Bundestagsabgeordneter - ein Traumberuf? Ohne Chef und nur dem Gewissen verantwortlich? So wie sich hartnäckig das Bild vom Champagnerglas schwenkenden Diplomaten hält, wird auch die Tätigkeit des Parlamentariers gerne schön gezeichnet. Dabei ist der Abgeordnetenberuf ein Knochenjob. In den Sitzungswochen des Bundestages heißt es: Termine, Termine, Termine. Feierabend ist meist erst am späten Abend. Die 60-Stunden Woche ist der Normal-, nicht der Ausnahmefall.
Eine gewachsene Struktur von festen Gremien- und Plenarsitzungen bildet das Fundament einer Sitzungswoche: Am Montag tagen die Fraktionsvorstände, am Dienstag die Fraktionen und ihre Arbeitsgruppen. Der Mittwoch ist der Tag der Ausschüsse, parallel beginnt das Plenum zu tagen. Donnerstag und Freitag gelten als „Großkampftage”, weil sich das Plenum ganztägig mit einem weit gefassten Themenspektrum beschäftigt. Hinzu kommt für jeden Abgeordneten ein dichtes Geflecht individueller Termine: Besprechungen mit den Mitarbeitern, Gespräche mit Interessensvertretern, Interviews und Hintergrundgespräche, Begegnungen mit Besuchergruppen aus dem Wahlkreis. Ein volles Programm, für das die Woche oft zu kurz ist.
Sie ist jung und neu im Bundestag. Doch auf unsicherem Terrain fühlt sich Nadine Müller, die 27-jährige CDU-Abgeordnete aus dem Wahlkreis St. Wendel im Saarland, im Bundestag nicht. Vielleicht deshalb, weil die Fraktionsführung sie sofort voll ins kalte Wasser gestoßen hat: Gleich in zwei wichtigen Ausschüssen ist sie ordentliches Mitglied: Im Familienausschuss und im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Das bedeutet: Arbeit bis zur Halskrause.
Ihr Blackberry, in dem Nadine Müller alle Termine gespeichert hat und über den sie jederzeit von ihrem Büro aus erreichbar ist, ist zum wichtigsten Arbeitsutensil geworden. Es signalisiert ein dichtes Programm: Erst die Expertenrunde in der Konrad-Adenauer-Stiftung über „Kinder und Jugendliche in sozial schwierigen Lebensstationen”, danach die Anhörung im Familienausschuss zur neuen „Spielzeugrichtlinie der EU”, schließlich das Gespräch mit dem „Verband der Energie- und Kraftwirtschaft” im Saarzimmer des Gemeinschaftsbüros mit ihrer CDUKollegin Anette Hübinger. Und so wie an diesem Montag geht es auch an den anderen Tagen weiter.
Fünf Termine sind für den Dienstag einprogrammiert - neben der Fraktionssitzung, die der wichtigste Pflichttermin an diesem Tag ist. Das Spektrum ist breit: Es reicht vom gemeinsamen Arbeitsfrühstück der „Jungen Gruppe” der Unionsfraktion und der Teilnahme an der Arbeitsgruppen Familie und Wirtschaft sowie an der Diskussion über strukturpolitische Fragen („Sprudeln jetzt die Investitionsquellen?”) bis zum Parlamentarischen Abend des Branchenverbandes Bitkom über die „Zukunft der Netzpolitik”..
Der Mittwoch ist ganz der Ausschussarbeit gewidmet. Nein, nicht ganz. Denn am Mittag trifft sich die „Junge Gruppe” mit Kanzleramtsminister Ronald Pofalla und am Abend ruft der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) zu einem parlamentarischen Abend. Am Nachmittag muss sich Nadine Müller als Schriftführerin zur Unterstützung der Sitzungsleitung im Plenum bereit halten. Eine Aufgabe, der sie gerne nachkommt, auch wenn sie nicht hochpolitisch ist: „Man bekommt vom Präsidentenpult aus eine ganz andere Perspektive auf das Parlament, man überblickt den gesamten Plenarsaal und sieht die Gesichter der Kollegen und oben auf den Tribünen die vielen Zuschauer”.
Ähnlich intensiv geht es am Donnerstag und Freitag weiter, an denen das Plenum nahezu ganztägig tagt. Viel Zeit zum Durchatmen, zum über den Tellerrand schauen, bleibt da nicht. Auch zum vernünftigen Essen nicht. Meistens reicht es mittags nur zu einem belegten Brötchen. Ach ja: Manchmal denkt Nadine Müller noch an einen anderen, sehr persönlichen Termin: Im Sommer will sie heiraten. „Da ist unheimlich viel zu planen.”
