Vollständiges Bild der Lage: Die Ausschussvorsitzende Ulrike Merten im Bundeswehrhubschrauber über dem Kosovo
© DBT/Werner Schüring
Der Verteidigungsausschuss auf Truppenbesuch
Bundestag und Bundeswehr — gut sichtbar wird das besondere Verhältnis bei Truppen -
besuchen des Verteidigungsausschusses. Das Gremium kennt gewöhnlich nur nicht
öffentliche Sitzungen, bei denen es um vertrauliche Angelegenheiten geht. Bei seinem
Kosovo-Besuch ließ sich eine Delegation des Verteidigungsausschusses jetzt erstmals
bei der Arbeit beobachten. Der doppelte Zweck der Reise war, sich aus erster Hand
ein vollständiges Bild über den Auslandseinsatz zu machen und den Soldaten in ihrer
schwierigen und gefährlichen Lage zu signalisieren: Wir sind da, wir kümmern uns.
Das glaubt nur, wer es mit eigenen
Augen gesehen hat: Eben noch
hat der Muslim Fatmir Sejdiu
den ersten islamischen Staat in Europa
ausgerufen, doch welche großformatigen
Bilder hängen in seinem Amtszimmer
in Pristina, der Hauptstadt
des neuen Staates? Kein Imam, keine
Moschee sind darauf abgebildet,
sondern Papst Johannes Paul II. und
Mutter Teresa! Die Erklärung, laut
engster Mitarbeiter: „Der Präsident
des Kosovo bewundert den früheren
Papst und die engagierte Nonne.”
Der unerwartete optische Eindruck
beim Gespräch im Amtszimmer
des Präsidenten passt zu dem, was die
sechs Bundestagsabgeordneten in den
folgenden Stunden auch inhaltlich erfahren
werden: Die Kosovaren denken
in westlichen Werten, suchen Anschluss
an Europa. Eine gute Botschaft für die
in der früheren serbischen Provinz stationierten
Bundeswehrsoldaten, die natürlich
ebenfalls Ziel dieser Delegationsreise
des Verteidigungsausschusses
sind: Es gibt Grund zur Hoffnung,
dass sich die seit Jahren verhärtete
Situation zum Besseren wendet.
Trotzdem gleicht die Lage immer
noch einem Pulverfass, in dessen
Nähe verschiedene Gruppen zündeln.
Die Ausschussvorsitzende Ulrike
Merten erlebt das am eigenen Leib.
Denn die Reise der Abgeordneten fällt
zusammen mit der Heimkehr des im
Kriegsverbrechertribunal von Den
Haag freigelassenen kosovarischen
Politikers Ramush Haradinaj. Er wird
wie ein Volksheld empfangen. Tausende
haben sich am Flughafen eingefunden.
Mitarbeiter der deutschen Botschaft
raten der Bundestagsdelegation, sich
nicht zu erschrecken, wenn gleich geschossen
werde. Das seien dann sicherlich
Freudenschüsse, auf dem
Balkan sei das nicht auszuschließen.
Sicherheitshalber bekommt die
Ausschussvorsitzende aber besonderen
Personenschutz. Die Bundeswehr reagiert
lageabhängig in einem Einsatzgebiet,
das als „überwiegend ruhig,
nicht stabil” beschrieben wird. Seit
Anfang 2008 ist dieses Einsatzgebiet zugleich ein Staat im Entstehen. Das
bedeutet: Es gibt noch kein funktionierendes
Außenministerium, kein Straßenverkehrsamt.
Und Hans-Dieter
Steinbach, der neue deutsche Botschafter,
der die Delegation des Bundestages
am Flughafen abgeholt hat,
berichtet schmunzelnd, dass er in den
ersten fünf Tagen seiner gerade begonnenen
Tätigkeit schon drei Mal
mit dem Staatspräsidenten zusammengetroffen
ist. In anderen Staaten geschieht
das mit viel Glück drei Mal
im Jahr, hier aber ist der Botschafter
Deutschlands fast täglicher Gesprächspartner
der Staatsführung. Die Schilderung
stimmt die Abgeordneten auf
die folgenden Gespräche ein. Grundtenor:
Wir tun, was ihr wünscht, aber
sagt uns, was wir tun sollen und helft
uns dabei.
