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Gültig ab: 18.06.2008 10:19
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Bei der Bundeswehr im Kosovo

Vollständiges Bild der Lage: Die Ausschussvorsitzende Ulrike Merten im Bundeswehrhubschrauber über dem Kosovo
Vollständiges Bild der Lage: Die Ausschussvorsitzende Ulrike Merten im Bundeswehrhubschrauber über dem Kosovo
© DBT/Werner Schüring

Der Verteidigungsausschuss auf Truppenbesuch

Bundestag und Bundeswehr — gut sichtbar wird das besondere Verhältnis bei Truppen - besuchen des Verteidigungsausschusses. Das Gremium kennt gewöhnlich nur nicht öffentliche Sitzungen, bei denen es um vertrauliche Angelegenheiten geht. Bei seinem Kosovo-Besuch ließ sich eine Delegation des Verteidigungsausschusses jetzt erstmals bei der Arbeit beobachten. Der doppelte Zweck der Reise war, sich aus erster Hand ein vollständiges Bild über den Auslandseinsatz zu machen und den Soldaten in ihrer schwierigen und gefährlichen Lage zu signalisieren: Wir sind da, wir kümmern uns.

Das glaubt nur, wer es mit eigenen Augen gesehen hat: Eben noch hat der Muslim Fatmir Sejdiu den ersten islamischen Staat in Europa ausgerufen, doch welche großformatigen Bilder hängen in seinem Amtszimmer in Pristina, der Hauptstadt des neuen Staates? Kein Imam, keine Moschee sind darauf abgebildet, sondern Papst Johannes Paul II. und Mutter Teresa! Die Erklärung, laut engster Mitarbeiter: „Der Präsident des Kosovo bewundert den früheren Papst und die engagierte Nonne.”

Der unerwartete optische Eindruck beim Gespräch im Amtszimmer des Präsidenten passt zu dem, was die sechs Bundestagsabgeordneten in den folgenden Stunden auch inhaltlich erfahren werden: Die Kosovaren denken in westlichen Werten, suchen Anschluss an Europa. Eine gute Botschaft für die in der früheren serbischen Provinz stationierten Bundeswehrsoldaten, die natürlich ebenfalls Ziel dieser Delegationsreise des Verteidigungsausschusses sind: Es gibt Grund zur Hoffnung, dass sich die seit Jahren verhärtete Situation zum Besseren wendet.

Trotzdem gleicht die Lage immer noch einem Pulverfass, in dessen Nähe verschiedene Gruppen zündeln. Die Ausschussvorsitzende Ulrike Merten erlebt das am eigenen Leib. Denn die Reise der Abgeordneten fällt zusammen mit der Heimkehr des im Kriegsverbrechertribunal von Den Haag freigelassenen kosovarischen Politikers Ramush Haradinaj. Er wird wie ein Volksheld empfangen. Tausende haben sich am Flughafen eingefunden. Mitarbeiter der deutschen Botschaft raten der Bundestagsdelegation, sich nicht zu erschrecken, wenn gleich geschossen werde. Das seien dann sicherlich Freudenschüsse, auf dem Balkan sei das nicht auszuschließen. Sicherheitshalber bekommt die Ausschussvorsitzende aber besonderen Personenschutz. Die Bundeswehr reagiert lageabhängig in einem Einsatzgebiet, das als „überwiegend ruhig, nicht stabil” beschrieben wird. Seit Anfang 2008 ist dieses Einsatzgebiet zugleich ein Staat im Entstehen. Das bedeutet: Es gibt noch kein funktionierendes Außenministerium, kein Straßenverkehrsamt. Und Hans-Dieter Steinbach, der neue deutsche Botschafter, der die Delegation des Bundestages am Flughafen abgeholt hat, berichtet schmunzelnd, dass er in den ersten fünf Tagen seiner gerade begonnenen Tätigkeit schon drei Mal mit dem Staatspräsidenten zusammengetroffen ist. In anderen Staaten geschieht das mit viel Glück drei Mal im Jahr, hier aber ist der Botschafter Deutschlands fast täglicher Gesprächspartner der Staatsführung. Die Schilderung stimmt die Abgeordneten auf die folgenden Gespräche ein. Grundtenor: Wir tun, was ihr wünscht, aber sagt uns, was wir tun sollen und helft uns dabei.

