED manipulierten „Wahlen” in der alten DDR, als ein gefalteter Stimmzettel ohne Kreuz gültig war. Auch Diktaturen lieben Wahlen - nur ohne Risiko.
In Stolpe-Süd, heute Stadtteil des brandenburgischen Hennigsdorfs (Havel), kommen die Einwohner zur Auszählung ins Rathaus. Dorfschmied Manfred Richter, seit Kurzem örtlicher SPD-Chef, spielt vom Tonband die Brandenburg- Hymne „Steige hoch du roter Adler”; alle singen mit. Dann hisst er Brandenburgs Fahne. Es kümmert ihn kaum, dass die SPD bei den ersten freien Wahlen zur Volkskammer mit 21,9 Prozent deutlich schlechter als in den Umfragen prognostiziert abschneidet. Wahlsiegerin ist die „Allianz für Deutschland”, ein Wahlbündnis aus Ost-CDU, Deutscher Sozialer Union (DSU) und Demokratischem Aufbruch (DA). Sie kommt auf 48,3 Prozent, das liberale Parteibündnis „Bund Freier Demokraten” auf 5,3 Prozent, die PDS auf 16,4 Prozent. Am meisten enttäuscht sind die im „Bündnis 90” zusammengeschlossenen Vertreter der DDR-Bürgerrechtsbewegung, die mit den Grünen 4,9 Prozent erreichen. Dennoch sind sie zufrieden: Die Diktatur der DDR ist abgewählt! Das Mandat heißt: deutsche Einheit.
Bundeskanzler Helmut Kohl sagt am Abend des 18. März, der Einigungsprozess könne Jahre dauern. Die Menschen sind mit ihren Gedanken und Hoffnungen weiter, wollen schnell die deutsche Einheit. Bei der neu gegründeten ostdeutschen SPD, die wie alle neuen Parteien organisatorisch der Ost-CDU, den anderen vormaligen Blockparteien sowie der PDS mit ihren flächendeckenden Strukturen hoffnungslos unterlegen ist, fragt man sich: Hat Willy Brandts Satz, auf dem Weg zur Einheit solle „keiner unter die Räder kommen”, womöglich Stimmen gekostet? Die Parteien, die ohne Wenn und Aber für die Einheit sind, haben in der Volkskammer eine Dreiviertelmehrheit und bilden eine Koalition: Allianz für Deutschland, Bund Freier Demokraten und die SPD.
Das Thema Einheit treibt die Abgeordneten um, besonders als die DSU mit Bedacht am 17. Juni in der Volkskammer den Antrag stellt: „Einheit mit dem heutigen Tage”. Der Antrag wird schließlich in die Ausschüsse überwiesen. Die turbulenteste Sitzung dazu gibt es am 8. August mit langen Diskussionen um die Geschäftsordnung. Morgens um 2.20 Uhr fehlen neun Stimmen zur Zweidrittelmehrheit. Erst die nächste Nachtsitzung bringt die Entscheidung: Der Termin für die deutsche Einheit steht fest: Es ist der 3. Oktober 1990.
Sie sei ein „Übergangsparlament”, eine „Laienspielschar” gewesen, heißt es nicht selten über die Volkskammer. Solche abwertenden Bezeichnungen werden allerdings der historischen Rolle der einzigen demokratischen Volkskammer in der Geschichte der DDR und ihren Abgeordneten nicht gerecht. Ein Parlament, dessen Zweck nach einem halben Jahr erfüllt ist und dessen wesentlichste Aufgabe darin besteht, die deutsche Einheit zu ermöglichen, kann nur ein Übergangsparlament sein. Das lässt aber noch keinen Rückschluss auf die Qualität seiner Arbeit oder gar auf seine Leistung zu. Revolutionäre sind meist keine Berufspolitiker. Im engeren Sinne parlamentarische Erfahrung haben nur die Volkskammerabgeordneten aus Kirchenkreisen als Mitglieder von Kirchenparlamenten: vom Kirchenanwalt Lothar de Maizière (Vizepräses der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR) über Reinhard Höppner (Präses der Synode der Kirchenprovinz Sachsen) bis zu den Pfarrern Joachim Gauck und Rainer Eppelmann. 30 der 400 Abgeordneten kommen aus der evangelischen Kirche und ihrem Umfeld. Die evangelische Kirche in der DDR war demokratisch organisiert, wählte Synoden, Synodale, Bischöfe, Kirchenleitungen.