Alltag in Prizren, Hauptsitz der KFORTruppe. Bundeswehrsoldaten des Einsatzbataillons patrouillieren in der Innenstadt
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Politik mit Augenmaß
Es ist alles noch etwas improvisiert.
Die deutschen Politiker sind bereits
im Amtszimmer des Präsidenten verschwunden,
als aus einem Abstellraum
noch eine schwarz-rot-goldene Flagge
herausgeholt und neben die Tür gestellt
wird. Herrschte bei früheren
Besuchen eher eine Atmosphäre der
Starrköpfigkeit, vielleicht motiviert
durch die Furcht, die Träume von
Autonomie und Unabhängigkeit könnten
am Ende doch noch platzen, bilden
nun Konzilianz und Entgegenkommen den Hintergrund jedes Gespräches.
Zum Beispiel mit Vize-Ministerpräsident
Hajredin Kuçi. Nachdem schon
der Präsident mit der Ausschussvorsitzenden
vor die Kameras getreten
ist, um die Glück wünsche zur
Unabhängigkeit und im Gegenzug das
Versprechen einer Politik mit Augenmaß
öffentlich zu machen, rollt auch
der stellvertretende Regierungschef
den deutschen Parlamentariern verbal
den roten Teppich aus. Der Kosovo
werde ein multiethnisches Land sein,
das alle Bürger gleich behandelt, lautet
sein erster Satz. Damit greift er
die Befürchtungen auf, die kleine
Minderheit der Serben könne durch
Benach teiligung und Verfolgung aus
dem Land getrieben werden. Ein halbes
Dutzend weiterer Versicherungen
folgt. Sie münden in der Vorhersage:
„Sie werden es nicht bereuen, uns unterstützt
zu haben.”
Damit ist das Stichwort für den
zweiten Teil der Unterredung gefallen,
die in einem großen Raum stattfindet mit zwei Tischreihen, an denen
sich Gastgeber und Gäste gegenübersitzen.
An der Wand das kosovarische
Wappen mit den sechs weißen
Sternen, die für die sechs kosovarischen
Bevölkerungsgruppen stehen
sollen: Albaner, Roma, Türken, slawische
Muslime und Gorani. Kein
Stern größer oder kleiner als der andere.
Einheitlich treten auch die sechs
Bundestagsabgeordneten auf, die nun
von der Ausschussvorsitzenden vorgestellt
werden: Rainer Arnold von der SPD, Winfried Nachtwei von Bündnis
90/Die Grünen, Hans Raidel und
Marcus Weinberg von der CDU/CSU
und Paul Schäfer von der Fraktion Die
Linke. Dazu kommen noch der deutsche
Botschafter Hans-Dieter Steinbach
und für die Organisation die
Leiterin des Ausschusssekretariates,
Beate Hasenjäger.
Gewappnet sein, wenn plötzlich Steine fliegen: Übung des Einsatzbataillons bei Prizren
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Eine politisch sehr heterogene
Truppe, die sich im Ausschuss und im
Plenum des Bundestages trefflich zu
streiten weiß. Aber hier lässt jeder die
Ausschussvorsitzende die grundsätzlichen
Ausführungen im Namen aller
machen, ohne sich gleich von einzelnen
Feststellungen zu distanzieren. Gerade
bei Auslandseinsätzen im Allgemeinen und bei der Anerkennung des Kosovo
im Besonderen hat Die Linke eine
gänzlich andere Meinung. Doch in
den Gesprächen im Kosovo fällt dieser
Meinungsstreit innerhalb der Ausschussdelegation kaum auf. „Was soll
ich mich mit den Kollegen im Kosovo
zerzauseln”, sagt sich Schäfer von der
Linken. Dass es in Deutschland unterschiedliche
Auffassungen zur Kosovo-Anerkennung gibt, ist bekannt. „Den
Streit tragen wir in Deutschland aus,
nicht im Ausland”, lautet in Schäfers
Worten ein ungeschriebenes Gesetz
über das Auftreten von Koalitions- und
Oppositionsabgeordneten auf
Auslandsbesuch.