Alltag in Prizren, Hauptsitz der KFORTruppe. Bundeswehrsoldaten des Einsatzbataillons patrouillieren in der Innenstadt
Alltag in Prizren, Hauptsitz der KFORTruppe. Bundeswehrsoldaten des Einsatzbataillons patrouillieren in der Innenstadt
© DBT/Werner Schüring
Politik mit Augenmaß

Es ist alles noch etwas improvisiert. Die deutschen Politiker sind bereits im Amtszimmer des Präsidenten verschwunden, als aus einem Abstellraum noch eine schwarz-rot-goldene Flagge herausgeholt und neben die Tür gestellt wird. Herrschte bei früheren Besuchen eher eine Atmosphäre der Starrköpfigkeit, vielleicht motiviert durch die Furcht, die Träume von Autonomie und Unabhängigkeit könnten am Ende doch noch platzen, bilden nun Konzilianz und Entgegenkommen den Hintergrund jedes Gespräches. Zum Beispiel mit Vize-Ministerpräsident Hajredin Kuçi. Nachdem schon der Präsident mit der Ausschussvorsitzenden vor die Kameras getreten ist, um die Glück wünsche zur Unabhängigkeit und im Gegenzug das Versprechen einer Politik mit Augenmaß öffentlich zu machen, rollt auch der stellvertretende Regierungschef den deutschen Parlamentariern verbal den roten Teppich aus. Der Kosovo werde ein multiethnisches Land sein, das alle Bürger gleich behandelt, lautet sein erster Satz. Damit greift er die Befürchtungen auf, die kleine Minderheit der Serben könne durch Benach teiligung und Verfolgung aus dem Land getrieben werden. Ein halbes Dutzend weiterer Versicherungen folgt. Sie münden in der Vorhersage: „Sie werden es nicht bereuen, uns unterstützt zu haben.”

Damit ist das Stichwort für den zweiten Teil der Unterredung gefallen, die in einem großen Raum stattfindet mit zwei Tischreihen, an denen sich Gastgeber und Gäste gegenübersitzen. An der Wand das kosovarische Wappen mit den sechs weißen Sternen, die für die sechs kosovarischen Bevölkerungsgruppen stehen sollen: Albaner, Roma, Türken, slawische Muslime und Gorani. Kein Stern größer oder kleiner als der andere. Einheitlich treten auch die sechs Bundestagsabgeordneten auf, die nun von der Ausschussvorsitzenden vorgestellt werden: Rainer Arnold von der SPD, Winfried Nachtwei von Bündnis 90/Die Grünen, Hans Raidel und Marcus Weinberg von der CDU/CSU und Paul Schäfer von der Fraktion Die Linke. Dazu kommen noch der deutsche Botschafter Hans-Dieter Steinbach und für die Organisation die Leiterin des Ausschusssekretariates, Beate Hasenjäger.

Gewappnet sein, wenn plötzlich Steine fliegen: Übung des Einsatzbataillons bei Prizren
Gewappnet sein, wenn plötzlich Steine fliegen: Übung des Einsatzbataillons bei Prizren
© DBT/Werner Schüring
Eine politisch sehr heterogene Truppe, die sich im Ausschuss und im Plenum des Bundestages trefflich zu streiten weiß. Aber hier lässt jeder die Ausschussvorsitzende die grundsätzlichen Ausführungen im Namen aller machen, ohne sich gleich von einzelnen Feststellungen zu distanzieren. Gerade bei Auslandseinsätzen im Allgemeinen und bei der Anerkennung des Kosovo im Besonderen hat Die Linke eine gänzlich andere Meinung. Doch in den Gesprächen im Kosovo fällt dieser Meinungsstreit innerhalb der Ausschussdelegation kaum auf. „Was soll ich mich mit den Kollegen im Kosovo zerzauseln”, sagt sich Schäfer von der Linken. Dass es in Deutschland unterschiedliche Auffassungen zur Kosovo-Anerkennung gibt, ist bekannt. „Den Streit tragen wir in Deutschland aus, nicht im Ausland”, lautet in Schäfers Worten ein ungeschriebenes Gesetz über das Auftreten von Koalitions- und Oppositionsabgeordneten auf Auslandsbesuch.

