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Teil I: Nachhaltigkeit und Wachstum - ein Widerspruch? - Teil II finden Sie in der rechten Kontextspalte
Angesichts der internationalen Finanzkrisen, der Probleme mit der Nahrungsmittel- und Treibstoffversorgung, der enormen Jugendarbeitslosigkeit und der Umweltzerstörung müssen Konzepte und Visionen über eine nachhaltige Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft in die Tat umgesetzt werden: Das hat am Mittwoch, 21. März 2012, zum Abschluss eines Symposiums der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ Achim Steiner, Direktor des UN-Umweltprogramms, gefordert. Auch Martine Durand, Chefstatistikerin der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), appellierte an die Politik, aus der Debatte über eine Neudefinition des Wohlstandsbegriffs konkrete Konsequenzen für eine Strategie der Nachhaltigkeit zu ziehen, die über das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Messgröße für Wirtschaftswachstum hinaus reicht: „Sonst nützt das alles nichts.“
Mit dem Symposium wollte die Enquete-Kommission unter Vorsitz von Daniela Kolbe (SPD) über die Gremienarbeit hinaus die wissenschaftliche Öffentlichkeit in ihre Debatten mit einbeziehen. Kernauftrag des Gremiums ist es, mit Hilfe einer Neubewertung des Wohlstandsbegriffs Wege hin zu einem qualitativen Wachstum aufzuzeigen.
Steiner mahnte, Wachstum nicht nur einfach von einem ökologischen Standpunkt aus als Problem zu bekämpfen. Im Zusammenhang einer nachhaltigen Entwicklung ziele eine „Green Economy“ vielmehr auch auf die Bekämpfung von Armut und Erwerbslosigkeit oder die Gewährleistung der Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung.
Der UN-Politiker bezeichnete die Versorgung der Menschheit mit Lebensmitteln als Herausforderung, die noch größer sei als das ökologische Umsteuern in der Energiepolitik. Letzteres könne nicht einfach einhergehen mit einer Reduzierung des Elektrizitätsverbrauchs, vielmehr werde man für die Versorgung der Bevölkerung etwa in Afrika mehr Strom benötigen.
Aus Sicht Steiners lässt sich gleichwohl der globale Bedarf an Primärenergie durch Investitionen in Energieeffizienz und in erneuerbare Energien bis 2050 um fast 40 Prozent senken. Der Ausbau regenerativer Energien sei nicht nur ökologisch sinnvoll, sondern schaffe zudem neue Jobs, womit im Sinne der Nachhaltigkeit ein Beitrag zur Bekämpfung der Erwerbslosigkeit — „eines der größten gesellschaftlichen Risiken“ — geleistet werde.
Der Chef des UN-Umweltprogramms kritisierte die Subventionspolitik im Energiesektor, in der Landwirtschaft und in der Fischereiwirtschaft als Beispiele für Fehlsteuerungen, die eine nachhaltige Entwicklung verhindern. So flössen weltweit Hunderte Milliarden Dollar in die Nutzung fossiler Energieträger.
Im Agrarbereich „ist Subventionspolitik oft Klientelpolitik, die keine Anreize für ein nachhaltiges Wirtschaften setzt“, beklagte Steiner. Gleiches gelte für den Großteil der 27 Milliarden Dollar, die in die Fischerei gesteckt würden, deren bisherige Praktiken die Gefahr einer Überfischung der Meere heraufbeschwörten.
Steiner gab sich überzeugt, dass ein anderes Fischereimanagement samt der Einrichtung von Schutzgebieten und dem Abbau von Flottenkapazitäten kurzfristig zwar zum Verlust von Arbeitsplätzen, langfristig aber zu einem Anstieg des Fischfangs und der Schaffung neuer Jobs führen werde.
Der UN-Repräsentant appellierte an die Bundestagsabgeordneten, das Umsteuern in der Energiepolitik nicht nur als Kostenproblem zu diskutieren, sondern deutsche Pionierleistungen wie etwa garantierte Einspeisetarife für Strom aus erneuerbaren Energien verstärkt in die globale Debatte einzubringen.
Durand warb für den von der OECD entworfenen „Better Life Index“ als neue Messgröße für gesellschaftliches und individuelles Wohlergehen über das BIP als Wachstumskennziffer hinaus. Die Statistikerin plädierte dafür, Kriterien wie etwa die Bildung, den Zustand der Umwelt, den Wohnraum, das jeweilige individuelle Einkommen, die Gesundheit oder die Qualität der Arbeit heranzuziehen, um Lebensqualität zu berechnen.
Einen „Index für besseres Leben“ lasse sich nur über Befragungen der Bürger ermitteln, so Durand. Globale Zahlen wie etwa die Gesamtsumme staatlicher Bildungsausgaben seien nicht aussagekräftig, da diese Gelder ineffektiv eingesetzt werden könnten und dann bei den Leuten nicht ankämen.
