Abgeordneter - das ist ein oft sehr schwerer Job. Aber noch viel schwerer kann es sein, Abgeordneter zu werden. Das zeigen zwei Zahlen aus dem letzten Wahlkampf: Für die 598 Bundestagsmandate gab es offiziell 3.556 Kandidaten. Und für diese Kandidaturen hatte es zuvor noch weit mehr Bewerber gegeben.
Ein Parlament kann in einer Demokratie grundsätzlich nach zwei verschiedenen Verfahren zu einer repräsentativen Volksvertretung werden. Entweder: Die Wähler bestimmen in ihrer jeweiligen regionalen Umgebung, welcher der regionalen Bewerber ihre Interessen im Parlament vertreten soll. Wer vor Ort die meisten Stimmen erhält, ist gewählt. Das heißt Mehrheitswahlrecht. Oder: Die Wähler entscheiden sich für eine Partei mit einer Vielzahl aufgelisteter Kandidaten. Je nach Stimmenanteil ziehen von den einzelnen mal mehr, mal weniger Kandidaten ins Parlament ein. Das heißt Verhältniswahlrecht.
Deutschland hat sich für eine Kombination entschieden, eine personalisierte Verhältniswahl. Jeder Wähler hat zwei Stimmen. Die Hälfte der 598 Sitze wird nach dem Mehrheitswahlrecht mit der Erststimme vergeben. Über die grundsätzliche Stärke der Parteien entscheidet der Wähler nach dem Verhältniswahlrecht mit der Zweitstimme, wobei jedoch eine Sperrklausel gilt: Parteien, auf die weniger als fünf Prozent der Stimmen entfallen, werden nicht berücksichtigt.
Eine Demokratie muss grundsätzlich jedem die Möglichkeit eröffnen, andere zu vertreten. Es gibt nur einige wenige Bedingungen: Der Bewerber für den Bundestag muss volljährig und Deutscher sein, 200 Unterschriften von Unterstützern vorlegen, bestimmte Formen und Fristen bei der Anmeldung einhalten. Das reicht. Dann steht sein Name auf dem Stimmzettel. Und er kann mit der Erststimme gewählt werden. Sein Arbeitgeber hat ihn auf Verlangen bis zu zwei Monate vor der Wahl freizustellen (ohne Anspruch auf Bezüge) und darf ihn wegen der Bewerbung nicht benachteiligen.
Aber ob dieser Einzelbewerber damit auch Chancen auf den Einzug in den Bundestag hat, steht auf einem anderen Blatt. Denn die einfache Mehrheit in einem Wahlbezirk, das können je nach Wahlbeteiligung schnell 40.000 Stimmen sein, oft auch 50.000, 60.000 oder mehr. 200 Unterstützer mögen noch überzeugt werden können. Aber die vielfache Menge an Menschen für sich zu gewinnen - das ist ohne professionelle Unterstützung durch eine erfahrene Organisation kaum hinzukriegen.
Deshalb führt der aussichtsreichere Weg in den Bundestag über eine Parteikandidatur. Doch in eine Partei einzutreten, den Mitgliedsbeitrag zu zahlen und dann zu sagen: „Hallo, bringt mich in den Bundestag”, das dürfte auf die anderen Parteimitglieder etwas vermessen wirken. Zumeist steht am Anfang die „Ochsentour”. Die unermüdliche Arbeit vor Ort, das Mitwirken in den verschiedenen Gremien, die allmähliche Profilierung, sodass die Parteimitglieder den Eindruck gewinnen, mit diesem Bewerber im Wettstreit der Parteien punkten zu können. Nicht von ungefähr haben viele Bundestagsabgeordnete ihre ersten Erfahrungen als Volksvertreter in den Stadt- und Gemeinderäten gesammelt, sich dort bewährt und so für „Höheres” qualifiziert.