Sorge wegen Kriminalität

Inzwischen ist das Gespräch mit dem Vizeregierungschef beim Thema Militär angekommen. Kuçi schildert, dass der Kosovo nun eine Armee aufbauen will, die aus 2.500 aktiven Soldaten und 800 Reservisten bestehen soll. Wieder bindet er das in Zusagen ein: „Wir versprechen, kein Krisenexporteur zu sein”, unterstreicht er. Die Ausschussvorsitzende Merten betont, mehr eigene Sicherheit für den Kosovo komme sicherlich auch durch mehr Anstrengungen auf dem Gebiet der Polizistenausbildung. Und dann gibt sie noch einen Hinweis, den die Kosovaren gut verstehen. Es sei sicherlich hilfreich, beim Aufbau von Streitkräften von Anfang an auf die zivile Kontrolle zu achten. „Unsere eigene Erfahrung damit kann sich sehen lassen”, fügt sie hinzu.

Rainer Arnold spricht zwei weitere heikle Punkte an. Noch immer fällt im Kosovo täglich für Stunden der Strom aus. Überall stehen Dieselgeneratoren neben den Häusern und Hotels. „Was macht das geplante moderne Kraftwerk?”, will er wissen. Und fügt noch eine Frage nach dem Mediensystem an: „Wird es auch öffentlich-rechtliche Sender geben oder ausschließlich private Anbieter?”

Vorerst bleibe es in der „postkommunistischen Gesellschaft” des Kosovo dabei, dass es auch öffentliche Sendeanstalten gebe, antwortet Kuçi. Die Sache mit dem Kraftwerk wird zu einer langen Ausführung. Hier gehe es einerseits darum, dass die Bevölkerung „Stress” sowohl mit der unsicheren Energieversorgung als auch mit der belasteten Luft habe. Bei der Genehmigung des Kraftwerkes müsse man daher auch den Umweltschutz stärker berücksichtigen. Dann kommt er auf die Wirtschaftssituation allgemein zu sprechen. Und landet nicht überraschend bei der internationalen Unterstützung, die — natürlich — ausgeweitet werden müsse.

Die Delegation des Verteidigungsausschusses (von rechts): die Abgeordneten Winfried Nachtwei, Paul Schäfer, Ulrike Merten, Hans Raidel, Rainer Arnold und Marcus Weinberg; links Piloten der Bundeswehr
Die Delegation des Verteidigungsausschusses (von rechts): die Abgeordneten Winfried Nachtwei, Paul Schäfer, Ulrike Merten, Hans Raidel, Rainer Arnold und Marcus Weinberg; links Piloten der Bundeswehr
© DBT/Werner Schüring
Nach Auffassung von Hans Raidel ist der Aufbau der Justiz sehr wichtig. Ohne eine funktionierende Gerichtsbarkeit fänden nicht zuletzt auch die von den Kosovaren so dringend erhofften Investoren keine Rechtssicherheit. Damit deutet Raidel einen Punkt an, den alle Abgeordneten als großes Fragezeichen in ihren Köpfen dabeihaben: Ist es wahr, dass man anderswo von „Territorien mit organisierter Kriminalität” spricht, im Kosovo aber eher die Bezeichnung „organisierte Kriminalität mit Territorium” angebracht ist — wie sich Winfried Nachtwei nach diversen Gesprächen unter anderem auf der Basis von Sicherheitserkenntnissen notiert. Hohe Jugendarbeitslosigkeit scheint der ideale Nährboden für die Rekrutierung von immer neuem Personal für die organisierte Kriminalität.