Sorge wegen Kriminalität
Inzwischen ist das Gespräch mit dem
Vizeregierungschef beim Thema Militär
angekommen. Kuçi schildert,
dass der Kosovo nun eine Armee
aufbauen will, die aus 2.500 aktiven
Soldaten und 800 Reservisten bestehen
soll. Wieder bindet er das in
Zusagen ein: „Wir versprechen, kein
Krisenexporteur zu sein”, unterstreicht
er. Die Ausschussvorsitzende Merten
betont, mehr eigene Sicherheit für den
Kosovo komme sicherlich auch durch
mehr Anstrengungen auf dem Gebiet
der Polizistenausbildung. Und dann
gibt sie noch einen Hinweis, den die
Kosovaren gut verstehen. Es sei sicherlich
hilfreich, beim Aufbau von
Streitkräften von Anfang an auf die
zivile Kontrolle zu achten. „Unsere eigene
Erfahrung damit kann sich sehen
lassen”, fügt sie hinzu.
Rainer Arnold spricht zwei
weitere heikle Punkte an. Noch immer
fällt im Kosovo täglich für
Stunden der Strom aus. Überall stehen
Dieselgeneratoren neben den Häusern
und Hotels. „Was macht das geplante
moderne Kraftwerk?”, will er wissen.
Und fügt noch eine Frage nach dem
Mediensystem an: „Wird es auch öffentlich-rechtliche Sender geben oder
ausschließlich private Anbieter?”
Vorerst bleibe es in der „postkommunistischen
Gesellschaft” des Kosovo dabei, dass es auch öffentliche
Sendeanstalten gebe, antwortet Kuçi.
Die Sache mit dem Kraftwerk wird
zu einer langen Ausführung. Hier
gehe es einerseits darum, dass die
Bevölkerung „Stress” sowohl mit der
unsicheren Energieversorgung als auch
mit der belasteten Luft habe. Bei der
Genehmigung des Kraftwerkes müsse
man daher auch den Umweltschutz
stärker berücksichtigen. Dann kommt
er auf die Wirtschaftssituation allgemein
zu sprechen. Und landet nicht
überraschend bei der internationalen
Unterstützung, die — natürlich — ausgeweitet
werden müsse.
Die Delegation des Verteidigungsausschusses (von rechts): die Abgeordneten Winfried Nachtwei, Paul Schäfer, Ulrike Merten, Hans Raidel, Rainer Arnold und Marcus Weinberg; links Piloten der Bundeswehr
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Nach Auffassung von Hans
Raidel ist der Aufbau der Justiz sehr
wichtig. Ohne eine funktionierende
Gerichtsbarkeit fänden nicht zuletzt auch die von den Kosovaren so dringend
erhofften Investoren keine
Rechtssicherheit. Damit deutet Raidel
einen Punkt an, den alle Abgeordneten
als großes Fragezeichen in ihren
Köpfen dabeihaben: Ist es wahr, dass
man anderswo von „Territorien mit
organisierter Kriminalität” spricht, im
Kosovo aber eher die Bezeichnung
„organisierte Kriminalität mit Territorium”
angebracht ist — wie sich Winfried
Nachtwei nach diversen Gesprächen
unter anderem auf der Basis von Sicherheitserkenntnissen
notiert. Hohe Jugendarbeitslosigkeit
scheint der ideale Nährboden
für die Rekrutierung von immer
neuem Personal für die organisierte
Kriminalität.
Beim Flug über den Süden des
Landes ist am nächsten Morgen zu
sehen, wie es mit dem Land aufwärts
geht. Überall herrscht Bautätigkeit,
werden teils beeindruckende, fast villenartige
Wohnhäuser hochgezogen.