Nach acht Monaten im Bundestag ist die Arbeit keineswegs zur Routine geworden. Nadine Müller: „Jeden Tag gibt es wieder etwas Neues. Das ist das Spannende an der Arbeit hier”.
Im Terminkalender von Britta Haßelmann ist der Dienstagnachmittag einer Sitzungswoche grundsätzlich rot angestrichen. Von 15 Uhr bis 18 Uhr geht an diesem Tag nichts anderes. „Diese Stunden sind geblockt und sakrosankt gegen alle anderen Termine”, sagt sie. Denn dann tagen im Fraktionssaal unter dem Südwestturm des Reichstagsgebäudes alle 68 Abgeordneten von Bündnis 90/ Die Grünen. „Die Vollversammlung ist der Ort der strategischen und politischen Grundsatzentscheidungen. Nur hier kann die Fraktion gemeinsam und in Gänze Politik beraten, bewerten und sich positionieren”, sagt Britta Haßelmann und lässt keinen Zweifel daran, für wie entscheidend sie diesen Termin hält.
Bei den Turbulenzen um die Griechenland-Hilfe und die Euro-Krise im Mai war die Fraktionsvollversammlung von Bündnis 90/Die Grünen das Zentrum der politischen Willensbildung. Stundenlang wurde über die dramatische Lage an den Finanzmärkten diskutiert. Auch darüber, ob die Fraktion der Regierung Rückendeckung geben oder sich aber wie die SPD der Stimme enthalten solle. „Wegen des hohen Diskussionsund Abstimmungsbedarfes, aber auch wegen der äußerst brisanten Lage brauchten wir vier Fraktionssitzungen, bis wir eine uns überzeugende Linie gefunden hatten”, erzählt Britta Haßelmann. Nicht eine Schwäche sondern eine Stärke der grünen Diskussionskultur sei dies gewesen: „Auch enormer Zeit- und internationaler Druck darf nicht dazu führen, parlamentarische Verantwortung auszuhöhlen. Schließlich geht es bei den Stützungsaktionen um Hunderte von Milliarden Euro”.
Auch die Nachwehen der nordrhein- westfälischen Landtagswahl haben die Sitzungswochen im Mai für Britta Haßelmann beeinflusst. Als ehemalige grüne Landesvorsitzende in NRW hat sie sich bei der „kleinen Bundestagswahl” an Rhein und Ruhr sehr engagiert. Klar, dass anschließend auch in Berlin stark diskutiert wird, wie es in NRW weitergehen kann. Nicht nur bei den Grünen, sondern über Fraktionsgrenzen hinweg. „Erst die Wahl in NRW und dann die Euro-Krise - das war schon mehr als heftig”, räumt die 48-jährige Sozialarbeiterin ein. Für nachdenkliche Mußestunden war da keine Zeit.
Dabei hat Britta Haßelmann auch ohne Krisen ein volles Programm. Als frisch gebackene Parlamentarische Geschäftsführerin und kommunalpolitische Sprecherin ihrer Fraktion ist die Sitzungswoche „bis zur Halskrause” vollgepackt mit Terminen und Arbeit. Dinge verschieben, liegen lassen oder mit nach Hause in Bielefeld nehmen, mag sie nicht: „Auch die Familie muss mal zu ihrem Recht kommen, zumindest am Wochenende.”
Das ist ohnehin nur kurz. Am Sonntagabend geht es schon wieder zurück in Richtung Berlin. Eine neue Sitzungswoche fordert ihren Tribut. Im Zug denkt sie manchmal über einen Widerspruch nach: „Einerseits ist die Arbeit eines Abgeordneten unheimlich selbstbestimmt, auf der anderen Seite ist er durch einen vorgegebenen Terminplan völlig verplant.”
Für den Außenpolitiker Hans-Ulrich Klose verläuft die Sitzungswoche zumeist etwas anders als bei seinen Kollegen. Denn Außenpolitik nimmt keine Rücksicht auf Berliner Terminlagen. Allein in der letzten Sitzungswoche im Mai besuchen ihn drei Botschafter in seinem lichten Büro im siebten Stock des Paul-Löbe-Hauses. Auch der frühere USBotschafter James Bindenagel gibt sich die Ehre. Danach steht ein Gespräch mit einer Delegation des American Jewish Committee auf dem Programm. Zuvor hat Klose bei der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Konferenz über den „nuklearen Iran” eröffnet.