Beim Flug über den Süden des Landes ist am nächsten Morgen zu sehen, wie es mit dem Land aufwärts geht. Überall herrscht Bautätigkeit, werden teils beeindruckende, fast villenartige Wohnhäuser hochgezogen. Aber aus welchen Geldquellen wird das alles gespeist? Diese Frage nimmt die Delegation ohne Antwort, nur mit Vermutungen verbunden mit nach Hause zurück. Raidel leitet aus den Beobachtungen die Erkenntnis ab, dass die Hilfe zur Selbsthilfe im Sinne dieser Selbsthilfe neu bewertet und verstärkt werden muss. „Wir unterstützen den Wiederaufbau des Landes und der politischen Selbstständigkeit des Staates. Nach dem langfristigen Engagement von KFOR muss über konditionierten Abzug nachgedacht werden.” Raidel verlangt aber genauso eine Unterstützung Serbiens bei Annäherung an EU und NATO.

Vor dem Blick auf die eigene Truppe und deren schwierige Situation stehen erst noch weitere Termine auf der Tagesordnung. Es gibt Treffen mit dem Parlamentspräsidenten, mit Abgeordneten aus dem kosovarischen Parlament, mit Vertretern der internationalen Gemeinschaft im Kosovo. Derweil reift im Hinterkopf der Ausschussvorsitzenden eine Idee. Bei einem abendlichen Empfang durch den deutschen Botschafter testet sie, was sie später in Deutschland auf den Weg bringen will, in ersten Gesprächen an: Wie wäre es, wenn der Bundestag sein internationales Austauschprogramm auf den Kosovo ausweitet? Dann könnten Mitarbeiter der kosovarischen Institutionen aus eigener Anschauung in Deutschland kennenlernen, wie politisch- parlamentarische Abläufe routiniert und optimiert verlaufen.

Faszination Staatsgründung

Das Echo ist einhellig positiv. Das ist das Gute an solchen abendlichen, etwas informelleren Begegnungen: Im Vier-Augen-Kontakt lässt sich manches direkter „einstielen” als im offiziellen Rahmen. Es bleibt dann noch Zeit für ein paar Schritte durch die nächtliche Innenstadt. Vorbei etwa an dem Monument mit den sieben riesigen Buchstaben N-E-W-B-O-R-N. Diese „Neugeburt” stand im Mittelpunkt der Staatsgründungsfeiern. Und so können die Abgeordneten nach ihrer Landung am nächsten Morgen eine halbe Hubschrauberfl ugstunde weiter südlich im deutschen Hauptquartier Prizren nur zu gut die Faszination der Soldaten verstehen: „Dieses Kontingent erlebt europäische Geschichte mit”, berichten die Bundeswehrangehörigen. Sie bilden das 19. Kontingent seit Beginn der Mission vor fast neun Jahren. Es ist das erste, das deutliche Bewegung zum Besseren verzeichnet.

Zwei Bundeswehrsoldaten auf Patrouille in Prizren
Patrouille durch die Altstadt: Die Sinan-Pascha-Moschee in Prizren hat eines der höchsten Minarette des Balkans
© DBT/Werner Schüring
Aber die Staatsgründung bringt nicht nur Faszination mit sich, auch Erschrecken. Eigentlich dachte die Bundeswehr, sie habe die Lektion aus den Märzunruhen vor vier Jahren gelernt, als an vielen „Hotspots” gleichzeitig wie aus dem Nichts Aufruhr angezettelt wurde und die internationale Truppe sich regelrecht vorgeführt fühlte. Ihre Konsequenz: polizeiliche Ausbildung, polizeiliche Ausrüstung, um beim nächsten Mal besser gewappnet zu sein. Das Niederringen von ausufernden Demonstrationen mit polizeilichen Mitteln gehört seitdem zur festen Vorbereitung jedes Kontingents.