Die Abgeordneten sehen sich nach 40 Jahren „Diktatur des Proletariats” als Vertreter derer, die riefen: „Wir sind das Volk”; deren Interessen wollen sie wahren und daher führen sie leidenschaftliche Debatten. Das DDR-Fernsehen überträgt direkt, mit hohen Einschaltquoten. Die Volkskammer leistet ein gewaltiges Arbeitspensum, tagt 38 Mal, berät und beschließt 164 Gesetze und fasst 93 Beschlüsse. Vor welchen Schwierigkeiten stehen Regierung und Parlament: Massendemonstrationen gegen den Geldumtausch, gegen die Änderung der Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch, für die Beibehaltung der Bodenreform, gegen die Einziehung des Vermögens der SED und der Massenorganisationen.
Auf der ersten Sitzung streicht die Volkskammer den Verfassungsteil, die DDR sei „ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern” und „auf dem Weg zum Kommunismus”; der Staatsrat wird aufgelöst und die Aufgaben dieses Amtes auf die Parlamentspräsidentin Sabine Bergmann-Pohl (CDU) übertragen. Der Koalitionsvertrag steht eine Woche nach der konstituierenden Sitzung, Lothar de Maizière (CDU) wird Ministerpräsident. Bei der Vereidigung als Innenminister will Peter-Michael Diestel (DSU) nicht auf die Verfassung schwören. So schwören er und die Ministerkollegen „Recht und Gesetze der DDR” einzuhalten.
Die Volkskammer bekennt sich zur Schuld aller Deutschen für das anderen Völkern zur Zeit des Nationalsozialismus zugefügte unermessliche Leid, bittet die Juden aller Welt um Verzeihung für Demütigung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Frauen, Männer und Kinder und für Heuchelei und Feindseligkeit der DDR gegenüber Israel. Zugleich versichern die Abgeordneten den Menschen in der Sowjetunion, ihnen angetanes Leid im Zweiten Weltkrieg nicht zu vergessen und sich für Sicherheit und Frieden in ganz Europa einzusetzen. Für die DDR nehmen die Abgeordneten die Mitschuld an der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 auf sich und sichern dem Nachbarn Polen zu, weder jetzt noch in Zukunft sein Recht auf gesicherte Grenzen infrage zu stellen. Am 21. Mai wird der Vertrag zur Schaffung der Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion beschlossen, die den Menschen die ersehnte D-Mark bringt. Der Vertrag nimmt der DDR die Hoheit über die Geld- und Finanzpolitik. Experten wie Bundesbankchef Karl Otto Pöhl fürchten zunächst um die Stabilität der Währung. Durch die Umtauschmodalitäten sind 25 Milliarden Mark neu auf dem Markt. Erst nach Wochen atmen die Experten auf, stolz auf das Vertrauen, das die D-Mark in der Welt besitzt.
Die grundsätzliche Zustimmung Helmut Kohls im Jahr 1990 zu einer „Europäischen Union” und der europäischen Währungsunion, die 1992 im Vertrag von Maastricht schließlich fest vereinbart wird, erleichtert den EUStaaten die Zustimmung zur deutschen Einheit und mindert die Sorgen vor Alleingängen eines wieder erstarkten Deutschlands.
