Im Plenum des Parlamentarischen Rates: Konrad Adenauer (CDU), der bei der konstituierenden Sitzung zum Präsidenten gewählt wird
© Erna Wagner-Hehmke/HDG
Konstituierung des Parlamentarischen Rates
Unmittelbar nach dem Festakt im Museum Koenig konstituiert sich am 1. September 1948
der Parlamentarische Rat in der benachbarten Pädagogischen Akademie. Mit Selbstbewusstsein
gehen die 65 Abgeordneten an die historische Aufgabe. Diese erfordert im
Bonn der Nachkriegszeit neben Sachverstand und politischem Geschick auch die Fähigkeit
zur Improvisation, wenn es um Unterkunft, Arbeitsmittel oder Verpflegung geht.
Haben beim Festakt noch die feierlichen
Töne überwogen, geht
es nun rasch und hart zur Sache.
Noch in der Eröffnungssitzung kommt
es fast zum Eklat, als der KPD-Abgeordnete
Max Reimann die sofortige Einstellung
der Beratungen fordert, weil der Rat „kein Mandat vom deutschen
Volke” habe. Insgesamt ringen und feilen
die 65 Mitglieder neun Monate am künftigen Grundgesetz. Damit die Arbeit
erfolgreich wird, sind umfangreiche
Vor- und Hilfsarbeiten notwendig.
Schon am ersten Tag wird deutlich, wer personell den Parlamentarischen
Rat vor allem prägen wird: Konrad Adenauer. Denn der frühere
langjährige Kölner Oberbürgermeister und Vorsitzende des Preußischen Staatsrates
wird zum Präsidenten des Parlamentarischen
Rates gewählt und besitzt dadurch erhebliche Einflussmöglichkeiten.
Zudem zeigt sich der 72-Jährige unerschrocken auch gegenüber
den Alliierten. Bereits in seiner Eröffnungsansprache
beweist er erhebliches Selbstbewusstsein: Zwar sei der Parlamentarische
Rat „durch einen Akt der
Militärgouverneure” einberufen, sagt
er, aber nun „im Rahmen
der ihm gestellten Aufgaben völlig frei und selbständig”.
Anwesende Militärbeobachter ziehen da erstaunt die Augenbrauen
hoch. Und noch eines gibt Adenauer,
der später erster Bundeskanzler der
Bundesrepublik wird, den Mitgliedern
des Parlamentarischen Rates gleich zu
Beginn mit auf den Weg: Sie sollen
sich im Bewusstsein der „historischen
Aufgabe” unter „Gottes Schutz mit
dem ganzen Ernst und mit dem ganzen
Pflichtgefühl” stellen.
Bevor die Mitglieder des Parlamentarischen
Rates mit ihrer Arbeit in
Bonn beginnen können, müssen sie für
diese Aufgabe bestimmt und gewählt
werden. Dafür haben die Westalliierten
in ihren „Frankfurter Dokumenten”
präzise Vorgaben gemacht: Die Anzahl
der Mitglieder solle ermittelt werden,
indem die Gesamtzahl der Bevölkerung nach der letzten Volkszählung von
1946 durch 750.000 oder eine ähnliche
Zahl geteilt werde. Die eigentliche
Wahl solle dann durch die elf westdeutschen
Landtage erfolgen. Zwischen
dem 15. und 30. August folgen die
Landtage den Vorgaben und wählen 65
Abgeordnete in den Parlamentarischen
Rat. Bei ihrer Auswahl wird stark auf
politische Erfahrung und politischen
Sachverstand geachtet, allerdings suchen
die Parteien, möglichst großen
Einfluss auf die Auswahl zu nehmen.
Im Bewusstsein der historischen Aufgabe
© DBT/Marc Mendelson
Die 65 Abgeordneten des Parlamentarischen
Rates verteilen sich folgendermaßen auf die Parteien: CDU/
CSU 27 Sitze; SPD ebenfalls 27 Sitze;
FDP fünf Sitze; Deutsche Partei zwei
Sitze; Zentrum zwei Sitze; KPD zwei
Sitze. Hinzu kommen fünf nicht stimmberechtigte
Abgeordnete aus Berlin,
von denen drei der SPD sowie je einer
der CDU und FDP angehören.
Die vier Frauen im Parlamentarischen Rat: Friederike Nadig (SPD), Elisabeth Selbert (SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum)
© Erna Wagner-Hehmke/HDG
Wer sind nun die 61 Männer und
vier Frauen, die Schicksal und Zukunft
Deutschlands in die Hände nehmen sollen?