Da wird die Zeit für den üblichen Berliner Sitzungsalltag knapp. Zumal Klose neben seinen Aufgaben als stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses und als Chef der Parlamentariergruppe USA seit einigen Monaten auch noch Beauftragter des Auswärtigen Amtes für die Beziehungen zu den USA ist. Dieses unbezahlte Ehrenamt bedeutet noch einmal zusätzliche Arbeit. Inzwischen pendelt er zwischen vier Büros hin und her: Seinem Abgeordneten Büro im Berliner Parlamentsviertel, einem Büro im Auswärtigen Amt und den zwei Büros in seinem Wahlkreis Hamburg-Bergedorf-Harburg, in dem er immer wieder direkt gewählt wurde.
„Ich will meine Unabhängigkeit bewahren und bleibe in erster Linie Hamburger Abgeordneter”, sagt Klose. Auf keinen Fall dürfe die Arbeit im Wahlkreis unter dem neuen Job, den ihm Außenminister Westerwelle angedient hat, leiden. Im Bundestag konzentriert sich Klose auf die Teilnahme der für ihn wichtigsten Sitzungen: Die Fraktionsvollversammlung am Dienstag, die Sitzung der SPDArbeitsgruppe Außen und die Ausschussberatung im Auswärtigen Ausschuss am Mittwoch bleiben Pflichttermine.
Doch manchmal ist selbst dies graue Theorie. Wenn es in der Welt wieder einmal brennt, ist doch der Außenpolitiker Klose gefordert. Oder wie jetzt bei unserem Besuch, als er gerade über den Abschlussbericht einer USA-Reise sitzt, die er in der Woche zuvor mit einer Parlamentariergruppe nach Washington und St. Louis unternommen hat. Er möchte, dass der Bundestagspräsident und Außenminister Westerwelle über „einige neue interessante Aspekte” unterrichtet werden.
Obwohl schon 27 Jahre im Bundestag - langweilig oder zur Routine wird Klose die Arbeit nicht. „Jede Begegnung gibt mir neue Anregungen. Das ist das Schöne und Spannende an diesem Job”, sagt er. Tatsächlich wirkt Klose trotz seiner 70-Stunden-Woche und seiner 72 Jahre erstaunlich munter. Vielleicht auch deshalb, weil er, wo er nur kann, mit dem Fahrrad fährt und die Treppen dem Aufzug vorzieht. Oder auch mal in einem Gedichtband schmökert. „Man muss sich Freiräume sichern”. Dass er selbst mit einem eigenen Gedicht vom Literatur-Papst Marcel Reich-Ranicki in dessen Lyrik-Anthologie aufgenommen wurde, hat ihn riesig gefreut. „In der Politik bin ich damit ein Unikat”, sagt er und strahlt.
„Was für eine Woche! Die war wirklich der Härtetest!” stöhnt Otto Fricke, als wir ihn am Freitagnachmittag vor Pfingsten kurz vor dem Heimflug nach Krefeld in seinem Büro mit Blick auf das Reichstagsgebäude besuchen. Der Schlafrhythmus sei in dieser Sitzungswoche, in der es um nichts Geringeres ging als um den Euro und Europa, für ihn von sechs auf fünf bis vier Stunden heruntergegangen. Den Stress einer Neunzig-Stunden-Woche merkt man dem 44-jährigen dennoch nicht an: Frisch und wie aus dem Ei gepellt wirkt er, obwohl er an diesem Tag wieder einmal kurz nach sechs Uhr aufgestanden ist, dem ZDF ein Interview gegeben und im Plenum eine leidenschaftliche Rede gehalten hat.
Otto Fricke ist in dieser Woche gleich doppelt gefordert: Einmal als Berichterstatter seiner Fraktion für die komplexen inhaltlichen Fragen im Zusammenhang mit dem milliardenschweren Schutzschirm für die Euro-Währung, zum anderen als Parlamentarischer Geschäftsführer, der die FDP-Fraktion in diesen politisch brisanten Tagen organisieren und zusammenhalten muss. Auf zwei Hochzeiten zu tanzen, dabei ruhig und gelassen zu bleiben, das sei nicht immer ganz einfach gewesen, meint Fricke selbstkritisch. Und fügt hinzu, dass ihm sogar der eigene Hochzeitstag fast durch die Lappen gegangen wäre: „Das gab an der Heimatfront Schwierigkeiten”.
Der übliche Wochenrhythmus des Bundestages ist in diesen Tagen, in denen alle Fraktionen immer wieder Informations- und Beratungsbedarf anmelden und zu Sondersitzungen rufen, außer Kraft gesetzt. „Nichts war normal. Manchmal wusste ich mittags nicht, wie der Tag weiter verläuft”, sagt Fricke. Und blickt auf das Mobiltelefon, seinen „kleinen elektronischen Sklavenantreiber”, um vergangene Termine abzurufen. Da stehen sie dicht aneinander gereiht, eine lange Kette, die meist morgens um acht Uhr beginnt und selten vor Mitternacht endet.
