Mit einem Paukenschlag eröffnet DDR-Staatschef Erich Honecker das Jahr 1989: „Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben.” Richtig Angst machen die Sätze kaum, zeugen sie doch von Realitätsverlust. Die Greise an der DDR-Spitze sind unfähig und unwillig, die Zeichen der Zeit zu erkennen.
Als der KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow vom „europäischen Haus” spricht, macht DDR-Außenminister Oskar Fischer die Mauer zu dessen tragender Wand. „Auf eine so brüchige Wand würde ich mein Haus nicht bauen. Beton bröckelt von innen, fällt einfach zusammen”, spottet Friedrich Schorlemmer, Pfarrer aus der Lutherstadt Wittenberg.
Mehltau liegt über dem Land. Die Zeit steht still, aber die Lebensuhren laufen – so hat es der Journalist und Theologe Christoph Dieckmann später beschrieben. Teilnahmslosigkeit, Gleichgültigkeit, Schweigen, Lügen, zum Teil Denunziation, von Gängelung, Repressionen nicht zu reden, kennzeichnen die Gesellschaft, in der die Oberen glauben, Friedhofsruhe sei politische Stabilität.
Doch die Menetekel mehren sich. In Dresden fragt im Februar 1989 am Jahrestag der Bombennacht Pfarrer Harald Brettschneider öffentlich, ob die Gesellschaft für die Menschen oder die Menschen für die Gesellschaft da sind. Im Frühjahr fordern Leipziger Bürgerrechtler auf Flugblättern Meinungs- und Pressefreiheit, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Im Ostteil Berlins berichten Westkorrespondenten erstmals über die Beerdigung eines Mauertoten. Die Ausreisezahlen steigen an; montags versammeln sich in Leipzig Hunderte Ausreisewillige in der Nikolaikirche, ziehen zum nahen Markt mit den Rufen „Wir wollen raus”, „Wir haben keine Angst”. Neue Töne auch aus den „Bruderstaaten” des Ostblocks: In Polen bildet der Runde Tisch eine Übergangsregierung; Ungarn tritt der Genfer Flüchtlingskonvention bei und schickt Flüchtlinge nicht mehr in die DDR zurück. Umweltgruppen in der DDR prangern Waldsterben und Wasserverschmutzung an („Bitteres aus Bitterfeld”).
Am 24. April 1989 staunen DDR-Bürger: Gorbatschow zeigt, wie man geheim wählt, zieht demonstrativ den Vorhang der Kabine zu. Bei der Wahl zum Obersten Sowjet stehen mehrere Kandidaten zur Auswahl. Nicht einmal diese Art Wahl kennt die DDR. Hier gehen Hausgemeinschaften geschlossen hin, geben offen die Stimme zur Einheitsliste ab. Ende April legt die Ökumenische Versammlung ihr Gerechtigkeitspapier vor: Die DDR erwarte von der Wiege bis zur Bahre eine „Erstklässler-Mentalität”, der Bürger sei Objekt, könne kaum Eigenständigkeit entfalten – es ist ein Regierungsprogramm für ein demokratisches Land.
Am 2. Mai zeigen die Westnachrichten, wie Ungarns Soldaten an der Grenze zu Österreich Stacheldraht durchschneiden. Polen lässt die verbotene Gewerkschaft „Solidarność” wieder zu; der Runde Tisch in Warschau beschließt freie Wahlen, mehrere Parteien, unabhängige Gerichte.
In diesem Umfeld finden am 7. Mai 1989 die Kommunalwahlen statt. Die SED will einen Akt alter Art von „Zettelfalten”; ein gefalteter Stimmzettel ist gültig, ein Kreuz nicht nötig. Das „Neue Deutschland”: Die Wahl zeige, „dem Sozialismus gehört die Zukunft”. Zukunft ist eine „Wahl” mit 98,85 Prozent Zustimmung. Längst ahnen viele, es gehe nicht mit rechten Dingen zu. So kontrollieren Hunderte Leute kirchlicher Gruppen in Berlin, Leipzig, Rostock und anderswo Einzelergebnisse. In den Wahllokalen gibt es zehn Prozent mehr Neinstimmen als im amtlichen Ergebnis. Die DDR verliert noch ein Stück Glaubwürdigkeit.