Die Militärs bestätigen, was die kosovarischen Politiker am Vortag immer wieder versichert hatten: Die Kosovo-Albaner provozieren derzeit nicht. Sie reagieren nicht einmal auf serbische Provokationen, wie demonstrativ aufgezogene serbische Flaggen in Klöstern. Dafür scheint das serbische Innenministerium die Rolle des Unruhestifters übernommen zu haben. Die Abgeordneten sehen eine Videodokumentation, die die KFOR-Friedenstruppe noch unter Verschluss hält. Zu sehen ist darauf, wie am Rande der Räumung eines von Serben besetzten Gerichtsgebäudes in Mitro vica zuerst Pfiffe ertönen, dann Steine fliegen, dann Molotowcocktails, schließlich so gar Handgranaten.

Schnell waren die kosovarische Polizei und UN-Polizisten von der Situation überfordert, und die KFOR-Truppe musste an die vorderste Front. 22 von ihnen erleiden leichte, zwei schwere Verletzungen. Auch 27 UNMIK-Polizisten werden verletzt, zwei davon schwer. Ein ukrainischer UN-Polizist verblutet, getroffen von über 50 Splittern. Die Gewalttäter, die durchaus Mörder genannt werden können, sind auch Wochen nach den Vorfällen nicht gefasst, obwohl zum Teil namentlich bekannt. Einige der Tatverdächtigen sind als Mitarbeiter des serbischen Innenministeriums identifiziert. Auch die Zollstationen, die die Kosovaren an der neuen Grenze errichtet hatten und die die Serben einfach niederbrannten, sind noch nicht wieder in Betrieb. Das ist die Situation, die die Bundeswehr als „nicht stabil” bezeichnet.

Am Puls des Kosovo

Die Abgeordneten kommen in mehreren Treffen sowohl mit den Verantwortlichen der regionalen Bun deswehr als auch mit den Vertrauens leuten und Vertretern aller Dienstgrade zusammen. Sie gewinnen so ein immer detaillierteres, immer vollständigeres Bild von den Dimensionen dieses Einsatzes. Mehr als die Hälfte der Kampfverbände ist nicht mehr im relativ ruhigen Süden, sondern im Norden stationiert, wo die Lage jederzeit besonders brenzlig werden kann. Das Lager im Norden haben die Bundeswehrsoldaten „Nothing Hill” getauft. „Der Name kommt nicht von ungefähr”, berichten sie. Auf dem Hügel im Nichts ist tatsächlich nichts los — außer der Bereitschaft, sich rund um die Uhr in Lebensgefahr stürzen zu müssen.

Umso wichtiger, dass sie über beste Informationen verfügen. Sie kommen nicht nur von den Geheimdiensten der westlichen Staaten. Die Bundeswehr hat auch Verbindungs- und Beobachtungsteams mitten in der Bevölkerung. „Sie messen den Puls des Kosovo”, hören die Abgeordneten. Im Zuständigkeitsgebiet der Bundeswehr im Süden gibt es immer wieder Gewalt. Eine Schießerei auf offener Straße fordert drei Tote — stellt sich aber wie vieles andere als Blutrache zwischen Familien dar. Ein neuer Hinweis auf das „Phänomen” organisierte Kriminalität.

Erzengelkloster bei Prizren
Die Geschichte des serbisch-orthodoxen Erzengelklosters bei Prizren reicht ins 14. Jahrhundert zurück. 2004 brannte es bei Unruhen nieder und steht seitdem unter verstärktem Schutz der KFOR-Truppe
© DBT/Werner Schüring
„Wie erleben die Soldaten ihren Alltag?”, wollen die Abgeordneten wissen. Als Antwort gibt es zum Beispiel den Hinweis auf die gute medizinische Versorgung. Ein Soldat, der nach einer Quetschung einen Finger zu verlieren drohte, kam per Hubschrauber ins Einsatzlazarett. Finger gerettet. 60 Prozent der Soldaten sind erstmals im Kosovo, die anderen teils schon „alte Hasen”. Sie wissen, wie es ist, wenn es manchmal auch an Material mangelt. So beklagen sie im Gespräch mit den Politikern, dass immer noch keine brauchbaren Impulspatronen eingetroffen sind. Denn die ursprünglich als „nichttödlich” eingestufte Munition stellte sich in Tests doch als gefährlicher heraus und wurde daher für den Einsatz gesperrt. Die neue Generation ist aber noch nicht verfügbar. „Es fehlt eine Eskalationsstufe”, kritisieren die Soldaten. Und die Abgeordneten schreiben es sich auf, werden gegenüber dem Verteidigungsministerium nachhaken.