Schon als Vorsitzender des Haushaltsausschusses gehörte Otto Fricke zu den politischen Schwerarbeitern. Der neue Job als Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP sei aber wegen seiner breiten Fächerung noch arbeitsintensiver: „Ich bin Personalchef für die über 100 Mitarbeiter der Fraktion, für die Besetzung von Gremien und Ausschüssen zuständig und muss mit den anderen Geschäftsführern dafür sorgen, dass die Fraktion möglichst geschlossen auftritt.”
Obwohl er Staatssekretär hätte werden können, hat Fricke den Geschäftsführer-Job vorgezogen: Der sei zwar oft stressig, dafür aber mitten im Parlamentarischen Geschehen. Wenn es mal zu heftig wird, greift er als bekennender Lakritzeliebhaber in eine der hübschen Süßigkeitsdosen, die in seinem Büro verteilt sind. Auch bei unserem Besuch. Dann muss er los zum Flughafen. Und dabei nicht die Blumen für seine Frau vergessen.
Wie für die meisten Abgeordneten ist auch für Alexander Ulrich von der Fraktion Die Linke der Donnerstag der „Hauptkampftag” im Bundestag. Denn das Plenum tagt dann von 9 Uhr morgens bis zum späten Abend - mit einer Fülle unterschiedlicher Themen. Als Parlamentarischer Geschäftsführer ist Ulrich mitverantwortlich dafür, dass sich seine Fraktion im Plenum gut darstellen kann.
Die Zeiten, in denen die Linke als parlamentarische „Schmuddelkinder” wahrgenommen wurde, sind längst vorbei. „Die große Ablehnungsfront ist zerbröckelt”, sagt der 39-jährige Pfälzer. Aber eine besondere Rolle spiele die Linke schon noch: „Als Fraktion, die häufig eigene Wege geht, haben wir ein Alleinstellungsmerkmal.”
Der Donnerstag ist auch deshalb bei Alexander Ulrich im Kalender rot angestrichen, weil am Nachmittag der Ältestenrat tagt, dessen Mitglied er ist. Die Mitarbeit in diesem Lenkungsgremium des Bundestages findet er „außerordentlich spannend”. Und zwar deshalb, weil das ganze Spektrum der Parlamentsarbeit zur Sprache komme, von der Frage, ob es wirklich notwendig sei, dass sich Abgeordnete teure Schreibgeräte aus dem Katalog bestellen bis zur grundlegenden Debatte über das Selbstverständnis des Bundestages. Bei allen politischen Gegensätzen und Spannungen gebe es im Ältestenrat erstaunlich viel Gemeinsamkeit: „Dass der Bundestag einen wichtigen Auftrag zu erfüllen hat, ist Konsens”. Mit Stirnrunzeln verfolge der Ältestenrat deshalb, wie die Bundesregierung bisweilen mit dem Parlament umgehe. Sogar die Regierungsfraktionen sähen hier Probleme. Als jüngstes Beispiel nennt Ulrich das Durchpeitschen der Milliarden-Hilfe für Griechenland. Da sei das Parlament regelrecht vorgeführt worden. Und dann kommt ein überraschendes Lob aus dem Mund des linken Abgeordneten Ulrich: Er müsse eine Lanze brechen für Bundestagspräsident Lammert (CDU), weil der „sehr engagiert die Stellung des Bundestages verteidigt”.
Ähnlich wichtig wie die Arbeit als Parlamentarischer Geschäftsführer ist Ulrich seine Mitarbeit im Europaausschuss des Bundestages, die sich durch die ganze Sitzungswoche hindurch zieht. Für seine Fraktion ist er dort der Obmann. Als Pfälzer fühlt er sich einem gemeinsamen Europa besonders nahe. Überhaupt reizt den gelernten Werkzeugmacher die Außenpolitik. Ende Mai flog er mit Kanzlerin Angela Merkel nach Saudi-Arabien und in die Emirate. Angst vor dem Kanzlernimbus hatte er dabei nicht: „Ich schätze Frau Merkel, aber selbst die Kanzlerin kocht nur mit Wasser.”
Fünf Jahre sitzt Alexander Ulrich inzwischen im Bundestag. Vieles ist zur Routine geworden; aber manchmal steigt der Adrenalinspiegel doch noch an: „Bei Debatten und Abstimmungen wie über den Afghanistaneinsatz, bei dem es um Leben und Tod unserer Soldaten gehen kann, habe ich schon Herzklopfen. Das sind Momente, die schwierig sind und die mir nahe gehen.”
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Erschienen am 26. Juli 2010