Aber aus welchen Geldquellen wird
das alles gespeist? Diese Frage nimmt
die Delegation ohne Antwort, nur
mit Vermutungen verbunden mit nach
Hause zurück. Raidel leitet aus den
Beobachtungen die Erkenntnis ab,
dass die Hilfe zur Selbsthilfe im Sinne
dieser Selbsthilfe neu bewertet und
verstärkt werden muss. „Wir unterstützen
den Wiederaufbau des Landes
und der politischen Selbstständigkeit
des Staates. Nach dem langfristigen
Engagement von KFOR muss über
konditionierten Abzug nachgedacht
werden.” Raidel verlangt aber genauso
eine Unterstützung Serbiens bei
Annäherung an EU und NATO.
Vor dem Blick auf die eigene
Truppe und deren schwierige Situation
stehen erst noch weitere Termine auf
der Tagesordnung. Es gibt Treffen
mit dem Parlamentspräsidenten, mit
Abgeordneten aus dem kosovarischen
Parlament, mit Vertretern der internationalen
Gemeinschaft im Kosovo.
Derweil reift im Hinterkopf der Ausschussvorsitzenden
eine Idee. Bei einem
abendlichen Empfang durch den
deutschen Botschafter testet sie, was
sie später in Deutschland auf den Weg
bringen will, in ersten Gesprächen an:
Wie wäre es, wenn der Bundestag sein
internationales Austauschprogramm
auf den Kosovo ausweitet? Dann
könnten Mitarbeiter der kosovarischen
Institutionen aus eigener Anschauung
in Deutschland kennenlernen, wie politisch-
parlamentarische Abläufe routiniert
und optimiert verlaufen.
Faszination Staatsgründung
Das Echo ist einhellig positiv. Das ist
das Gute an solchen abendlichen, etwas
informelleren Begegnungen: Im
Vier-Augen-Kontakt lässt sich manches
direkter „einstielen” als im offiziellen Rahmen. Es bleibt dann noch
Zeit für ein paar Schritte durch die
nächtliche Innenstadt. Vorbei etwa an
dem Monument mit den sieben riesigen
Buchstaben N-E-W-B-O-R-N. Diese
„Neugeburt” stand im Mittelpunkt
der Staatsgründungsfeiern. Und so
können die Abgeordneten nach ihrer
Landung am nächsten Morgen eine
halbe Hubschrauberfl ugstunde weiter
südlich im deutschen Hauptquartier
Prizren nur zu gut die Faszination der
Soldaten verstehen: „Dieses Kontingent
erlebt europäische Geschichte mit”,
berichten die Bundeswehrangehörigen.
Sie bilden das 19. Kontingent seit
Beginn der Mission vor fast neun
Jahren. Es ist das erste, das deutliche
Bewegung zum Besseren verzeichnet.
Patrouille durch die Altstadt: Die Sinan-Pascha-Moschee in Prizren hat eines der höchsten Minarette des Balkans
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Aber die Staatsgründung bringt
nicht nur Faszination mit sich, auch
Erschrecken. Eigentlich dachte die
Bundeswehr, sie habe die Lektion aus
den Märzunruhen vor vier Jahren gelernt,
als an vielen „Hotspots” gleichzeitig
wie aus dem Nichts Aufruhr
angezettelt wurde und die internationale
Truppe sich regelrecht vorgeführt
fühlte. Ihre Konsequenz: polizeiliche
Ausbildung, polizeiliche Ausrüstung,
um beim nächsten Mal besser gewappnet
zu sein. Das Niederringen von ausufernden
Demonstrationen mit polizeilichen
Mitteln gehört seitdem zur
festen Vorbereitung jedes Kontingents.
Die Militärs bestätigen, was die
kosovarischen Politiker am Vortag
immer wieder versichert hatten: Die
Kosovo-Albaner provozieren derzeit
nicht. Sie reagieren nicht einmal auf
serbische Provokationen, wie demonstrativ
aufgezogene serbische Flaggen
in Klöstern. Dafür scheint das serbische
Innenministerium die Rolle des
Unruhestifters übernommen zu haben.
