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Was hat es mit der Vernichtung von Akten im Zusammenhang mit der dem "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) angelasteten Mordserie durch das Bundesamt für Verfassungsschutz nach dem Auffliegen der NSU-Zelle auf sich? Wie sah die Kooperation zwischen dieser Bundesbehörde und den Landesämtern des Inlandsgeheimdienstes bei den Ermittlungen zu diesen Tötungsdelikten aus?
Diese Fragen gehören zu den Kernthemen der beiden Sondersitzungen des Untersuchungsausschusses in der ersten Juli-Woche, der Pannen und Fehlgriffe der Sicherheitsbehörden bei den Recherchen zu der Ermordung von neun türkisch- oder griechischstämmigen Kleinunternehmern sowie einer Polizistin durchleuchten soll. Zudem beschäftigen sich die elf Abgeordneten konkret mit einem Mordfall dieser Serie in Dortmund sowie zwei Attentaten in Köln auf ein Lebensmittelgeschäft und ein Stadtquartier, hinter denen nach Indizien mutmaßlich ebenfalls die NSU-Zelle steckt.
Die Sitzungen des Bundestagsgremiums unter Vorsitz von Sebastian Edathy (SPD) beginnen am Dienstag, 3. Juli 2012, und am Donnerstag, 5. Juli 2012, jeweils um 9 Uhr im Europasaal 4.900 im Paul-Löbe-Haus in Berlin.
Prominentester der insgesamt acht geladenen Zeugen ist Heinz Fromm, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, der am 5. Juli aussagen soll. Fromm hat am Montag, 2. Juli 2012, um seine Entlassung gebeten und wird zum Ende des Monats in den Ruhestand versetzt. Gehört wird an diesem Tag auch Wolfgang Cremer, der früher an der Spitze der Abteilung Rechtsextremismus in dieser Bundesbehörde stand. Befragt wird zudem Oberst H., der Chef der Abteilung Extremismus- und Terrorismusabwehr beim Militärischen Abschirmdienst (MAD).
Die Sitzung zwei Tage vorher steht ganz im Zeichen der in Nordrhein-Westfalen verübten Anschläge. Zu Wort kommen dabei Edgar Mittler und Markus Weber von den zwei Ermittlungskommissionen, die mit den beiden Kölner Attentaten beschäftigt waren. In diesem Zusammenhang wird auch Oberstaatsanwalt Josef Rainer Wolf angehört. Der vierte Zeuge am 3. Juli ist Bert Gricksch, Chef der für das Dortmunder Tötungsdelikt zuständigen Kriminalinspektion.
An einer stark frequentierten Straße in Dortmund wurde am 4. April 2006 der türkischstämmige Kioskbetreiber Mehmet Kubasik mit vier Kopfschüssen niedergestreckt. Zusammen mit der Erschießung des Betreibers eines Kasseler Internetcafes zwei Tage später gab der Dortmunder Mord für das Bundeskriminalamt (BKA) den letzten Anstoß für die Forderung, die Ermittlungen zu allen Tötungsdelikten zentral dem BKA zu unterstellen — ein Vorstoß, der in der Innenministerkonferenz gescheitert ist.
Von Gricksch wird der Ausschuss unter anderem wissen wollen, wie die Zusammenarbeit mit der für fünf Morde zuständigen Sonderkommission (Soko) Bosporus in Bayern und mit dem BKA funktionierte — oder eben nicht klappte. Der Zeuge wird wohl überdies erläutern müssen, ob und in welchem Maße die Polizei bei dem Dortmunder Fall neben der Fahndung im kriminellen Milieu auch einen rechtsextremen Hintergrund in Betracht zog. Am 5. Juli dürfte sich Hartwig Möller ebenfalls mit dem Dortmunder Anschlag auseinanderzusetzen haben.