Im Sommer 1989 fällt die DDR vollends in Lethargie. Honecker wird schwer erkrankt von der Tagung der Ostblockspitzen in Bukarest ausgeflogen. Nichts wird entschieden. Alle warten auf seine Genesung. Er äußert sich bis Oktober nur am 14. August: „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.”
Oppositionelle nutzen die Lage, ohne zu wissen, ob die SED die chinesische Gewaltlösung anpeilt. Die Führung in Peking hatte im Juni des Jahres die Studentendemonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen. Ende August wird der Gründungsaufruf der Sozialdemokratischen Partei (SDP) öffentlich: Die Gründung am 7. Oktober im Pfarrhaus zu Schwante bei Berlin ist Kampfansage an die SED. Gefordert werden Rechtsstaat und Gewaltenteilung, eine parlamentarische Demokratie, soziale Marktwirtschaft, Streikrecht und Freiheit der Gewerkschaften. In Schwante denken viele, die Stasi werde sie auf dem Heimweg „wegfangen”. Doch nichts geschieht. Mitte September gründen sich fast gleichzeitig die Oppositionsgruppen Demokratie Jetzt (DJ) und Neues Forum. Am 1. Oktober folgt der Demokratische Aufbruch (DA). Auch in den Blockparteien gärt es, wie der „Brief aus Weimar” vier kirchlicher CDU-Mitglieder belegt.
Kirchliche Mitarbeiter sind bei allen Neugründungen dabei, bei der SDP die Pfarrer Markus Meckel, Martin Gutzeit, Arndt Noack, bei DJ die Pfarrer Stephan Bickhardt und Reinhard Lampe, beim DA die Pfarrer Rainer Eppelmann, Friedrich Schorlemmer, Rudi Pahnke, der Erfurter Propst Heino Falcke, der Theologe Erhart Neubert und Kirchenanwalt Wolfgang Schnur. Beim Neuen Forum der kirchliche Menschenrechtsexperte Martin Böttger und der Vikar Thomas Krüger („Kirche von unten”), der bald zur SDP wechselt. Oppositionelle merken, viel kann ihnen nicht passieren, wenn sie sich organisieren. In Polen ist die unabhängige Gewerkschaft wieder da, in der ČSSR existiert die Charta 77 trotz Repressionen weiter.
Derweil fahren Tausende in den Urlaub, suchen in Budapest, Warschau und Prag Zuflucht in westdeutschen Botschaften. DDR-Menschen hören in Ungarn auf Freunde, fahren am 19. August 1989 nach Sopron zum „Paneuropäischen Picknick”, bei dem sich die Grenze zu Österreich öffnet. Fünf Tage später lässt Ungarns Regierung 108 Botschaftsflüchtlinge in den Westen ausfliegen. Am 10. September öffnet sie die Grenze ganz; zu Tausenden haben Menschen aus der DDR in Flüchtlingslagern des Roten Kreuzes darauf gewartet. Ein großer Stein bricht aus der Mauer. Empörte SED-Anhänger: „Für ein Linsengericht verkauft uns das Bruderland.”
Die evangelische Kirche in der DDR will „Kirche für andere, Arme, Schwache” sein. 1989 kommen immer mehr „andere, Arme, Schwache” zu ihr, arm und schwach an Rechten. Die Kirche wird ihr Sprachrohr. Magdeburgs Bischof Christof Demke prangert den Unterschied zwischen „veröffentlichter Wirklichkeit” und Alltagserfahrungen an und fordert „Mut zur unbequemen Wahrheit”. Das DDR-Kirchenparlament mahnt Parteienvielfalt, Gewaltfreiheit, offene Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen, Demonstrations- und Reisefreiheit an.
Das Besondere der Revolution ist, dass in der DDR, der ČSSR, in Polen, Ungarn und Rumänien gerade Christen den Weg aus der Diktatur bereiten. So kommen Demonstranten nicht mit Steinen, sondern Kerzen. Später, nach dem Mauerfall, wird SED-Spitzenmann Horst Sindermann sagen: „Wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen!”
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Chronik „Der Anfang vom Ende der DDR: Die Jahre 1985-1990” »
Text: Karl-Heinz Baum
Erschienen am 2. Oktober 2009