Die Abgeordneten sehen eine Videodokumentation,
die die KFOR-Friedenstruppe
noch unter Verschluss hält.
Zu sehen ist darauf, wie am Rande
der Räumung eines von Serben besetzten
Gerichtsgebäudes in Mitro vica zuerst
Pfiffe ertönen, dann Steine fliegen,
dann Molotowcocktails, schließlich
so gar Handgranaten.
Schnell waren die kosovarische
Polizei und UN-Polizisten von
der Situation überfordert, und die
KFOR-Truppe musste an die vorderste
Front. 22 von ihnen erleiden leichte,
zwei schwere Verletzungen. Auch 27
UNMIK-Polizisten werden verletzt,
zwei davon schwer. Ein ukrainischer
UN-Polizist verblutet, getroffen von
über 50 Splittern. Die Gewalttäter,
die durchaus Mörder genannt werden
können, sind auch Wochen nach den
Vorfällen nicht gefasst, obwohl zum
Teil namentlich bekannt. Einige der
Tatverdächtigen sind als Mitarbeiter
des serbischen Innenministeriums identifiziert. Auch die Zollstationen, die
die Kosovaren an der neuen Grenze
errichtet hatten und die die Serben einfach niederbrannten, sind noch nicht
wieder in Betrieb. Das ist die Situation,
die die Bundeswehr als „nicht stabil”
bezeichnet.
Am Puls des Kosovo
Die Abgeordneten kommen in mehreren
Treffen sowohl mit den Verantwortlichen
der regionalen Bun deswehr
als auch mit den Vertrauens leuten und
Vertretern aller Dienstgrade zusammen.
Sie gewinnen so ein immer detaillierteres,
immer vollständigeres
Bild von den Dimensionen dieses
Einsatzes. Mehr als die Hälfte der
Kampfverbände ist nicht mehr im relativ
ruhigen Süden, sondern im Norden
stationiert, wo die Lage jederzeit besonders
brenzlig werden kann. Das
Lager im Norden haben die Bundeswehrsoldaten
„Nothing Hill” getauft.
„Der Name kommt nicht von ungefähr”,
berichten sie. Auf dem Hügel
im Nichts ist tatsächlich nichts los —
außer der Bereitschaft, sich rund um
die Uhr in Lebensgefahr stürzen zu
müssen.
Umso wichtiger, dass sie über
beste Informationen verfügen. Sie kommen
nicht nur von den Geheimdiensten
der westlichen Staaten. Die Bundeswehr
hat auch Verbindungs- und Beobachtungsteams mitten in der Bevölkerung.
„Sie messen den Puls des
Kosovo”, hören die Abgeordneten. Im
Zuständigkeitsgebiet der Bundeswehr
im Süden gibt es immer wieder Gewalt.
Eine Schießerei auf offener Straße fordert
drei Tote — stellt sich aber wie vieles
andere als Blutrache zwischen Familien
dar. Ein neuer Hinweis auf das
„Phänomen” organisierte Kriminalität.
Die Geschichte des serbisch-orthodoxen Erzengelklosters bei Prizren reicht ins 14. Jahrhundert zurück. 2004 brannte es bei Unruhen nieder und steht seitdem unter verstärktem Schutz der KFOR-Truppe
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„Wie erleben die Soldaten ihren
Alltag?”, wollen die Abgeordneten wissen.
Als Antwort gibt es zum Beispiel
den Hinweis auf die gute medizinische Versorgung. Ein Soldat, der nach einer
Quetschung einen Finger zu verlieren
drohte, kam per Hubschrauber
ins Einsatzlazarett. Finger gerettet.
60 Prozent der Soldaten sind erstmals
im Kosovo, die anderen teils schon „alte
Hasen”. Sie wissen, wie es ist, wenn
es manchmal auch an Material mangelt.
So beklagen sie im Gespräch mit
den Politikern, dass immer noch keine
brauchbaren Impulspatronen eingetroffen
sind. Denn die ursprünglich als
„nichttödlich” eingestufte Munition
stellte sich in Tests doch als gefährlicher
heraus und wurde daher für den
Einsatz gesperrt. Die neue Generation
ist aber noch nicht verfügbar. „Es
fehlt eine Eskalationsstufe”, kritisieren
die Soldaten. Und die Abgeordneten
schreiben es sich auf, werden gegenüber
dem Verteidigungsministerium
nachhaken.