Am 24. August verabschiedet die Volkskammer das Stasi-Unterlagen-Gesetz, das die Stasiakten zur historischen, politischen und juristischen Aufarbeitung freigibt und die Gründung der Stasiunterlagen-Behörde regelt. Der wenige Tage später fertig ausgehandelte Einigungsvertrag offenbart, dass nach dem Willen der Unterhändler Günter Krause (Ost) und Wolfgang Schäuble (West) dieses Gesetz nicht Teil des Vertrags, also nicht gesamtdeutsches Recht werden soll. Das löst erhebliche Proteste aus. Die Volkskammer rügt Innenminister Diestel, er habe die Souveränität und Würde des Parlaments beschädigt. Proteste und ein Hungerstreik der Bürgerrechtler, von Medien, Prominenten wie dem Liedermacher Wolf Biermann und Tausenden Menschen unterstützt, erzwingen schließlich die Lösung: Die Akten bleiben auf dem Gebiet der DDR. Ein ostdeutscher Sonderbeauftragter mit weitgehenden Vollmachten übernimmt die Leitung der Behörde: der bisherige Vorsitzende des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung der Staatssicherheit der Volkskammer Joachim Gauck.
Die Mitglieder des Ausschusses Staatssicherheit schreiben schon vorher Parlamentsgeschichte. Sie gehen persönlich in die Stasiarchive zwischen Rostock und Suhl, zwischen Dresden und Schwerin. Eile ist geboten, denn alle „Offiziere im besonderen Einsatz” („OibE”) sollen entdeckt werden: hauptamtlichen Stasileute, die unter falschem Namen immer noch in Schlüsselpositionen des Staates und der Wirtschaft arbeiten. Sie sollen nicht länger wichtige Entscheidungen beeinflussen können. In der Nacht zum 28. Juni beginnen die Abgeordneten mit ihrer Recherche, und bis zur deutschen Einheit haben sie in den Besoldungsstammkarten an die 3.000 dieser OibEs gefunden. In oft mühseligen Gesprächen mit den ahnungslosen Chefs und den Betroffenen erreichen sie die Entlassung der Leute mit doppeltem Gehalt (das zweite zahlte die Stasi).
Unvergesslich für alle, die dabei waren, ist die Sitzung vom 28. September, als es um Stasiverstrickungen der Abgeordneten geht. Der Ausschuss sieht bei 56 Mitgliedern der Volkskammer eine Stasibelastung, 15 Abgeordneten empfiehlt er die Niederlegung ihres Mandats. Mehrere Abgeordnete ergreifen „aus eigener Betroffenheit” das Wort, berichten von ihren Kontakten. Doch nur ein Abgeordneter legt das Mandat nieder.
Das wichtigste Gesetz der Volkskammer ist die Zustimmung zum „Einigungsvertrag”, dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands, beschlossen am 31. August. Er regelt in 45 Artikeln und auf mehreren tausend Seiten Anhang das Zusammenwachsen einer ehemaligen Diktatur mit einem demokratisch verfassten Staat mit Wirkung vom 3. Oktober 1990.
Doch in den Monaten zuvor mussten auf Regierungsebene mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs die äußeren Aspekte der deutschen Einheit verhandelt werden. Am 12. September wurden schließlich in Moskau die außenpolitischen Rahmenbedingungen endgültig vereinbart. Der „2+4-Vertrag”, der Deutschland die volle Souveränität zurückgibt, tritt aufgrund eines komplizierten Ratifizierungsprozesses im März 1991 offiziell in Kraft. Sowjetführer Michail Gorbatschow hatte schon im Februar 1990 sein Einverständnis zur Einheit signalisiert, der Durchbruch kommt am 16./17. Juli. Nach einem Treffen in Moskau fliegt Gorbatschow mit Kanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher zu seiner Jagdhütte nahe Stawropol. Die Bilder zeigen Kohl in einer Strickjacke, Gorbatschow im Pullover. Dann geben beide bekannt: Deutschland werde seine volle Souveränität erhalten, könne NATO-Mitglied sein, verzichte auf ABC-Waffen und billige den bis 1994 in Deutschland bleibenden Sowjettruppen Sonderrechte zu.