Am 19. Januar 2001 explodierte in einem Kölner Lebensmittelladen ein in einer Keksdose verstauter Sprengsatz, wobei eine Deutsch-Iranerin schwer verletzt wurde. In einer im Nachlass des NSU aufgetauchten DVD finden sich laut Medienberichten Hinweise auf eine Täterschaft der Terrorzelle. Das Trio soll sich in ihrer DVD auch zum Nagelbombenattentat vom 9. Juni 2004 in der Kölner Keupstraße mit 22 Verletzten bekennen. Dieser unaufgeklärte Anschlag wird seit dem Auffliegen des NSU im Herbst 2011 kriminalistisch neu aufgerollt.
Eine zentrale Frage lautet, wieso es den Ermittlern nicht gelang, eine Brücke zwischen den Kölner Attentaten und anderen rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten zu schlagen und auf diesem Weg vielleicht auf die NSU-Zelle zu stoßen. Hätte die Sprengstoffanalyse entsprechende Hinweise liefern müssen? Ein Detail, dessen Bewertung durch Polizei und Geheimdienst dem Ausschuss Rätsel aufgibt: Beim Kölner Nagelbombenanschlag wie bei einem in Nürnberg verübten Mord wurden jeweils zwei Radfahrer gesichtet, was aber für die Fahndung offenbar folgenlos blieb.
Am 5. Juli dürfte die Befragung Heinz Fromms zu der Aktenvernichtung natürlich hohe Wellen schlagen. Aber er wird wohl auch erläutern müssen, welche Eigeninitiative das Bundesamt für Verfassungsschutz zur Aufklärung der Erschießungen entfaltet hat. Und wie sah die Kooperation mit den Landesbehörden des Nachrichtendiensts aus? Wie umfänglich wurde das Bundesamt aus den Ländern über die Vorfälle unterrichtet? Wie funktionierte die Zusammenarbeit mit der Polizei?
Die Soko Bosporus hat laut ihrem Ex-Chef Wolfgang Geier 2006 Fromms Behörde aufgefordert, einen Ansprechpartner für die Mordserie zu benennen, ohne eine Antwort zu erhalten – doch existieren laut Medienberichten mittlerweile gewisse Zweifel an Geiers Darstellung. Bei der Soko Bosporus ging man davon aus, dass der bayerische Verfassungsschutz im Zusammenhang mit der Suche nach eventuell als Täter in Frage kommenden Rechtsextremisten auch außerhalb der Landesgrenzen bei den Kollegen nach Verdächtigen forscht. Suchten die Bayern beim Bundesamt um Auskünfte nach? Hat diese Behörde ihr Recht genutzt, ihrerseits von Landesinstanzen Informationen anzufordern?
Eine wesentliche Rolle bei der Vernehmung Fromms wie Cremers dürfte die Frage spielen, warum beim Bundesamt die Abteilungen für Rechts- und Linksextremismus zusammengelegt wurden und ob dadurch der Befassung mit dem Rechtsextremismus weniger Bedeutung zugemessen wurde.
Vielfach diskutiert wird die Frage, wieso und inwiefern eigentlich der MAD in Ermittlungen zum NSU involviert war. Nach Medienberichten sollen neben V-Leuten des Verfassungsschutzes auch MAD-Spitzel im Umfeld des "Thüringer Heimatschutzes" aktiv gewesen sein, zu dem vor ihrem Untertauchen auch die Mitglieder der NSU-Zelle gehört haben sollen. Was haben die V-Leute des MAD ausgekundschaftet? Diese Aspekte gehören zum Hintergrund der Vernehmung von Oberst H. als Vertreter des MAD. (kos)
Zeit: Dienstag, 3. Juli, und Donnerstag, 5. Juli, jeweils 9 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Europasaal 4.900
Interessierte Besucher können sich im Sekretariat des Unterausschusses unter Angabe des Vor- und Zunamens sowie des Geburtstags und des Datums der öffentlichen Sitzung anmelden (E-Mail: 2.untersuchungsausschuss@bundestag.de, Fax: 030/227-30084). Zur Sitzung muss ein Personaldokument mitgebracht werden.
Bild- und Tonberichterstatterkönnen sich beim Pressereferat (Telefon: 030/227-32929 oder 32924) anmelden.
Dienstag, 3. Juli 2012
Donnerstag, 5. Juli 2012