Die Ausrüstung ist ein Dauerthema
bei der Truppe im Ausland.
Immer noch ist zu spüren, dass die
Intervention, das Erzwingen und Stabilisieren
von Frieden, nicht das ist,
wofür die Bundeswehr ursprünglich
vor allem aufgestellt wurde. Da wird
jongliert und probiert. Und mitunter
kann auch die Industrie nicht so schnell
liefern, wie sich die Bundeswehr im
Auslandseinsatz das manchmal besonders
bei neu entwickelten Gerät schaften
gern wünscht. Da ist auch im Kosovo
eine Abkehr von alten Grundsätzen zu
spüren: „Lieber 90 Prozent sofort als
120 Prozent in fünf Jahren”, sagen die
Soldaten, wenn sie bemängeln, dass
Kleinigkeiten nicht ganz funktionieren
oder Ausstattungen nicht vollständig
zur Verfügung stehen.
„Wie steht’s mit dem Sport?”,
fragt Rainer Arnold. Die Antwort
besteht in der Beschreibung des Arbeitsrhythmus:
48 Stunden auf Patrouille
im Land, 48 Stunden im
Objektschutz, dann 48 Stunden für
Erholung, Ausbildung und Sport. Ein
anstrengender Dienst, für den es auch
einen Auslandsverwendungszuschlag
gibt. Aber nur einen „zweiter Klasse”,
weil die Gefährdung nicht so hoch zu
sein scheint wie etwa in Afghanistan.
Der Kommandeur bringt es vor den
Augen der Abgeordneten auf den
Punkt: „Gibt es jemanden, der mehr
Geld haben will?” Alle Hände gehen
hoch. „Fühlt sich jemand ungerecht
behandelt?” Kein Finger rührt sich.
Operation „Sister Act”
Der Alltag im Kosovo. Der kann für die
Bundeswehrsoldaten monoton oder jeden
Tag anders sein. Die Abgeordneten
schauen sich exemplarisch den Ablauf
einer Operation an, die die Soldaten
intern „Sister Act” getauft haben: der
Schutz von sechs Nonnen in einem
serbischen Kloster mitten unter albanischer
Bevölkerung. Da sind nicht nur
die Rund-um-die-Uhr-Bewachung, die
Patrouillen am Zaun um das Kloster,
die Zugangskontrollen. Da ist auch
die Begleitung der Nonnen beim Einkaufen.
Das ist jedes Mal minutiös zu
planen: Wohin soll es gehen? Wie sind
die Verhältnisse? Welches Fahrzeug
übernimmt? Von wo wird beobachtet?
Nur so lässt sich sicherstellen, dass
der heikle Kontakt nicht zum Funken
wird, der verheerende Reaktionen in
Gang setzt. Das Vertrauen der serbischen
Minderheit in den wirksamen
Schutz durch die Kosovo-Truppe wird
zum wichtigen Faktor auch für die
weitere politische Entwicklung des
jungen Staates.
Dennoch gibt es Grenzen. Wichtig
wäre zwar jetzt, die Rädelsführer
der blutigen Unruhen dingfest zu machen.
„Doch das ist eindeutig Polizeiaufgabe”,
betonen die Soldaten.
Insofern interessieren sich die Abgeordneten
bei dieser Reise insbesondere
auch dafür, wie die neue EU-Mission
EULEX die bisherige UN-Mission
UNMIC so reibungslos wie möglich
ablösen kann. Wie gut dieser zivile
Einsatz gelingt, ist mitentscheidend
auch dafür, ob die Gefährdung für die
Bundeswehr zu- oder abnimmt.
Wie wirkt das Erlebte?