Was bleibt von der Volkskammer? Sie bleibt das erste und einzige frei gewählte Parlament der über vierzig Jahre existierenden zweiten deutschen Diktatur im 20. Jahrhundert. Sie ist der Ausdruck des Willens der Menschen nach Demokratie und Einheit. Die Abgeordneten wählen die einzige demokratisch legitimierte Regierung der DDR unter de Maizière. Mit Zweidrittelmehrheit beschließen sie die Einheit. Sie leiten selbst bereits die Strafverfolgung der Täter der Diktatur ein. Die Volkskammer bringt das Stasi-Unterlagen-Gesetz auf den Weg, dem der Bundestag 1991 seine endgültige Fassung gibt. Es wird ein Vorbild für andere osteuropäische Staaten und legt entscheidende Grundlagen für eine historische Aufarbeitung der SED-Herrschaft.
Aus der freien Volkskammer sind eine Reihe von Persönlichkeiten hervorgegangen, die auch die Politik im vereinigten Deutschland mitgestalteten und mitgestalten: zum Beispiel Wolfgang Thierse (SPD) als Bundestagspräsident, Claudia Nolte (CDU), Günter Krause (CDU), Rainer Ortleb (FDP) und Paul Krüger (CDU) als Bundesminister, Alfred Gomolka (CDU), Reinhard Höppner (SPD), Gerd Gies (CDU), Harald Ringstorff (SPD), Matthias Platzeck (SPD) und Stanislaw Tillich (CDU) als Ministerpräsidenten, Sabine Bergmann-Pohl (CDU) als Staatssekretärin, Joachim Gauck und Marianne Birthler (Bündnis 90) als Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde, Rainer Eppelmann (CDU) und Markus Meckel (SPD) als Vorsitzende der Enquetekommission Deutsche Einheit und Vorsitzende der Stiftung Aufarbeitung, Thomas Krüger (SPD) als Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung, Gerd Poppe (Bündnis 90/Die Grünen) und Günter Nooke (CDU) als Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Gregor Gysi und Lothar Bisky als Partei- und Fraktionsvorsitzende der PDS und später der Linken - und nicht zu vergessen die vielen Politiker in den Ländern. Andere Volkskammermitglieder wie Jens Reich (Bündnis 90) und Richard Schröder (SPD) übernahmen keine politischen Ämter mehr.
Volkskammerpräsidentin Bergmann-Pohl verabschiedet ihre Kollegen am 2. Oktober mit den Worten: „Mit dem morgigen Tag können wir sagen: Wir haben unseren Auftrag erfüllt, die deutsche Einheit in freier Selbstbestimmung zu vollenden.” Es war ein Auftrag, der seinesgleichen suchte, ohne Vorbild oder Modell. Als in der Nacht Feuerwerk die Einheit begrüßt, ist die Freude der Menschen deutlich verhaltener als in der Nacht des Mauerfalls. „Heute freuen wir uns von innen”, sagen sie.
Blickpunkt Bundestag: Herr Eppelmann, Sie waren seit 1974 Pfarrer im Ostteil Berlins, kamen als Oppositioneller in die frei gewählte Volkskammer. Viele Mitstreiter verließen nach der Einheit die Politik. Sie begannen ein Leben in der Politik. Warum?
Rainer Eppelmann: Als Pfarrer merkte ich: Es reicht nicht, gegen die Diktatur zu predigen. Ich betätigte mich politisch: 1982 im „Berliner Appell” zur Abrüstung in Ost und West. Den Demokratischen Aufbruch begründete ich 1989 mit, wollte mitgestalten. Den Minister für Abrüstung und Verteidigung haben mir viele Freunde der Opposition verübelt. Aber das war ordentlich abzuwickeln. Ich war übrigens gegen den schnellen Weg zur Einheit, rechnete mit zwei Jahren.
Bundestag: Wie ging es weiter?
Eppelmann: Am 3. Oktober war ich arbeitslos. Dann kandidierte ich im Wahlkreis Strausberg/Fürstenwalde für die CDU für den Bundestag, wurde direkt gewählt, kam bald in den Parteivorstand und ins Präsidium. Da konnte ich mitgestalten. Kanzleramtsminister Friedrich Bohl lud mich und andere Ostabgeordnete regelmäßig zu Gesprächen ins Kanzleramt. Stets fragte er: „Was müssen wir noch für die Menschen im Osten tun?”