Der Schweizer Wirtschaftsprofessor Dr. Mathias Binswanger erläuterte unter Verweis auf wissenschaftliche Erhebungen etwa in den USA, dass steigende Einkommen die Bürger im gesellschaftlichen Schnitt nicht zufriedener machten.
Deshalb mache es keinen Sinn, möglichst hohe Wachstumsraten anzustreben, wobei eine solche Politik zudem eine nachhaltige Entwicklung erschwere und dazu verleite, „unvernünftige Risiken einzugehen“. Allerdings, so Binswanger, sei ein „gewisses Wachstum“ nötig, um die Wirtschaft am Laufen zu halten.
Zum Auftakt der Veranstaltung hatte die Kommissionsvorsitzende Daniela Kolbe betont, Politik und Wissenschaft seien in der Pflicht, nach Alternativen zu einer Politik des „Weiter so“ zu suchen. Es stelle sich die Frage, „welchen Sinn das Wirtschaften haben soll“, so die SPD-Abgeordnete. Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert erklärte in einer Begrüßungsrede, die Tätigkeit der Enquete-Kommission zeuge von der Bereitschaft, „vertraute Denkgewohnheiten“ zu hinterfragen.
Mit dem Symposium wollen die 17 Abgeordneten und 17 Wissenschaftler über ihre interne Gremienarbeit hinaus an die Öffentlichkeit treten. Kernauftrag der Kommission ist es, mit Hilfe einer Neubewertung des Wohlstandsbegriffs Wege hin zu einem qualitativen Wachstum aufzuzeigen, wozu etwa die Entkoppelung des Ressourcenverbrauchs von der Steigerung der Wirtschaftsleistung gehört.
Lammert verwies darauf, dass sich bereits Ludwig Erhard, mit dem bis heute eine Politik unter dem Motto „Wohlstand für alle“ verbunden wird, kritisch mit dem Wachstumsbegriff auseinandergesetzt habe. Weniger bekannt sei Erhards These, dass Wachstum zwar eine „Grundlage, aber kein Leitbild der Lebensgestaltung“ sei. Bei der Enquete-Kommission gehe es darum, , so Lammert, „diese Einsicht zu revitalisieren“.
Kolbe sagte, die Themen ihres Gremiums und des Symposiums träfen „den Nerv unserer Zeit“. Angesichts ökologischer Krisen und der Finanzkrisen suchten viele Bürger nach Orientierung. Man müsse nach einer Form des Wirtschaftens suchen, das die Zukunft der Kinder und der Bewohner anderer Ländern auf dem Planeten nicht gefährde. Die Kommissionsvorsitzende: „Wir wollen optimistische Antworten finden.“
Im ersten Forum des Symposiums bezeichnete es die Österreicherin Prof. Dr. Marina Fischer-Kowalski als unvermeidbar, den Ressourcen- und Energieverbrauch drastisch zu reduzieren, um die Wende hin zur Nachhaltigkeit zu ermöglichen. In den Industrieländern, so die Professorin für Soziale Ökologie, sei inzwischen eine gewisse Entkoppelung des Rohstoffkonsums vom Wachstum zu beobachten, in Deutschland und Japan sinke dieser Verbrauch sogar.
Weltweit steige indes die Nachfrage nach Ressourcen stetig, was nicht zuletzt mit der fortschreitenden Industrialisierung von Schwellenländern wie China oder Indien zu tun habe, die in hohem Maße fossile Energie nutzten. Angesichts steigender Preise und endlicher Rohstoffvorkommen, so Fischer-Kowalski, „lohnt es sich wirtschaftlich, die Ressourcenersparnis und –produktivität voranzutreiben“. Die Wissenschaftlerin: „Wir sind technisch in der Lage, ein hohes Maß an Wohlfahrt mit weniger Ressourcen zu produzieren.“
Aus Sicht von Prof. Dr. Carl Christian von Weizsäcker ist allein schon wegen der statistischen Schwierigkeit, Wachstumsraten über sehr lange Zeiträume zu berechnen, die Frage „falsch gestellt“, ob ökonomisches Wachstum mit Nachhaltigkeit zu vereinbaren sei. Man müsse vielmehr konkret herausfinden, was die Nachhaltigkeit voranbringe, so der am Max-Planck-Institut für Gemeinschaftsgüter tätige Wirtschaftswissenschaftler. Beim Verbrauch fossiler Energieträger sei das sicher kritisch zu beurteilen. Bei Investitionen in den medizinischen Fortschritt und in die Bildung sehe das aber anders aus.
Kritisch äußerte sich Weizsäcker zu der oft diskutierten Frage, ob die gegenwärtige Form der parlamentarischen Demokratie den Erfordernissen einer Politik der Nachhaltigkeit gerecht werde. Es sei eine „sehr gefährliche These“, deshalb dem Staat als gestaltender Kraft mehr Macht zu übereignen: „Zu viel Staat bedeutet Stagnation.“ Stattdessen plädierte Weizsäcker für den Ausbau dezentraler politischer Strukturen. (kos)