Angesichts der Bilder von purer Gewalt
und angesichts der Vorbereitung, bei
solchen Situationen in Zukunft auch
gegen Rädelsführer gezielt von der
Schuss waffe Gebrauch zu machen,
stellt Hans Raidel eine naheliegende
Frage: „Wie gehen Sie mit dem Thema
Traumati sierung durch den Einsatz
um?” Ein Hauptfeldwebel: „Vorher
kann das keiner wissen, wie das Erlebte
auf uns wirken wird.” Nachdenklich
besteigen die Abgeordneten die
Hubschrauber.
Die Abgeordneten Winfried Nachtwei (links) und Paul Schäfer beim Start des Hubschrauberfluges zum KFOR-Hauptquartier in Prizren
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Die halbe Stunde im Helikopter,
so laut, dass man sich nicht unterhalten,
sondern nur das Erlebte wirken
lassen kann. Was bleibt von dieser
Reise? „Die Soldaten wissen, dass
sie jederzeit in eine neue Gefährdung
kommen können, aber sie wissen
auch, dass sie dafür gut ausgebildet
und ausgerüstet sind”, denkt Ulrike
Merten, die Ausschussvorsitzende.
„Die machen das sehr professionell”,
hat Hans Raidel mitgenommen — und
in der „Edelweißalm” der Kosovo-
Truppe hatte der CSU-Abgeordnete
sogar so etwas wie ein „bayerisches
Heimatgefühl” empfunden. Rainer Arnold
von der SPD überlegt sich, dass
die Truppe zwar gut vorbereitet und
auch mit der flexiblen Verwendung
über das ganze Land hinweg optimal
aufgestellt ist. Aber dass die Dinge im
Norden immer noch so in der Schwebe
sind, lässt ihn vermuten, dass der
Konsens in der Staatengemeinschaft
längst nicht so ist, wie er sein müsste.
Winfried Nachtwei hat unter anderem
die Anstrengungen vor Augen, mit denen
die Bundeswehr die wenigen im
Land verbliebenen Serben schützt. Der
Aufwand erscheine so absurd, wie er
richtig sei, notiert sich Nachtwei zur
Operation „Sister Act”. Und Paul
Schäfer ahnt mit Blick auf die vielen
offenen Fragen rund um den Kosovo:
„Da dräut noch was!” So viele Punkte,
die Anlass für neue Gewalt geben
könnten. Gut, dass die Delegation
derart tief in die Zusammenhänge
einsteigen und sich ein eigenes, intensives
Bild machen konnte. Schäfer
steht mit seinem Fazit nicht allein,
sondern spricht für alle: „Diese Reise
hat sich gelohnt!”
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Text: Gregor Mayntz
Erschienen am 18. Juni 2008
Kontakt und Informationen:
Verteidigungsausschuss
E-Mail: verteidigungsausschuss@bundestag.de
Website: www.bundestag.de (Rubrik Ausschüsse)
Kosovo in Kürze
Ursprünglich römische Provinz. 1389 Schauplatz der Schlacht auf dem
Amselfeld, wird daher von Serbien als Keimzelle der eigenen Historie gesehen.
1974 autonome Provinz innerhalb Jugoslawiens. 1989 Autonomie
durch Serbien aufgehoben. Seit 1996 kriegerische Auseinandersetzungen
zwischen kosovarischen Kämpfern und serbischen Streitkräften. 1998/99
Scheitern von Friedensverhandlungen, verstärkt „Säuberungen“ und Massaker
im Kosovo. Ab 24. März 1999 Eingreifen der Nato mit Angriffen
auf Ziele in ganz Serbien. Kosovo Force (KFOR) und UN-Sicherheitskräfte
(UNMIK) errichten im Sommer 1999 ein UN-Protektorat bis zur Klärung
des endgültigen Status. Keine Einigung der internationalen Gemeinschaft.
Am 17. Februar 2008 verkündet der Kosovo seine Unabhängigkeit und wird
von den meisten EU-Staaten, den USA und weiteren Ländern als Staat anerkannt.
Seit Frühjahr 2008 läuft der Aufbau von EULEX, der Rechtsstaat-
Unterstützungsmission der EU.