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Die Entwicklung des Europarechts stellt nach Meinung des früheren Richters am Bundesverfassungsgericht, Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio, keine Entparlamentarisierung, sondern einen Strukturwandel des parlamentarischen Systems dar. Dort, wo Funktionsverlust herrsche, handele es sich in Wahrheit um einen Funktionswandel. Er könne das "Ammenmärchen" vom Postparlamentarismus nicht mehr hören, sagte Di Fabio bei einer von Prof. Dr. Dr. Heinrich Oberreuter moderierten Podiumsdiskussion der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen am Mittwoch, 13. Juni 2012, im Deutschen Bundestag. Diskutiert wurde die Frage, ob die europäische Rechtsetzung zu einer Marginalisierung der nationalen Parlamente führt.
Di Fabio, der öffentliches Recht an der Universität Bonn lehrt, erinnerte daran, dass das Parlament nach der Verfassung der Mittelpunkt der Entscheidungen sei. Der Bundestag müsse daher so früh wie möglich in den Entscheidungsprozess einbezogen werden, um mitwirken zu können. Durch den Vertrag von Lissabon habe das Parlament ein System an Mitwirkungsrechten bekommen, das so intensiv sei, dass mancher Abgeordnete auch an der "Informationsflut" leide.
Es gibt heute in der europäischen Rechtsetzung nach Ansicht die Fabios eine "andere Konzeption von Gesetzgebung". "Das zu konstatieren, heißt nicht, es zu kritisieren", sagte er und wies darauf hin, dass die Interventionsmöglichkeiten wesentlich verstärkt worden seien. Es gebe auch "Züge einer Reparlamentarisierung", betonte d Fabio und nannte als ein Beispiel die auswärtige Politik, die sehr viel stärker als früher im Parlament diskutiert werde.
Auch für die Beteiligung der Länder ergeben sich nach Meinung von Professorin Ursula Männle positive Entwicklungen aus dem Lissabon-Vertrag. So würden sich etwa alle Landtage an den vom Lissabon-Vertrag vorgesehenen Subsidiaritätsprüfungen beteiligen, erklärte die Vorsitzende des Ausschusses für Bundes- und Europaangelegenheiten im Bayerischen Landtag. Es sei teilweise aber aufgrund der Informationsfülle schwierig, dazu beizutragen, räumte sie ein.
Für die politische Praxis zog der europapolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Michael Roth, ebenfalls eine größtenteils positive Bilanz: "Wir gewinnen über die Europäische Union Handlungsfähigkeit und Gestaltungsfähigkeit zurück", sagte er. Man müsse sehen, dass die Nationalstaaten in einer globalisierten Welt an ihre Grenzen stießen. Daher sei man bereit, nationale Souveränität abzugeben, wenn sie auf europäischer Ebene wieder ausgeglichen werde.
Scharfe Kritik übte er an der sogenannten "Unionsmethode", bei der Entscheidungen zunehmend von den Regierungen getroffen würden. Dies sei eine faktische Entmachtung der Parlamente: "Wir versuchen, das nachher zu legitimieren."
Di Fabio entgegnete, dass es in Staaten auch "Räume der Eigenverantwortung" gebe. Gerade dort, wo Staaten eigenverantwortlich seien, sei "Europa in eine ernsthafte Schieflage" gekommen, betonte er. Man müsse daher Europa stärken, aber auch die Nationalstaaten "entscheidungsstark halten".
Denn, resümierte Di Fabio: "Wer etwas gemeinsam machen will, muss selber stark sein." (as)