Bundestag: Sie schieden 2005 aus dem Bundestag aus. Wie ist Ihre Bilanz?
Eppelmann: Einige meiner sozialpolitischen Vorstellungen wurden konkrete Politik. Stolz bin ich auf den Vorsitz der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (1994-2001); ich vertrat gerade mal 50 Arbeitnehmer aus Brandenburg und wurde der Vorsitzende von 20.000 in Deutschland. Die Spitze war damals zerstritten; mir trauten sie zu, den Laden zusammenzuhalten. Ich war einziger Ostvorsitzender einer Vereinigung der beiden großen Parteien. Meine wichtigste Arbeit war die Aufarbeitung der DDR-Diktatur. Zwei Wahlperioden war ich Vorsitzender der Enquete-Kommission. Danach wurde ich Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Aufarbeitung und bin es bis heute. Meine Freunde aus der DDR-Opposition kamen zurück, als ich „erster Aufarbeiter” der DDR wurde.
Rainer Eppelmann, 1989 Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs, war Mitglied der frei gewählten Volkskammer und 1990 letzter Verteidigungsminister der DDR.
Blickpunkt Bundestag: Herr Reich, Sie waren zur Volkskammerwahl 1990 Spitzenkandidat von Bündnis 90, in der Volkskammer waren Sie Fraktionschef. Danach hörten Sie mit der Politik auf. Warum?
Jens Reich: Aufgehört ist falsch. Ich habe nicht für den Bundestag kandidiert, aber deshalb kann man trotzdem politisch tätig sein. Ich hatte damals eine Menge Probleme mit der Parlamentsarbeit. Ihre Hektik widersprach meinem Politikverständnis.
Bundestag: Sie stimmten auch gegen den Einheitsvertrag.
Reich: Ich war für die Einheit. Der 13. August 1961, der Tag des Mauerbaus, ist für mich der schlimmste Tag meines Lebens. Ich fühlte mich seitdem wie in einem Käfig mit durchsichtigem Gitter. Mein Nein hatte formale Gründe. Ich stimme nicht für einen Vertrag, von dessen Tausenden Seiten im Anhang ich bis zur Abstimmung nur wenige lesen konnte. Ich war zum Beispiel nicht mit der sofortigen Abschaffung der Akademie der Wissenschaften einverstanden. Ich stimmte auch gegen den Beschluss „Termin des Beitritts 3. Oktober”. Das geschah vor einer gründlichen Beratung des zugehörigen Einheitsvertrags, war also eine Blankounterschrift. Die Regierung machte alles am Parlament vorbei. Die Folgen haben wir gesehen. Hätten wir gründlicher vorbereitet, wäre manches nicht so schlimm gekommen. Der parlamentarische Stil liegt mir nicht: Hand heben für etwas, was man fast nicht kennt. Dann der Fraktionszwang. Das ist nichts für mich. Es störte mich, morgens in die Volkskammer zu kommen und als Fraktionsvorsitzender etwas zu Themen in die Kamera sagen zu müssen, die sich erst über Nacht entwickelt hatten. Am liebsten hätte ich gesagt: „Dazu muss ich mich erst einmal kundig machen. Aber sagen Sie das mal öffentlich!”
Bundestag: Aber Sie kandidierten 2004 für das Amt des Bundespräsidenten.
Reich: Natürlich. Ich bin nicht unpolitisch. Für Nichtregierungsorganisationen zu arbeiten ist auch Politik. Ich bin im Deutschen Ethikrat; davon verstehe ich was, dazu kann ich etwas sagen. Auch habe ich 1990 nicht gewusst, ob ich überhaupt für eine Partei antreten soll. Die Westgrünen waren mir zu ideologisch. Dass sie damals zum Beispiel das gentechnisch hergestellte Medikament Humaninsulin ablehnten, ist mir bis heute unbegreiflich.
Jens Reich, 1989 Mitgründer des Neuen Forums, war Mitglied der frei gewählten Volkskammer und dort Vorsitzender der Fraktion Bündnis 90/Grüne.
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Text: Karl-Heinz Baum
Erschienen am 25. März 2010