Die Ausrüstung ist ein Dauerthema bei der Truppe im Ausland. Immer noch ist zu spüren, dass die Intervention, das Erzwingen und Stabilisieren von Frieden, nicht das ist, wofür die Bundeswehr ursprünglich vor allem aufgestellt wurde. Da wird jongliert und probiert. Und mitunter kann auch die Industrie nicht so schnell liefern, wie sich die Bundeswehr im Auslandseinsatz das manchmal besonders bei neu entwickelten Gerät schaften gern wünscht. Da ist auch im Kosovo eine Abkehr von alten Grundsätzen zu spüren: „Lieber 90 Prozent sofort als 120 Prozent in fünf Jahren”, sagen die Soldaten, wenn sie bemängeln, dass Kleinigkeiten nicht ganz funktionieren oder Ausstattungen nicht vollständig zur Verfügung stehen.

„Wie steht’s mit dem Sport?”, fragt Rainer Arnold. Die Antwort besteht in der Beschreibung des Arbeitsrhythmus: 48 Stunden auf Patrouille im Land, 48 Stunden im Objektschutz, dann 48 Stunden für Erholung, Ausbildung und Sport. Ein anstrengender Dienst, für den es auch einen Auslandsverwendungszuschlag gibt. Aber nur einen „zweiter Klasse”, weil die Gefährdung nicht so hoch zu sein scheint wie etwa in Afghanistan. Der Kommandeur bringt es vor den Augen der Abgeordneten auf den Punkt: „Gibt es jemanden, der mehr Geld haben will?” Alle Hände gehen hoch. „Fühlt sich jemand ungerecht behandelt?” Kein Finger rührt sich.

Operation „Sister Act”

Der Alltag im Kosovo. Der kann für die Bundeswehrsoldaten monoton oder jeden Tag anders sein. Die Abgeordneten schauen sich exemplarisch den Ablauf einer Operation an, die die Soldaten intern „Sister Act” getauft haben: der Schutz von sechs Nonnen in einem serbischen Kloster mitten unter albanischer Bevölkerung. Da sind nicht nur die Rund-um-die-Uhr-Bewachung, die Patrouillen am Zaun um das Kloster, die Zugangskontrollen. Da ist auch die Begleitung der Nonnen beim Einkaufen. Das ist jedes Mal minutiös zu planen: Wohin soll es gehen? Wie sind die Verhältnisse? Welches Fahrzeug übernimmt? Von wo wird beobachtet? Nur so lässt sich sicherstellen, dass der heikle Kontakt nicht zum Funken wird, der verheerende Reaktionen in Gang setzt. Das Vertrauen der serbischen Minderheit in den wirksamen Schutz durch die Kosovo-Truppe wird zum wichtigen Faktor auch für die weitere politische Entwicklung des jungen Staates.

Dennoch gibt es Grenzen. Wichtig wäre zwar jetzt, die Rädelsführer der blutigen Unruhen dingfest zu machen. „Doch das ist eindeutig Polizeiaufgabe”, betonen die Soldaten. Insofern interessieren sich die Abgeordneten bei dieser Reise insbesondere auch dafür, wie die neue EU-Mission EULEX die bisherige UN-Mission UNMIC so reibungslos wie möglich ablösen kann. Wie gut dieser zivile Einsatz gelingt, ist mitentscheidend auch dafür, ob die Gefährdung für die Bundeswehr zu- oder abnimmt.

Wie wirkt das Erlebte?

