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Nur wenn Analphabeten keine Furcht mehr haben, „stigmatisiert zu werden“, wachse deren Bereitschaft, Fortbildungsangebote zur Überwindung gravierender Lese- und Schreibschwächen wahrzunehmen, so Eberhard Gienger, Vizevorsitzender des Bildungsausschusses des Bundestages im Interview. Aufklärungskampagnen sollen Gesellschaft und Betroffene stärker für dieses Problem sensibilisieren, fordert der CDU-Abgeordnete. Laut Gienger leben in Deutschland mehrere Millionen Analphabeten. Für Donnerstag, 1. März 2012, ist eine Plenardebatte zu diesem Thema geplant, die für 21.05 Uhr angesetzt ist. Die Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen wollen Anträge vorlegen, die auf eine effektivere Bekämpfung des Analphabetismus zielen. Das Interview im Wortlaut:
Nach diversen Studien gibt es zwischen drei und sieben Millionen Analphabeten, zuweilen werden sogar noch höhere Quoten genannt. Diese enormen Zahlen muten für eine entwickelte Gesellschaft wie die deutsche geradezu abenteuerlich an. Wie glaubwürdig sind diese Zahlen?
Auf den ersten Blick kann das schon schockierend wirken, aber die Zahlen sind leider durchaus seriös und glaubwürdig. Man muss bedenken, dass verschiedene Formen des Analphabetismus existieren. Da ist zum einen der primäre Analphabetismus. Diese Leute sind zwar in der Lage, einzelne Wörter zu schreiben und zu lesen, verstehen aber keine Sätze. Jene, die als funktionale Analphabeten gelten, können kleinere Sätze lesen und schreiben, begreifen aber keinen Textzusammenhang. Dies ist die größte Gruppe unter den Analphabeten.
Haben die gigantischen Zahlen auch damit zu tun, dass der Begriff Analphabetismus immer weiter gefasst wird? Wer im Ersten Weltkrieg eine Weihnachtskarte von der Front nach Hause zu schicken vermochte, wurde damals nicht als Analphabet eingestuft.
In der Tat gelten heute andere Maßstäbe als früher, man muss von den Gegebenheiten und Erfordernissen der modernen Gesellschaft ausgehen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war es eine Ausnahme, wenn jemand des Alphabets kundig war. Zum Start der allgemeinen Schulpflicht am Ende des 17. Jahrhunderts beherrschten gerade mal 25 Prozent Lesen und Schreiben in den Grundzügen. Da wurde oft schon jemand bestaunt, der seinen Namen schreiben konnte.
In der Bundesrepublik gibt es eine achtjährige Schulpflicht. Diese Zeit müsste doch ausreichen, um Heranwachsenden beim Lesen und Schreiben grundlegende Fähigkeiten beizubringen. Versagt die Schule?
Man sollte eigentlich annehmen können, dass acht Jahre zur Vermittlung solcher Kenntnisse genügen. Und falls ein Lehrer die ausgeprägten Schreib- und Lesedefizite bestimmter Schüler nicht bemerken sollte, so mutet das auf den ersten Blick sicher ungewöhnlich an. Allerdings darf man nicht verkennen, dass Analphabeten oft über eine ausgeprägte Cleverness verfügen, ihr Problem zu verbergen und von ihren Schwächen abzulenken. Beispielsweise lassen sie Hausaufgaben von Mitschülern erledigen oder schreiben bei Klassenarbeiten geschickt vom Tischnachbarn an. Hinter diesem Verhalten steht die Furcht, aufzufallen und stigmatisiert zu werden.
Was kann die Politik tun, um den Analphabetismus zurückzudrängen?
Nun, es läuft schon einiges. So haben die Kultusministerkonferenz und das Bundesbildungsministerium eine gemeinsame Strategie entwickelt. Mit 20 Millionen Euro aus der Kasse des Bundes soll die arbeitsplatzorientierte Forschung unterstützt werden, um auf dieser Basis wirksame Projekte gegen Analphabetismus auf den Weg bringen zu können. Dazu kommen noch einmal 35 Millionen Euro aus Förderprogrammen der EU. Ganz wichtig sind Öffentlichkeitskampagnen, die dieses Problem überhaupt einmal in der Gesellschaft bewusst machen und die darauf zielen müssen, dem Analphabetismus den Makel des Stigmas zu nehmen.
Konkret ist zuerst sicher die Schule gefordert. Was müsste sich dort ändern, um Analphabetismus möglichst gar nicht erst entstehen zu lassen?
Ich denke, an der Schule sollte man sich intensiver um die jeweiligen Einzelfälle kümmern. Bemerkt ein Lehrer eine massive Schreib- und Leseschwäche, so gilt es, das Gespräch mit den jeweiligen Schülern und ihren Eltern zu suchen, um gemeinsam Lösungen zur Überwindung des Problems zu finden. Vielleicht nützen diesen jungen Leuten ja Kurse neben dem üblichen Unterricht. Eltern sollten sich fragen, ob sie ihrem Nachwuchs durch Vorlesen oder durch die gemeinsame Lektüre der Zeitung helfen können.
Nun muss auch betroffenen Erwachsenen unter die Arme gegriffen werden. Was sollte da verbessert werden?
Sicher können Volkshochschulen und Arbeitsagenturen noch mehr Kurse für eine entsprechende Weiterbildung anbieten. Doch das nützt nichts, wenn die Betroffenen nicht den Weg zu einem solchen Unterricht finden. Informationskampagnen müssen solche Angebote zum einen überhaupt einmal besser bekannt machen. Und zum anderen müssen Analphabeten positiv angesprochen werden, um ihnen zu verdeutlichen, dass man gegen Schreib- und Lesedefizite etwas tun kann. Nur wenn diese Furcht überwunden wird, wächst die Bereitschaft, sich Angeboten zur Fortbildung zu öffnen. Auch Arbeitgeber, die in ihrer Belegschaft auf Fälle von Analphabetismus stoßen, sollten gegenüber solchen Beschäftigten nicht mit Unverständnis und Ablehnung reagieren, sondern Unterstützung offerieren.
(kos)