Kurz geantwortet, werden vor allem
angesehene und bedeutende Persönlichkeiten
in den Parlamentarischen
Rat entsandt. Die CDU etwa schickt ihren „starken Mann” in der britischen Zone
Konrad Adenauer und den christlichen
Gewerkschaftsführer Jakob Kaiser in
den Rat, die SPD ihre herausragenden
Verfassungsexperten und Politiker Carlo
Schmid, Georg August Zinn und Walter
Menzel (SPD-Chef Kurt Schumacher kann aus Krankheitsgründen nicht teilnehmen),
die FDP den Publizisten (und späteren Bundespräsidenten) Theodor
Heuss und den Starjuristen Thomas Dehler, die CSU ihre „graue Eminenz”
Anton Pfeiffer. Nur mit der Entsendung
von Frauen tut man sich schwer. Es gibt
nur vier „Verfassungsmütter”: Helene
Weber (CDU), Frieda Nadig (SPD),
Elisabeth Selbert (SPD) und Helene
Wessel (Zentrum).
Das Durchschnittsalter der Abgeordneten
beträgt 55 Jahre, jeder dritte
Abgeordnete ist 60 Jahre und älter.
Wie auch heute in vielen Parlamenten
überwiegt auch im Parlamentarischen
Rat mit 47 Abgeordneten die Zahl der
Berufsbeamten, Richter und Professoren.
Von den 51 Akademikern haben
32 ein juristisches Studium und elf ein
wirtschaftswissenschaftliches Studium
absolviert. 35 Abgeordnete haben einen
Doktortitel. Etliche Abgeordnete können
mit langer Parlamentserfahrung
aufwarten:
So waren die Abgeordneten
Paul Löbe, Wilhelm Heile und Helene
Weber bereits Mitglieder der Weimarer Nationalversammlung von 1919. 22
Abgeordnete gehörten in der Weimarer
Republik einem Landtag oder einem
Provinziallandtag an. Über 25 Mitglieder
des Parlamentarischen Rates können
sich auf wichtige Erfahrungen
aus ihren Tätigkeiten im Nachkriegsdeutschland
stützen — in einer Landesregierung, im
Wirtschaftsrat oder im Verwaltungsrat
der Bizone.
Parlamentarische Strukturen
Über die Partei- und Herkunftsgrenzen
eint vor allem eines die Männer und
Frauen im Parlamentarischen Rat:
Dem „Dritten Reich” standen sie — oft
um den Preis von Karriere und Freiheit
— skeptisch bis ablehnend gegenüber.
Viele von ihnen wurden nach der
Machtübernahme der Nationalsozialisten
aus ihren Berufen entfernt oder
aus ihren Ämtern entlassen, andere in
„Schutzhaft” genommen. Wegen ihres
aktiven Widerstandes gegen die Nazis
mussten einige ins Ausland fliehen,
andere wurden in Konzentrationslager
verbracht. Insgesamt kann man sagen,
dass kaum ein Abgeordneter des
Parlamentarischen Rates im „Dritten
Reich” von Drangsalierungen, Denunziation
und Verfolgung verschont geblieben
war. Nie wieder hat es eine so
stark von persönlichen Erfahrungen unter dem NS-Regime geprägte Delegation
in Deutschland gegeben wie
den Parlamentarischen Rat.
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So wichtig Erfahrung und so
stark der Eifer für die bevorstehende
historische Aufgabe ist — die Mitglieder
des Parlamentarischen Rates haben zunächst
ganz banale Sorgen: Wo unterkommen
im kleinen Bonn, das wie viele
andere Städte vom Krieg halb zerstört
ist? Wovon leben, wenn das Geld knapp
ist und die Lebensmittel teilweise noch
immer rationiert sind? (Siehe Kasten.)
In diesen Zeiten ist vor allem
eines gefragt: Improvisation. Dies gilt
sowohl für den privaten Bereich als
auch für die Organisation des Parlamentarischen
Rates. Da müssen Stenografen
und Sekretärinnen
gesucht, Räume hergerichtet,
Telefonleitungen gelegt und
Schreibmaterialien
besorgt werden. Und
das nicht nur für den Parlamentarischen
Rat, sondern auch für ein Außenbüro
der Ministerpräsidenten und für die eigenen
Büros von Amerikanern, Briten
und Franzosen, die alle genau und
teilweise auch argwöhnisch die Arbeit
des Parlamentarischen Rates verfolgen
wollen.
Zur Führung der allgemeinen Arbeit
des Parlamentarischen Rates wird
die Einrichtung eines Ältestenrates,
eines Geschäftsordnungsausschusses
und eines Hauptausschusses beschlossen,
der die Koordinierung all dieser Aufgaben
übernehmen soll. Damit erhält
der Parlamentarische Rat politische
und verwaltungstechnische Strukturen,
die bereits stark an ein richtiges Parlament
erinnern.
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Text: Sönke Petersen
Bildnachweis: Erna Wagner-Hehmke/Hehmke-Winterer,
Düsseldorf; Haus der Geschichte, Bonn
Erschienen am 13. August 2008
Weitere Informationen:
Protokolle der Konstituierung
in „Der Parlamentarische Rat 1948-1949; Band 9: Plenum”, im Internet unter:
http://books.google.de