Angesichts der Bilder von purer Gewalt und angesichts der Vorbereitung, bei solchen Situationen in Zukunft auch gegen Rädelsführer gezielt von der Schuss waffe Gebrauch zu machen, stellt Hans Raidel eine naheliegende Frage: „Wie gehen Sie mit dem Thema Traumati sierung durch den Einsatz um?” Ein Hauptfeldwebel: „Vorher kann das keiner wissen, wie das Erlebte auf uns wirken wird.” Nachdenklich besteigen die Abgeordneten die Hubschrauber.

Die Abgeordneten Winfried Nachtwei (links) und Paul Schäfer beim Start des Hubschrauberfluges zum KFOR-Hauptquartier in Prizren
Die Abgeordneten Winfried Nachtwei (links) und Paul Schäfer beim Start des Hubschrauberfluges zum KFOR-Hauptquartier in Prizren
© DBT/Werner Schüring
Die halbe Stunde im Helikopter, so laut, dass man sich nicht unterhalten, sondern nur das Erlebte wirken lassen kann. Was bleibt von dieser Reise? „Die Soldaten wissen, dass sie jederzeit in eine neue Gefährdung kommen können, aber sie wissen auch, dass sie dafür gut ausgebildet und ausgerüstet sind”, denkt Ulrike Merten, die Ausschussvorsitzende. „Die machen das sehr professionell”, hat Hans Raidel mitgenommen — und in der „Edelweißalm” der Kosovo- Truppe hatte der CSU-Abgeordnete sogar so etwas wie ein „bayerisches Heimatgefühl” empfunden. Rainer Arnold von der SPD überlegt sich, dass die Truppe zwar gut vorbereitet und auch mit der flexiblen Verwendung über das ganze Land hinweg optimal aufgestellt ist. Aber dass die Dinge im Norden immer noch so in der Schwebe sind, lässt ihn vermuten, dass der Konsens in der Staatengemeinschaft längst nicht so ist, wie er sein müsste. Winfried Nachtwei hat unter anderem die Anstrengungen vor Augen, mit denen die Bundeswehr die wenigen im Land verbliebenen Serben schützt. Der Aufwand erscheine so absurd, wie er richtig sei, notiert sich Nachtwei zur Operation „Sister Act”. Und Paul Schäfer ahnt mit Blick auf die vielen offenen Fragen rund um den Kosovo: „Da dräut noch was!” So viele Punkte, die Anlass für neue Gewalt geben könnten. Gut, dass die Delegation derart tief in die Zusammenhänge einsteigen und sich ein eigenes, intensives Bild machen konnte. Schäfer steht mit seinem Fazit nicht allein, sondern spricht für alle: „Diese Reise hat sich gelohnt!” 

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Text: Gregor Mayntz
Erschienen am 18. Juni 2008

Kontakt und Informationen:

Verteidigungsausschuss
E-Mail: verteidigungsausschuss@bundestag.de
Website: www.bundestag.de (Rubrik Ausschüsse)

Kosovo in Kürze
Ursprünglich römische Provinz. 1389 Schauplatz der Schlacht auf dem Amselfeld, wird daher von Serbien als Keimzelle der eigenen Historie gesehen. 1974 autonome Provinz innerhalb Jugoslawiens. 1989 Autonomie durch Serbien aufgehoben. Seit 1996 kriegerische Auseinandersetzungen zwischen kosovarischen Kämpfern und serbischen Streitkräften. 1998/99 Scheitern von Friedensverhandlungen, verstärkt „Säuberungen“ und Massaker im Kosovo. Ab 24. März 1999 Eingreifen der Nato mit Angriffen auf Ziele in ganz Serbien. Kosovo Force (KFOR) und UN-Sicherheitskräfte (UNMIK) errichten im Sommer 1999 ein UN-Protektorat bis zur Klärung des endgültigen Status. Keine Einigung der internationalen Gemeinschaft. Am 17. Februar 2008 verkündet der Kosovo seine Unabhängigkeit und wird von den meisten EU-Staaten, den USA und weiteren Ländern als Staat anerkannt. Seit Frühjahr 2008 läuft der Aufbau von EULEX, der Rechtsstaat- Unterstützungsmission der EU.


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