Der Gewinn des Direktmandats im Wahlkreis ist oft eine knappe Angelegenheit, manchmal entscheiden wenige hundert Stimmen. Deshalb sind auch die Direktkandidaten interessiert daran, ihre Bewerbung „abzusichern”. Sprich: Parallel auch auf der Landesliste ihrer Partei anzutreten. Wer in einem sogenannten „sicheren” Wahlkreis antritt, also in einer Region, in der bei den vorangegangenen Wahlen die Bewerber seiner Partei mit großem Abstand gewonnen haben, der wird wenig Anspruch auf eine zusätzliche „Absicherung” haben. Es sei denn, er ist ein prominentes „Aushängeschild” für die ganze Partei. Und auch die Kandidaten aus „unsicheren” Wahlkreisen sowie diejenigen, die sich allein um einen Listenplatz, nicht um einen Direktwahlkreis bemühen, müssen durch ein Nadelöhr. Das heißt „Landesparteitag” oder „Landesdelegiertenversammlung”, besteht aus den innerparteilichen Vertretern aus allen Regionen des jeweiligen Bundeslandes und beschließt die Platzierungen auf der Liste. Vorschläge vom jeweiligen Parteivorstand können vorbestimmend sein, sind aber nicht davor gefeit, von den Delegierten kräftig durcheinandergewirbelt zu werden. Da entscheidet oft auch die „Tagesform”, in der sich die Bewerber in kurzen Vorstellungsreden dem Parteitag empfehlen.
Natürlich haben auch bei der Wahl für die Landeslisten diejenigen Bewerber die besten Chancen, denen am ehesten zugetraut wird, im politischen Wettbewerb besonders erfolgreich zu sein. Gleichzeitig achten die Parteigremien aber auch darauf, dass die Liste die Regionen gerecht berücksichtigt und unter anderem auch die Anzahl von männlichen und weiblichen Kandidaten in einem vernünftigen Verhältnis steht. Immer wieder bemühen sich die Parteien auch, „Quereinsteigern” bei der Listenaufstellung eine Chance zu geben, also Persönlichkeiten, von denen man erfolgreiche parlamentarische Arbeit erwartet, die aber keine „Ochsentour” absolviert haben.
Und wer zieht dann in den Bundestag ein? Am Wahlabend werden zunächst die Zweitstimmen gezählt, die für das Kräfteverhältnis der Parteien im neuen Parlament ausschlaggebend sind. Daraus ergibt sich die Anzahl der Kandidaten, die aus den einzelnen Bundesländern von den verschiedenen Parteien in den Bundestag kommen. Die im Wahlkreis mit der Erststimme Erfolgreichen sind auf jeden Fall gewählt. Ihre Zahl wird gesondert für jedes Bundesland von der Zahl der dort auf die jeweilige Partei nach dem Zweitstimmenanteil entfallenden Mandate abgezogen. Bleiben dann beispielsweise noch fünf Mandate übrig, sind die Bewerber auf den ersten fünf Listenplätzen gewählt. Steht auf diesen fünf Plätzen der Name eines Kandidaten, der bereits im Wahlkreis erfolgreich war, „zieht” die Liste einen Platz weiter. Dann ist auch der Sechstplatzierte gewählt. Aber auch Bewerber auf den weiteren Plätzen können hoffen. Wenn ein gewählter Abgeordneter aus ihrer Partei und ihrem Bundesland im Verlauf der Wahlperiode ausscheidet, rückt der Nächste von der Liste nach und wird Abgeordneter.
Eine Ausnahme gilt bei Überhangmandaten. Die kommen zustande, wenn in einem Bundesland von einer Partei mehr Kandidaten per Erststimme direkt gewählt worden sind, als der Partei nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen. Die Überhangmandate erhöhen die Gesamtzahl der Sitze im Bundestag. Ausscheidende Überhangmandate können nicht mit einem Nachrücker von der Landesliste neu besetzt werden.
Die Wahl begründet das Verhältnis zwischen Bürgern und Abgeordneten - sie ist der entscheidende Akt der Legitimation. Inwieweit das bestehende Wahlsystem den Parteien zu große Macht bei der Kandidatenauswahl im Rahmen der Listenaufstellung einräumt, wird immer wieder diskutiert. Bei einigen Regionalwahlen können die Wähler mehr Einfluss auf die Listenplatzierungen nehmen. In Frankfurt etwa hat jeder Wähler 93 Stimmen, die er auf die verschiedenen Listen verteilen kann (Panaschieren) und von denen er einige auf einzelne Kandidaten konzentrieren kann (Kumulieren). Gegen eine Übertragung auf die Bundestagswahl wird angeführt, dass die Stimmzettel riesige Ausmaße annähmen. Und es entstünde die Frage, ob die Wähler sich ein Bild von allen Listenkandidaten machen können.
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Text: Gregor Mayntz
Erschienen am 26. Juli 2010