Kurz vor Weihnachten 1990 —
im Jahr der Einheit — tritt im
Reichstagsgebäude der neugewählte Bundestag zu seiner konstituierenden
Sitzung zusammen. Es ist
der zwölfte der „Bonner Republik”
seit 1949, zugleich ist es das erste Parlament
seit 1933, das nach freien Wahlen
in ganz Deutschland in Berlin eröffnet
wird. Das hätte es dann sein
können mit der wiedervereinigten
Republik und dem Reichstagsgebäude.
Denn die Alltagsarbeit nimmt das
Parlament dann in Bonn auf. Dort
ist das Bundesparlament nach knapp
vier Jahrzehnten in der umgebauten alten Pädagogischen Akademie ins Provisorium „Wasserwerk” umgezogen,
weil gerade ein neues Plenargebäude
entsteht.
Doch als der Bundestag 1992 in
sein neues Domizil am Rhein einzieht,
läuft bereits der Countdown für den
Auszug. Denn nach leidenschaftlichem Ringen hat sich der Bundestag am 20.
Juni 1991 entschieden, Berlin zum Parlaments- und Regierungssitz des
wiedervereinigten Deutschlands zu machen.
Senkrechtes Luftbild des Spreebogens in Berlin-Mitte
© www.stadtplan3d.de
Am Morgen des entscheidenden Tages ist die Abstimmung noch völlig
offen. Gefühlt scheinen die Bonn-Befürworter vorn zu liegen. Den Umschwung Richtung Berlin schafft der damalige Innenminister Wolfgang
Schäuble (CDU/CSU): Es gehe nicht um einen Wettkampf zwischen zwei
Städten, sondern um die Zukunft Deutschlands, stellt er fest. Daraufhin
entwickelt er unter Verweis auf das Jahrzehnte geltende Bekenntnis zu
Berlin als Hauptstadt eines wiedervereinigten Deutschlands die Forderung,
dass man sich aufeinander verlassen müsse, wenn man die Teilung über
winden wolle. „Deutschland, die Deutschen, wir haben unsere Einheit gewonnen, weil Europa seine Teilung überwinden wollte. Deshalb ist die
Entscheidung für Berlin auch eine Entscheidung für die Überwindung der
Teilung Europas”, sagt Schäuble unter großem Beifall aus dem ganzen Haus.
„Stimmen Sie mit mir für Berlin”, appelliert er zum Schluss, woraufhin sich Abgeordnete der Union und SPD von den Plätzen erheben und ihm Willy
Brandt zu dieser Rede gratuliert. Das Ergebnis der Abstimmung: 337 gegen
320 Stimmen für Berlin.
Es wird nur kurz diskutiert, wohin
das Parlament in Berlin ziehen soll.
Ein Vorschlag geht in Richtung eines
Neubaus auf dem Schlossplatz. Doch
bald steht fest: Das Reichstagsgebäude
soll es sein. Anregungen für die Gestaltung ergibt ein internationaler Wettbewerb. Drei Entwürfe werden ausgewählt:
Sir Norman Foster will ein
riesiges, transparentes Dach hoch über
dem umgebauten, aber in seiner historischen
Substanz erhaltenen Bau errichten,
Pi de Bruijn den Reichstagsbau um einen Präsidialflügel erweitern und
den Plenarsaal in einer großen Schüssel auf dem Vorplatz unterbringen und
Santiago Calatrava ein großes Glasdach mit Kuppel schaffen. Schließlich
erhält Foster den Auftrag für den Umbau.
Sein Konzept wird allerdings in einem Überarbeitungsprozess in den
augenfälligsten Teilen verändert: ohne
das teure Großdach, aber mit Kuppel.
Eingebettet ist der erneute Umbau des Reichstagsgebäudes in ein städtebauliches Konzept für das Parlaments- und Regierungsviertel, das nach den Vorschlägen von Axel Schultes und Charlotte Frank verwirklicht wird. Es stellt einen Zusammenhang zwischen dem Kanzleramt und den Neubauten des Bundestages her, trennt sich von dem historischen Stadtviertel im Spreebogen und entwickelt stattdessen ein „Band des Bundes”, bei dem das Reichstagsgebäude nicht mehr Abseits der
Stadt, sondern angeschlossen an eine dynamische Ost-West-Entwicklung
liegt. Über die neuen Bundestagsbauten ist sogar ein Sprung über die Spree in Form einer Brücke verwirklicht. Dieser überwindet symbolisch nicht nur die Jahrzehnte der Teilung.
Er durchbricht damit auch symbolisch die städtebaulichen Vorstellungen, die Hitler mit seinem Architekten Albert Speer für die „Welthauptstadt
Germania” entwickelt und in Ansätzen bereits vorbereitet hatte:
Eine pompöse Nord-Süd-Achse sollte neben dem Reichstag zu einer „Halle des Volkes” führen, die mit 315 mal 315 mal 320 Metern das größte
Kuppelbauwerk der Welt geworden wäre und das Reichstagsgebäude optisch
auf die Größe einer Pförtnerloge
gebracht hätte.
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Erschienen am: 24. September 2008
Bau und Kunst
Informationen zu Architektur und Kunstwerken:
www.bundestag.de/bau_kunst